Herbst der Amateure. Jürgen Petschull
Kreisstraße kamen ihm kurz nacheinander zwei Fahrzeuge entgegen, ein grünweißer VW-Passat mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirene und ein älterer beigefarbener Mercedes. Er hoffte, daß ihn seine Schwiegereltern nicht gesehen hatten.
Nach einer Viertelstunde erreichte er Otterndorf, eine kleine idyllische Stadt mit einer Hauptstraße, übergroßer Backsteinkirche und liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern. Lohmer mußte halten, als ein paar Kinder mit bunten Laternen die Straße überquerten und »Laterne, Laterne ... Sonne, Mond und Sterne« sangen. Er fuhr aus der Stadt hinaus zum Jachthafen. Im Elbterrassenrestaurant, einem flachen, bungalowartigen Bau mit großen Fenstern zur Elbe hin, roch es wie immer nach Scholle mit Speck. Lohmer fragte nach dem Bootsverleiher Paulsen. »Vielleicht ist der noch unten am Anleger«, sagte jemand.
Der flaschenförmige Jachthafen, dessen schmaler Hals zur Elbe führt, war um diese Jahreszeit nur noch zur Hälfte belegt. Große Motor- und Segeljachten für eine halbe Million und kleine Boote mit Außenbordmotor lagen nebeneinander. Aus einigen Kajüten fiel mattes Licht. Lohmer ging über die auf dem dunklen Wasser schwankenden Holzplanken. Er mußte nicht lange suchen, dann entdeckte er eine kleine Motorjacht mit beigefarbenem Kunststoffrumpf und blauer Persenning. Derselbe Typ wie das Boot auf der Oste. Dörte I, Otterndorf Kreis Cuxhaven, stand am Heck. An Bord brannte Licht.
Durch das Kajütenfenster sah Lohmer einen schweren Mann mit grauem Haarkranz auf einem sonnenroten Schädel. Der Mann saß am Tisch, über allerlei Papiere gebeugt, griff zu einer Flasche Korn, schraubte umständlich den Verschluß ab, schenkte ein Wasserglas viertelvoll und kippte es sich in den Hals. Er trug einen blauen Seemannspullover mit geöffnetem Reißverschluß am Rollkragen. Trotz seines massigen Kopfes hatte er einen spitzen Adamsapfel, der beim Schlucken auf- und abtanzte.
Lohmer klopfte an die Bordwand. Der Mann hustete, setzte das Glas ab und zwängte sich umständlich hinter dem Tisch vor, machte die Kajütentür auf und blickte mißtrauisch zu Lohmer auf.
»Was is’n los?«
Lohmer fragte, ob er der Bootsverleiher Heinz-Hennig Paulsen sei, und als der Mann nickte, nannte er seinen Namen und Dienstrang.
»Was is’n los?«
Er brauche nur ein paar Auskünfte, sagte Lohmer.
»Wofür? Was is’n los, um diese Zeit noch?«
Paulsen hatte plötzlich eine Taschenlampe in der Hand. »Sind Se irgendwo reingefallen?«
Der Lichtkegel fiel auf Lohmers mit getrocknetem Schlickwasser bekleckerte Hose. Zu blöd. Er hatte vergessen, sich umzuziehen. Als er fragte, ob er reinkommen könne, weil man sich drinnen wohl besser unterhalten könne, schüttelte Paulsen den Kopf, sagte »mit der Dreckshose sowieso nicht«, er habe nämlich gerade erst die Sitzpolster gereinigt.
Lohmer klopfte an seiner Hose herum und unterdrückte seinen Ärger. Dann fragte er Paulsen, ob er der Eigner der Motorjacht Dörte III sei und an wen er die zur Zeit vermietet habe. Der Bootsverleiher streckte den Kopf vor und sah ihn noch mißtrauischer an.
»Ham Se mal nen Ausweis, ne Marke oder sowas?«
Umständlich erklärte er, vor einem Jahr sei schon mal »so’n Schnüffler« bei ihm gewesen, er habe sich auch als Kripomann ausgegeben und nach einem Pärchen gefragt, das ein Boot gemietet hatte – und ein paar Monate später sei er als Zeuge zu einem Scheidungsprozeß geladen worden. »Der Kerl war nämlich Privatdetektiv, wissen Se, und hinter nem Liebespaar her, und mit sowas will ich nix mehr zu tun haben.«
Lohmer kam sich immer alberner vor. Natürlich hatte er weder Dienstmarke noch Dienstausweis in seiner Freizeitkleidung. Er versuchte, das zu erklären, gab’s aber auf.
»Also gut, Herr Paulsen, wenn Sie wissen wollen, was mit der Dörte III passiert ist, dann kommen Sie morgen früh um acht zur Polizeidienststelle Cuxhafen, Kriminalkommissariat, zweiter Stock, Zimmer 220. Lohmer ist mein Name, Hauptkommissar Manfred Lohmer.« Er drehte sich um und rief noch im Gehen: »Wenn Sie nicht pünktlich da sind, laß ich Sie mit einem Streifenwagen zur Vernehmung abholen!«
Paulsen kam an Deck.
»Also, was ist mit meinem Schiff los?«
Lohmer kam zurück.
»Können wir uns jetzt unterhalten oder nicht?«
»Kommen Se rein, aber Vorsicht mit der Hose ...«
Lohmer quetschte sich auf eine der beiden Sitzbänke. Paulsen schenkte sich einen Korn ein, bot Lohmer auch einen an und deutete, als der ablehnte, mit seinem Glas in der Hand auf die Papiere. »Alles für die Steuer, alles korrekt hier.«
»Seit wann haben Sie die Dörte III vermietet, Herr Paulsen, und an wen?«
»Vor drei Tagen, an nen Ami. Warten Se. Den Vertrag hatt ich eben noch inne Finger ...« Paulsen wühlte beidhändig in seinen Papieren und hielt nach einer Weile triumphierend einen ausgefüllten Vordruck hoch. »Sehn Se, Herr Kommissar, bei mir herrscht Ordnung.«
Lohmer streckte seine Hand aus. »Kann ich mal sehen?«
»Erst sagen Se mal, wat nu eigentlich los ist.«
Lohmer erzählte, wie er die Motorjacht gefunden hatte, daß niemand an Bord sei und sie nun sicher festgemacht war. Die Blutflecken erwähnte er nicht.
»Da bin ich Sie aber sehr dankbar, Herr Kommissar«, sagte Paulsen und klemmte sich einen kalten Zigarrenstummel zwischen die Lippen.
Lohmer griff nach dem Vertragsformular, las es durch und machte sich Notizen. Die Motorjacht war laut Vertrag vor drei Tagen für eine Woche an einen gewissen »William J. Berrigan, geboren 3. 5. 1954 in Boston, wohnhaft ebenfalls in Boston, amerikanischer Staatsbürger«, verchartert worden.
»Der Mann hat als Sicherheit 3000 Mark in bar hinterlegt«, sagte Paulsen.
»Haben Sie irgendwelche Papiere mit einem Foto von ihm?«
»Klar. Seinen Paß. Laß ich mir von Ausländern immer geben.«
Der Bootsverleiher schichtete wieder seine Papiere um, fischte schließlich einen US-Paß hervor. Lohmer klappte den Ausweis auf und starrte auf die Stelle, wo das Foto gewesen sein mußte – es war herausgerissen, offenbar so heftig, daß auch die obere Seitenecke des Dokumentenpapiers fehlte.
»Hier ist kein Foto mehr, Herr Paulsen!«
Lohmer knallte den Paß auf die Tischplatte. Der Bootsverleiher zuckte zusammen, nahm das Dokument und betrachtete es ungläubig von allen Seiten.
»Ich schwöre, Herr Kommissar! Als mir der Ami den Paß gegeben hat, war da ein Bild drin ...« Paulsen beschrieb seinen Kunden. »Der hat nich wie ein Ami ausgesehen, mehr wien Student, älteres Semester. Mitte Dreißig. Mittelgroß. Mit Brille. Eine mit Goldrand, nee, ohne Rand. Der hat perfekt Deutsch gesprochen, Herr Kommissar. Der wollte mit der Dörte III ne Woche Urlaub machen, hat er gesagt, auf der Elbe und auf den Nebenflüssen rumpütschern. Nach der Ostemündung hat er noch gefragt, da wollt er wohl rein. Vorher hat er sich nach nem Lebensmittelladen erkundigt.«
Paulsen schüttete wieder Schnaps nach.
»Ach ja, Herr Kommissar, fast hätt ich dat vergessen: ich hab dann nachher zufällig gesehen, wie die Dörte III bei Hochwasser aus dem Hafen ausgelaufen ist – da war plötzlich ne Frau an Deck. Lange rote Haare hatte die und ne weiße Windjacke, sah toll aus von weitem, kam mir irgendwie bekannt vor, wien Filmstar oder so, aber ich komm nich drauf.«
Lohmer schrieb ein kleines Kalenderblatt voll, das der Bootsverleiher ihm gegeben hatte, dann verabschiedete er sich und sagte, die Dörte III werde erst einmal sichergestellt. Paulsen protestierte. Lohmer meinte, es werde nur ein paar Tage dauern.
Im Elbterrassenrestaurant ging gerade das Licht aus, als er vorüberging. Die Herbstnacht war kühl und klar geworden. Vom Außendeich aus konnte er kilometerweit über die Elbmündung blicken. Der große Schatten eines hochbeladenen Containerschiffs zog vorüber. Am anderen Ufer waren die Lichter des Industriegebietes Brunsbüttel zu sehen, weiter südlich