Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit. Rodney Stark
sind. Aus diesem Grund gibt es auch manche diskursiven Gefilde, die die Wissenschaft überhaupt nicht erreichen kann – etwa die Frage nach der Existenz Gottes.
Man beachte auch, dass die Wissenschaft eine organisierte, gemeinschaftliche Bestrebung darstellt und nicht auf Zufallsfunden beruht oder in der Abgeschiedenheit stattfindet. Freilich haben manche Wissenschaftler auch allein gearbeitet, jedoch niemals in der Isolation. Seit den ersten Tagen haben Wissenschaftler Netzwerke gegründet und unterhielten durchweg viele Kontakte.
In Übereinstimmung mit der Ansicht heutiger Historiker und Wissenschaftstheoretiker schließt diese Definition der Wissenschaft alle Versuche aus, die es im Laufe der Menschheitsgeschichte gab, um die materielle Welt zu erklären und zu kontrollieren, selbst solche, die mit dem Übersinnlichen nichts zu tun hatten. Die meisten dieser Bemühungen kann man deshalb aus der Kategorie der Wissenschaft herausnehmen, da bis vor kurzem, wie Marc Bloch sagte, »technischer Fortschritt, selbst großen Ausmaßes, auf bloßer Empirie beruhte«.33 Das heißt, der Fortschritt war das Ergebnis von Beobachtung sowie praktischem Herumprobieren, doch fehlte ihm die Erklärung – die Theorie. Aus diesem Grund stellen die frühen technischen Innovationen aus griechischrömischen Zeiten, der islamischen Welt oder aus China, ganz zu schweigen von solchen aus der Vorzeit, keine Wissenschaft dar und beruhten vielmehr auf überliefertem Wissen, Geschicklichkeit, Weisheit, Technik, Handwerk, Technologie, Ingenieursbegabung, Bildung oder einfachen Kenntnissen. Auch ohne Teleskope waren die Menschen der Antike zu großartigen astronomischen Beobachtungen fähig, doch bevor diese mit nachprüfbaren Theorien verknüpft waren, verharrten sie in der Sphäre bloßer Gegebenheiten. Charles Darwin hat diesen Aspekt anschaulich beschrieben: »Vor dreißig Jahren wurde oft gesagt, dass die Geologen beobachten und nicht theoretisieren sollten; und ich erinnere mich noch gut an jemanden, der meinte, dass man ebenso gut in einer Kiesgrube die Steine zählen und ihre Farben beschreiben könnte. Wie seltsam ist das, dass jemand nicht versteht, dass alle Beobachtung immer für oder gegen eine bestimmte Ansicht sprechen muss, so sie überhaupt von Nutzen sein will!«34
Was die intellektuellen Errungenschaften der griechischen oder östlichen Philosophen angeht, war ihr Empirismus so a-theoretisch, wie ihre Theorien nichtempirisch. Schauen wir auf Aristoteles. Obwohl er für seinen Empirismus gerühmt wird, hielt er diesen doch von seinen Theorien fern. So lehrte er zum Beispiel, dass die Geschwindigkeit, mit der Objekte auf den Boden fallen, proportional zu ihrem Gewicht sei – dass ein Stein, der doppelt so schwer als ein anderer sei, darum auch zweimal so schnell falle.35 Schon ein Besuch auf den Felshängen in seiner Nachbarschaft hätte ihn eines Besseren belehren können.
Gleiches lässt sich auch von den anderen berühmten Griechen sagen – entweder sind ihre Werke ausschließlich empirisch oder aber sie erfüllen nicht die Kriterien der Wissenschaft, da es ihnen an Empirie mangelt. Auf diese Weise bleiben sie rein abstrakte Thesen, die keinerlei feststellbare Folgen miteinbeziehen oder die diese sogar ignorieren. Als Demokrit erklärte, dass die gesamte Natur aus Atomteilchen bestehe, bewegte er sich damit keineswegs in Richtung der wissenschaftlichen Atomtheorie. Sein Modell war rein spekulativ und beruhte weder auf Beobachtungen noch auf Empirie. Dass es sich dennoch als richtig herausstellte, ist nicht mehr als ein linguistischer Zufall, der Demokrits Annahme ebenso viel oder wenig Bedeutung zukommen lässt, wie der seines Zeitgenossen Empedokles, als dieser behauptete, die Natur bestehe einzig aus Feuer, Luft, Wasser und Erde, oder Aristoteles’ Variante aus dem Folgejahrhundert, welche besagte, die Natur sei ein Gemisch aus Hitze, Kälte, Trockenheit, Feuchte und Quintessenz. Das Gleiche betrifft Euklid: trotz seiner analytischen Bravour und seines Scharfsinns war er doch kein Wissenschaftler, da sein Steckenpferd, die Geometrie, an und für sich keine Substanz hat und sie bloß einige Aspekte der Wirklichkeit beschreibt, jedoch nicht zu erklären vermag.
Die echte Wissenschaft erhob sich nur ein einziges Mal: in Europa.36 China, die islamische Welt, Indien und das alte Griechenland hatten zwar ihrerseits die Alchemie entwickelt, doch wurde sie nur in Europa zur Chemie. Analog dazu hatten zwar viele Gesellschaften elaborierte Systeme der Astrologie entwickelt, doch führte nur in Europa die Astrologie zur Astronomie. Warum? Die Antwort darauf hat erneut mit verschiedenen Gottesbildern zu tun.
In den Worten des großen, wenn auch missachteten mittelalterlichen Wissenschafts-Theologen Nikolaus von Oresme ist die Schöpfung Gottes »ungefähr so wie die eines Menschen, der eine Uhr baut und ihren Gang in der Folge ihr selbst überlässt«.37 Im Gegensatz zu den religiösen und philosophischen Doktrinen der nichtchristlichen Welt entwickelten Christen die Wissenschaft, weil sie glaubten, dass sie entwickelt werden konnte und sollte. Alfred North Whitehead sagte im Rahmen seiner Lowell-Vorlesungen 1925 in Harvard, dass die Wissenschaft in Europa entstanden sei aufgrund des breit gefächerten »Glaubens in die Möglichkeit der Wissenschaft … welcher von der mittelalterlichen Theologie abgeleitet war«.38 Whiteheads Erklärung schockierte nicht nur seine distinguierte Zuhörerschaft, sondern westliche Intellektuelle im Allgemeinen, sobald seine Vorlesungen veröffentlicht waren. Wie konnte dieser große Philosoph und Mathematiker, Bertrand Russells Co-Autor der bahnbrechenden Principia Mathematica (1919–1913), etwas so Obskures behaupten? Wusste er denn nicht, dass die Religion der Todfeind der wissenschaftlichen Untersuchung ist?
Whitehead wusste etwas viel Besseres. Er hatte verstanden, dass die christliche Theologie für den Aufstieg der Wissenschaft im Westen ganz unerlässlich gewesen war, und ebenso, dass nicht-christliche Theologien das wissenschaftliche Streben überall sonst abgewürgt hatten. Er erklärte: »Der größte Beitrag des mittelalterlichen Geistes zur Wissenschaftsbewegung war der unbezwingbare Glauben, dass … da ein Geheimnis war, ein Geheimnis, das gelüftet werden konnte. Wie kam es, dass diese Überzeugung so tief in den europäischen Geist eingewurzelt war? … Es muss mit der mittelalterlichen Fixierung auf die Vernunft Gottes zu tun gehabt haben, die man sich als persönliche Energie Jahwes verbunden mit der Rationalität eines griechischen Philosophen ausmalte. Jedes Detail wurde überwacht und kontrolliert: die Suche nach den Geheimnissen der Natur konnte nur in einer Bekräftigung des Glaubens an die Vernunft resultieren.«39
Whitehead schloss mit der Anmerkung, dass die in anderen Religionen zu findenden Gottesbilder, zumal die asiatischen, zu unpersönlich und zu irrational waren, als dass sie die Wissenschaft hätten stützen können. »Gleich welches Geschehnis könnte gerade auch auf den willkürlichen Befehl eines despotischen Gottes zurückzuführen sein« oder einen »unpersönlichen und völlig undurchschaubaren Ursprung haben. Es gibt da nirgends das gleiche Zutrauen in die begreifliche Rationalität eines persönlichen Wesens.«40
Tatsächlich gehen die meisten nicht-christlichen Religionen sowieso nicht von einer Schöpfung aus: das Universum ist vielmehr ewiglich oder bewegt sich bestenfalls zyklisch, es hat jedenfalls weder Anfang noch Ende und, das Wichtigste dabei, es kennt keinen Schöpfer. Infolgedessen betrachtet man das Universum als allwaltendes Mysterium, als widersprüchlich, unvorhersehbar und beliebig. Für jemanden mit diesen religiösen Prämissen verläuft der Pfad der Weisheit über Meditation und mystische Erkenntnis. Der Vernunft zu huldigen, besteht hier kein Grund.
Der kritische Punkt in all dem ist methodologisch. Ganze Jahrhunderte der Meditation werden niemals ein empirisches Wissen hervorbringen. In dem Maße dagegen, wie die Religion Anstöße dazu gibt, das Werk Gottes zu begreifen, wird das Wissen immer größer werden. Und da man, sofern man etwas gründlich verstehen will, es auch erklären können muss, agiert die Wissenschaft hier als »Magd« der Theologie. Nicht anders sahen sich all jene, die an den großen Errungenschaften des 16. und 17. Jahrhunderts beteiligt waren: als Fährtensucher in den Geheimnissen der Schöpfung. Newton, Kepler und Galileo sahen in der Schöpfung ein Buch41, das sich der steten Lektüre und Durchdringung darbot. Das wissenschaftliche Genie des 17. Jahrhunderts René Descartes begründete sein Forschen nach den »Gesetzen« der Natur damit, dass es solche Gesetze ja schließlich geben müsse, da Gott vollkommen sei und sich daher »auf eine Weise verhält, die so konstant und unveränderbar wie nur möglich ist«, abgesehen von gelegentlichen Wundern, die er wirkt.42 Umgekehrt gab es solche kritischen religiösen Auffassungen in anderen Gesellschaften nicht, die ansonsten das gleiche Potential zur wissenschaftlichen Entfaltung gehabt hätten – aber eben doch nicht hatten: den chinesischen, griechischen und islamischen.