Herbst der Amateure. Jürgen Petschull

Herbst der Amateure - Jürgen Petschull


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sagte der Nachrichtensprecher, in Leipzig und Ostberlin seien nach Protest-Versammlungen in mehreren Kirchen und nach gewaltfreien Demonstrationen mehrere Dutzend DDR-Bürger vom Staatssicherheitsdienst und von der Volkspolizei festgenommen worden.

      Schon von weitem konnte Lohmer einen hellen Widerschein hinter dem Ostedeich sehen. Kurz vor seinem Haus parkte ein Streifenwagen halb in einem Gebüsch. Ein paar Leute standen auf der Deichkrone. Er erkannte einige Nachbarn. Auch seine Frau und seine Schwiegereltern waren dabei. Sie gaben ihm frostig die Hand. »Tut mir leid, daß ich weg mußte. Ich war deswegen unterwegs«, sagte er und zeigte zum Boot hinüber.

      Im weißblauen Licht von zwei Halogenscheinwerfern war an Deck der Motorjacht ein einzelner Mann bei der Arbeit zu beobachten: Jan Feldhusen von der Spurensicherung. Er schabte sorgfältig mehrere der braunroten Flecken ab und strich das getrocknete Blut in verschiedene Reagenzgläser. Er bestäubte das Ruder und andere Stellen mit grauem Graphitpuder, entdeckte einige Fingerabdrücke und machte von ihnen Abzüge auf einem Spezial-Plastikklebestreifen. Er kennzeichnete einige Kratzer mit Zahlenschildchen, machte eine Übersichtsaufnahme und fotografierte sie dann ganz aus der Nähe mit einer Pentax mit Makroobjektiv. Er fuhrwerkte mit einer Art Autostaubsauger auf dem Boden, auf Sitzen und Tischen, sogar in den Kojen herum und sammelte auf diese Weise Textilfussel, Haare, Kippen, Knöpfe und allerlei Partikelchen vor dem Spezialfilter des Staubbeutels. Schließlich trug er die Beute in seinen Dienstwagen. Es war kurz vor Mitternacht, als die Scheinwerfer erloschen.

      Lohmer konnte in dieser Nacht schlecht schlafen. Sein Instinkt sagte ihm, daß die Sache mit dem Boot ein ungewöhnlicher Fall werden könnte: Wenn der Bootsverleiher nicht das Bild aus dem Paß des Amerikaners gerissen hatte, dann blieb nur eine Erklärung: dieser Mister Berrigan aus Boston hatte seinen Ausweis abgegeben und das Foto nachher bei günstiger Gelegenheit selber herausgerissen.

      Warum?

      Lohmer beschloß, gleich morgen früh den Polizeizeichner zu dem Bootsverleiher zu schicken. Der sollte nach dessen Personenbeschreibung ein genaues Portrait des Amerikaners malen. Vielleicht würde man es bald für ein Fahndungsplakat brauchen ...

      Am nächsten Morgen, kurz vor acht, schloß Lohmer sein Büro in der zweiten Etage des vierstöckigen Polizeigebäudes in der Cuxhavener Kammannstraße auf. »Hauptkommissar Manfred Lohmer, Tötung und Brand« stand an der Tür, hinter der sich deutsches Behördenzimmer-Design verbarg: Schreibtisch, Schreibmaschinentisch, Aktenregale, abschließbarer Schrank, alles aus Kiefernholznachbildung. Ein Drehstuhl, zwei Besucherstühle aus Vierkantstahlrohr mit grünen Sitzpolstern. Blaugrauer Linoleumboden, nach Reinigungsmittel riechend. Der gerahmte Druck an der Wand »Abend im Teufelsmoor« von Otto Modersohn war Privateigentum, und natürlich auch das gerahmte Farbfoto auf der Fensterbank: Lohmer mit Frau und Tochter an einem Sommertag vorm Reetdachhaus am Ostedeich.

      »Moiijn Kollege Lohmer!«

      Kriminalrat Kohlschmidt, sein Chef, grüßte durch die halboffene Tür und schlurfte mit pensionsreifen Schritten in das Zimmer nebenan.

      Kohlschmidt machte die Verwaltungsarbeit im Kriminalkommissariat Cuxhaven, in dem 26 unterbezahlte Kriminalbeamte in der Stadt und im nördlichen Landkreis etwa »120 000 Leute in Schach halten« mußten, wie Kohlschmidt zu sagen pflegte. Manfred Lohmer, stellvertretender Leiter des KK und Chef der Abteilung »Tötung und Brand«, war der eigentliche Kriminalist in diesem Außenposten der deutschen Gesetzeshüter an der Nordseeküste. Er leitete von Fall zu Fall die MoKo und die SoKo – die »Mordkommission« und die »Sonderkommission« –, wenn kapitale Verbrechen aufzuklären waren. »Der Kojak von der Küste« hatte ihn die Lokalzeitung genannt, als er sich vor ein paar Monaten seinen hufeisenförmigen Haarkranz abrasiert hatte. Lohmer hatte den Bildreporter des Blattes zum Teufel gejagt, der ihm für ein Foto auch noch einen Lolli in die Hand drücken wollte. Seither ließ er sich auf dem Kopf und im Gesicht durchschnittlich drei Tage altes Stoppelhaar stehen und einen gepflegten Schnauzbart wachsen. Das gab ihm, zusammen mit seiner legeren Kleidung, Jeans, Sporthemd, Sakko oder Wildlederjacke, ein asphalt-cowboyartiges Aussehen. Jedenfalls wirkte Lohmer einige Jahre jünger, als er war. Er war 43.

      Lohmer hatte sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß Cuxhaven die letzte Sprosse seiner Karriereleiter sein würde. Anders als noch vor ein paar Jahren beunruhigte ihn dieser Gedanke keineswegs. Seiner Karriere in der Landeshauptstadt Hannover trauerte er nicht mehr nach. Da war er beim 14. K gewesen, beim Staatsschutz. Der größte Fall, den er aufgedeckt hatte, war eine versuchte Gefangenenbefreiung aus der Strafanstalt Celle: Bombenleger hatten ein Loch in die meterdicke Außenmauer gesprengt – ein verurteilter Terrorist, Mitglied der RAF, sollte durch das später sogenannte »Celler Loch« nach draußen klettern. Die Ladung ging hoch, aber der Häftling kam nicht rechtzeitig raus. Statt dessen schlugen die Ermittlungsergebnisse von Lohmer und seinen Kollegen wie eine Bombe ein: der Sprengsatz an der Knastmauer war nämlich vom Verfassungsschutz gelegt worden. Der wollte den Gefangenen, der dem Terrorismus längst abgeschworen hatte, auf diese Weise aus dem Knast bringen und als Informanten in die RAF einschleusen. Der Fall wurde zum politischen Skandal, und Lohmer wurde verdächtigt, einem befreundeten Journalisten ein paar Tips für eine Enthüllungsstory darüber gegeben zu haben. Das konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, dennoch wurde er ein paar Monate später zum Hauptkommissar und so weit von Hannover weg befördert, wie es im Lande Niedersachsen nur geht: an die Nordseeküste nach Cuxhaven.

      Inzwischen fühlte sich Lohmer längst wohl in dieser vom Wind saubergefegten Stadt, zu der auch ein paar vorgelagerte Seebäder gehören. Und beruflich hatte er wieder Erfolg. Seit Beginn seiner Dienstzeit waren alle Morde und Brandstiftungen aufgeklärt worden. Bis auf einen. Ein Urlauber hatte eines Morgens erstochen vor einem der großen Fischkühlhäuser am Hafen gelegen. Ein dubioses Verbrechen ohne erkennbares Motiv. Und eine peinliche, um nicht zu sagen geschäftsschädigende Angelegenheit, wie damals der Vorsitzende der »Vereinigung fischverarbeitender Betriebe« und der Leiter des Fremdenverkehrsvereins übereinstimmend bemerkten. Wobei letzterer noch hinzufügte, das Robbensterben an der Küste mache ihm schon genug Sorgen.

      Kurz vor zehn kam Feldhusen.

      »Hast du auf dem Boot was Besonderes entdeckt?« fragte Lohmer.

      Der Mann von der Spurensicherung schob ein DIN-A4-Blatt über den Tisch. Darauf waren drei handbeschriebene Zettel zu einem Satzteil aneinandergeklebt. »... anderen Ausweg ... sehe ich ... nicht ...«

      »Sieht nach einem Abschiedsbrief und nach Selbstmord aus Liebeskummer aus«, sagte Feldhusen.

      »Wie kommst du denn darauf, Sherlock Holmes?« fragte Lohmer.

      Feldhusen hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel gegen das Fenster. »Da sind drei kupferrot gefärbte Frauenhaare drin, bis zu 58 Zentimeter lang, die reichen fast bis auf den Hintern.« Feldhusen verdrehte die Augen, als sehe er eine nur mit langen roten Haaren bekleidete Frau vor sich.

      »Hier ist die vollständige Spurenliste.«

      Lohmer las: »Herrenlose Jacht; Verzeichnisnummer 434/89.« Unter dieser Überschrift waren 53 einzelne Positionen aufgeführt, von »Zigarettenkippe, Lord extra mit Lippenstiftspuren« bis zu »Mittelgroßer Reisekoffer, grau, Hartschale, Marke Samsonite, zahlreiche Aufkleber«. Auch »Eine Packung Kondome, Marke Libido, nicht angebrochen«.

      Feldhusen grinste, als er mit dem Finger auf diese Position deutete: »Hab ich doch gesagt: Liebeskummer ...«

      Er werde diese und die anderen Fundsachen und natürlich die Fingerabdrücke und die Reagenzgläser mit den Blutproben per Kurier zum Labor des Landeskriminalamtes Hannover schicken. Bevor er ging, stellte Feldhusen die Einkaufstüte auf den Schreibtisch, die Lohmer am Abend auf der kleinen Jacht gesehen hatte. »Da sind ein paar Bücher, Schriftstücke und Tonbandkassetten drin, die solltest du dir näher angucken.«

      Lohmer holte ein deutsches und zwei englische Bücher und eine Broschüre aus der Tüte. Eines hieß S.I.O.P – The Secret U.S.Plan for nuclear war. Ein anderes Nuclear Battlefields. »Das eine bedeutet Die geheimen Atomkriegs-Pläne der USA und das andere Atomare Schlachtfelder«, sagte Feldhusen wichtig, »hab ich mit einem Wörterbuch selbst übersetzt ...«

      Lohmer las langsam den


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