Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit. Rodney Stark

Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit - Rodney  Stark


Скачать книгу
nicht zu einem neuen Menschen, der sich von seinem Gegenstück aus einem früheren Weltalter unterscheidet«.52 Im Universum selbst sei, Parmenides zufolge, jeder Eindruck von Veränderung bloße Illusion, da das »unerschaffene und unzerstörbare« Universum sich in einer konstanten Perfektion befinde, »in dem alles vollständig, ortsfest und endlos ist«.53 Andere einflussreiche Griechen wie die Ionier lehrten, das Universum sei zwar unbegrenzt und ewig, jedoch seinerseits der Abfolge unendlicher Kreisläufe unterworfen. Platon sah das etwas anders, doch glaubte auch er felsenfest an Zyklen und dass, durch ein ewiges Gesetz bewirkt, auf jedes Goldene Zeitalter Chaos und Zusammenbruch folgen müssten.

      Schließlich ließen die Griechen es sich nicht nehmen, den Kosmos sowie unbelebte Dinge im Allgemeinen in lebende Wesen zu verwandeln. Platon lehrte, der Demiurg habe den Kosmos als »einzelnes sichtbares lebendiges Gebilde« geschaffen, wodurch auch der Welt eine Seele zukomme. Obwohl sie »alleinsteht«, sei sie »durch ihre Vortrefflichkeit in der Lage, sich selbst Gesellschaft zu leisten, wobei sie keine weiteren Bekanntschaften oder Freunde braucht, sondern sich selbst genügt«.54

      So man aber Mineralien Leben zuerkennt, geht die Erklärung natürlicher Phänomene notwendig in eine falsche Richtung. Man schreibt dann den Grund, warum ein Gegenstand sich bewegt, Motiven zu und nicht natürlichen Ursachen. Von den Stoikern, insbesondere von Zenon, dürfte die Idee stammen, den Gang des Kosmos auf der Basis seiner willentlichen Vorsätze zu erklären, doch wurde sie bald Allgemeingut. So bewegten sich Aristoteles zufolge die Gestirne in Kreisen, weil ihnen diese Bewegung so gut gefiel und Dinge fielen deswegen zu Boden, »weil sie eine angeborene Liebe für den inneren Kern der Welt empfinden«.55

      Letztlich wurden die griechischen Denkschulen durch ihre eigene innere Logik auf ein totes Gleis gefahren. Nach Platon und Aristoteles gab es bis auf einige Erweiterungen der Geometrie kaum mehr Neues. Als Rom die griechische Welt in sich eingliederte, begrüßte es die griechischen Denkschulen – ihre Gelehrten hatten den gleichen Erfolg unter der Republik wie unter Caesar.56 Auch im Byzantinischen Reich sollten die Denkschulen nicht untergehen, doch misslang ihnen hier erneut jede Innovation.57 Der Niedergang Roms behinderte die Ausbreitung des menschlichen Wissens nicht mehr als die »Genesung« des griechischen Denkens, die diesen Prozess wieder neu beginnen ließ. Das griechische Denken war ein Hindernis für den Aufstieg der Wissenschaft! Es führte weder die Griechen noch die Römer zu einem wissenschaftlichen Verständnis und erstickte zudem den intellektuellen Fortschritt im Islam, wo es ebenfalls sorgfältig studiert und aufrechterhalten wurde.

       Der Islam

      Man könnte denken, dass die Vorstellung, die sich der Islam von Gott macht, dem Aufstieg der Wissenschaft hätte günstig sein müssen. Aber so war es nicht.58 Allah wird nicht als gesetzgebender Schöpfer angesehen, sondern als ein extrem tatkräftiger Gott, der genau so weit in die Welt eindringt, wie er es für angemessen hält. Über diese Vorstellung entstand im Islam ein großer theologischer Block, der alle Versuche, Naturgesetze zu formulieren, als Blasphemie verurteilt, da sie ja Allahs Handlungsfreiheit leugnen würden. So machte der Islam sich nie wirklich die Idee zu eigen, dass das Universum auf bestimmten, von Gott zu Anfang festgelegten Grundprinzipien beruhe, sondern er glaubt vielmehr, dass Gott mittels seines Willens kontinuierlich auf die Welt einwirke. Als Beleg hierfür gilt eine Aussage des Korans: »Wen Allah will, leitet er irre, und wen er will, den führet er auf den rechten Pfad«. Obwohl die Zeile sich auf Gottes Beeinflussung individueller Schicksale bezieht, wurde sie zumeist so verstanden, als bezöge sie sich praktisch auf alle Dinge.

      Wann immer es um islamische Wissenschaft und Bildung geht, betonen die meisten Historiker, dass das griechische Denken schon seit Jahrhunderten lebendiger Teil des Islams war, während es in der christlichen Welt noch lange nicht ankam. Das ist sicher richtig, nicht anders als der Umstand, dass etliche klassische Schriften das christliche Europa erst über den Kontakt mit dem Islam erreichten. Und doch hat der Besitz der griechischen Erkenntnisse zu keinem bedeutenden intellektuellen Fortschritt im Islam geführt, ganz zu schweigen von einer Entwicklung islamischer Wissenschaften. Stattdessen sahen muslimische Intellektuelle im griechischen Denken, zumal in den Arbeiten von Aristoteles, gewissermaßen eine heilige Schrift,59 der man vielmehr glaubte, als dass man sie auslotete.

      Das griechische Denken unterband jede Möglichkeit eines Aufstiegs der islamischen Wissenschaft, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem es selbst zum Stillstand kam: der Annahme von Thesen, die im fundamentalen Gegensatz zur Wissenschaft standen. Das Rasa’il Ichwan as-Safa, die große Enzyklopädie des Wissens, verfasst von frühen muslimischen Gelehrten, übernahm zur Gänze die griechische Vorstellung der Welt als eines großen, bewussten und lebendigen Organismus, der zugleich einen Intellekt und eine Seele hat.60 Die Chancen für die Wissenschaft wurden auch dann nicht verbessert, als im 12. Jahrhundert der gefeierte Philosoph Averroës und dessen Studenten aus ihren Werken alle muslimischen Doktrinen zu streichen begannen, die durch die Rasa’il Ichwan as-Safa nicht gedeckt waren. Vielmehr wurden Averroës und seine Jünger zu unbeugsamen und doktrinären Aristotelikern. Die aristotelische Physik, so behaupteten sie, sei vollendet und unfehlbar – und sofern einmal eine Beobachtung, die jemand anstellte, nicht mit Aristoteles’ Ansichten in Einklang zu bringen war, musste die Beobachtung sicherlich falsch sein oder eine Illusion.

      Daher konnten islamische Gelehrte nennenswerte Fortschritte einzig auf bestimmten Fachgebieten erlangen, etwa in Teilbereichen der Astronomie und Medizin, die keine allgemeine theoretische Grundlage benötigten. Doch war es nach einer Weile selbst mit diesen Fortschritten vorbei.

      Im Gegensatz zu den üblichen Darstellungen hat die »Genesung« des griechischen Denkens Europa nicht wieder auf Kurs in Richtung Wissenschaft gebracht. Angesichts der Wirkung, die dieses Denken auf die Griechen, die Römer und die Muslime hatte, scheint es von größter Wichtigkeit gewesen zu sein, dass die griechische Philosophie erst dann in Europa zugänglich wurde, nachdem christliche Gelehrte ein unabhängiges intellektuelles Rahmengerüst aufgebaut hatten. Das heißt, als ihnen die Arbeiten Aristoteles’ zum ersten Mal begegneten, waren sie bereits willens und fähig, sie anzufechten! Als die Scholastiker sich der Wissenschaft annäherten, standen sie in direkter Opposition zu Aristoteles und anderen klassischen griechischen Autoren. Zwar waren viele Gelehrte des Mittelalters, die außerhalb der Wissenschaft standen (und vornehmlich in der Kunst und der spekulativen Philosophie zu Hause waren), glühende Bewunderer der griechisch-römischen Klassiker und viele große Wissenschaftler des 16. und 17. Jahrhunderts sprachen regelmäßig von ihrer »Schuld« gegenüber Aristoteles und anderen. Allerdings widerlegten ihre eigenen Arbeiten praktisch alles, was die Griechen über die Funktionsweisen der Welt je gesagt hatten.

      Dies soll die Bedeutung des griechischen Denkens für die christliche Theologie oder überhaupt das intellektuelle Leben in Europa keineswegs schmälern. Augustinus etwa war direkter Erbe dessen, was die griechische Philosophie im Ganzen hinterlassen hatte, und Thomas von Aquin und die Seinigen sprachen der hellenistischen Bildung gegenüber stets ihren großen Dank aus. Dennoch widersetzten sich Augustinus sowie die Scholastiker dem anti-wissenschaftlichen Element des griechischen Denkens, und lange bevor die griechisch-römische Bildung der Klassiker-Abteilung überantwortet wurde, war sie gerade nicht die bevorzugte Philosophie der Wissenschaftler. Es ist zwar richtig (und wird ständig von Altphilologen hervorgehoben), dass Newton in einem Brief an Robert Hooke im Jahre 1675 schrieb, »wenn ich weiter geblickt habe (als Sie und Descartes), so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand«, doch findet sich eine derartige Hochachtung für die Altvorderen weder in seiner Arbeit noch in seinem Habitus. Vielmehr standen Newton und seine Kollegen, als sie ihren Durchbruch schafften, geradewegs in Opposition zu den griechischen »Riesen«. Die Errungenschaften der Großmeister des 16. und 17. Jahrhunderts – darunter Descartes, Galilei, Newton und Kepler – bezeugten im Gegenteil einen felsenfesten Glauben an einen Schöpfergott, dessen Werk von rationalen Gesetzen bestimmt war, die noch immer der Entdeckung harrten.

      Der Aufstieg der Wissenschaft war kein Ausläufer der klassischen Bildung, sondern eine natürliche Folge der christlichen Lehrmeinung, dass die Natur nur deshalb existiere, weil Gott sie erschaffen habe. Um Gott tatsächlich lieben und ehren zu können, ist es


Скачать книгу