Herbst der Amateure. Jürgen Petschull
hörbar aus. »Das ist allerdings eine etwas ausgefallene Lektüre für eine friedliche Bootstour auf der Oste.«
»Kommt irgendwas von Atomsprengköpfen und Laserstrahlen drin vor«, sagte Feldhusen. »Wir haben hier doch die US-Army in Bremerhaven und Radarstationen in Basdahl und Wanna ...«
»... und vermutlich ein paar Atomsprengkopflager, die es offiziell natürlich nicht gibt ...«
»Auf dem Gebiet sollst du ja Experte sein«, sagte Feldhusen.
Lohmer ging auf die Anspielung nicht ein: er hatte vor ein paar Monaten Ärger mit Kohlschmidt bekommen, weil er sich den Aufkleber Atomkraft – Nein Danke! ans Auto geklebt hatte. Ob das denn sein müsse? Das mache bei einem leitenden Kriminalbeamten keinen guten Eindruck auf die Bevölkerung, hatte der Kriminalrat gesagt. Er sei nicht nur Beamter, sondern auch freier Bürger und dürfe seine Meinung wohl noch äußern, hatte er geantwortet. Man lebe schließlich in einer Demokratie. Und er hatte auch noch erwähnt, daß er neuerdings Mitglied der Bürgerinitiative »Notaktion Fluglärm« geworden sei, weil seine kleine Tochter von den Tieffliegern der Bundeswehr und der NATO-Verbündeten zu Tode erschreckt werde. Ob Polizeibeamte etwa keine Pazifisten sein dürften? Lohmer hatte die Tür so laut hinter sich zugeknallt, daß die Kollegen ihre Köpfe auf den Flur hinausstreckten.
Er blätterte interessiert in dem dritten Buch aus der Plastiktüte, einem Bildband mit dem Titel Worpswede-Moskau / Das Werk von Heinrich Vogeler. Katalog zur Ausstellung 1989. Dann las er, was mit grünem Filzstift auf den drei Tonbandkassetten stand: Brandenburgische Konzerte von Johann Sebastian Bach, Leningrad vom US-Rocksänger Billy Idol, Regina Regenbogen, eine bei Kindern sehr beliebte Märchenkassette, wie er als Vater wußte. Da waren Leute mit vielseitigen Interessen an Bord der Dörte III, dachte Lohmer und nahm sich vor, Bücher und Kassetten mit nach Hause zu nehmen, da er tagsüber nicht dazu kommen würde, sich näher damit zu befassen.
Lohmer schrieb mit der Hand eine »Kriminaltaktische Anfrage«. Dann setzte er sich im Geschäftszimmer an den Computer, auf dessen Bildschirm die Großbuchstaben POLAS für Polizeiliches Auskunftssystem standen und tippte mit beiden Zeigefingern seinen kurzen Text ein:
»Kriminalkommissariat Cuxhaven bittet dringend um Auskunft über den amerikanischen Staatsbürger William J. Berrigan, geboren 3. 5. 1954 in Boston, US-Paß Nr. Z6175235, angeblich zuletzt wohnhaft in Boston, Kennedy Ave 1012. Berrigan wird vermißt. Ein Verbrechen ist nicht ausgeschlossen.«
Lohmer adressierte die Anfrage an das LKA, das Landeskriminalamt Hannover, an das BKA, das Bundeskriminalamt Wiesbaden und an das AZR, das Ausländer-Zentralregister in Köln.
Am frühen Nachmittag kam der Polizeizeichner aus Otterndorf zurück. Eine Stunde später hatte er aus einer ersten Skizze mit Pinsel und Spritzpistole ein Portrait des verschwundenen Amerikaners angefertigt – er arbeitete immer noch nach der alten Technik, nicht mit dem Fahndungsbild-Fotopuzzle, bei dem viele Dutzend verschiedener Gesichtsteile so lange miteinander kombiniert werden, bis das Bild den Zeugenangaben entspricht. Auf der Rückseite des Bildes stand: »Der verschwundene Amerikaner William J. Berrigan, gezeichnet nach Angaben des Bootsverleihers Heinz-Henning Paulsen, Otterndorf. Die Haare sind mittelblond, Augenfarbe grau oder blau, Alter Mitte Dreißig, besondere Kennzeichen: ein etwa fingernagelgroßes Muttermal am Hals, nach Angaben des Zeugen vermutlich links unterhalb des Kinns.«
Lohmer hielt das postkartengroße Schwarz-Weiß-Bild unter seine Schreibtischlampe. Es zeigte einen Mann mit vollem, in der Mitte gescheiteltem Haar, beide Ohren frei, hohe, glatte Stirn, schmale, ausgeprägte Nase, ovale Gesichtsform mit ein wenig hervorgehobenen Backenknochen, ausgeformte, aber schmale Lippen, markantes Kinn mit Grübchen. Brille mit dünnem Rand. Die Augenbrauen hatte der Zeichner stark betont, die Pupillen schienen ein wenig unnatürlich groß. Ein intelligentes, irgendwie ängstliches Gesicht, das dem Zeichner wie meist ein wenig puppenhaft steif geraten war.
»Der malt keine Menschen, sondern Wachsfiguren«, hatte Lohmer schon ein paarmal kritisiert. Am Hals, links, war ein dunkler Fleck eingezeichnet. Wenn der ein so großes Muttermal hatte, müßte der Mann Schwierigkeiten beim Rasieren haben, dachte Lohmer – er sah die danebenliegende Asservatenliste durch: es war an Bord kein Rasierapparat gefunden worden, auch kein Rasiermesser.
Er ließ im Fotolabor Reproduktionen des Portraits machen und schickte die Kopien mit der dazugehörigen Personenbeschreibung und einem Foto der Motorjacht Dörte III an die Lokalzeitungen in Cuxhaven, Bremerhaven und Bremen. Der letzte Satz der beiliegenden Polizeimeldung lautete: »Wer hat diese Person und dieses Boot in den vergangenen Tagen gesehen? Vermutlich wurde dieser Mann von einer Frau mit auffallend langem, rotem Haar begleitet. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«
Kurz nacheinander legte ihm die einzige Sekretärin des Kommissariats die Antworten auf seine Anfragen auf den Tisch. Alle drei Dienststellen meldeten: Keine Erkenntnisse über einen William J. Berrigan! Lohmer holte sich die dritte Dose Cola aus dem Automaten. Er bat das BKA, seine Anfrage über die Datenbank Inpol an Interpol Paris weiterzugeben.
Es war schon kurz vor fünf, als ihm eine Idee kam. Er rief seinen Freund Bernhard Greenberg in Bremerhaven an. Lohmer hatte Glück – Greenberg hatte Spätdienst. »Little Bernie«, ein Zweieinhalb-Zentner-Kerl mit Stiernacken und einem gewöhnlich zutraulich grinsenden Bulldoggengesicht, blickte an diesem Nachmittag traurig wie ein eingesperrter Hund aus dem Fenster der zweistöckigen Backsteinkaserne, gegen das ein steifer Nordwestwind dicke Tropfen trommelte. Die herbstlich trostlose Tiefebene dahinter sah wie eine spärlich bewachsene Unterwasserlandschaft aus. Bernie Greenberg mußte für einen erkrankten Kollegen Dienst machen, und sein geplanter Weekendausflug mit Freunden zum Bowling nach Hamburg mit anschließendem St.-Pauli-Bummel fiel deshalb aus. Der Detektiv des CID, des Criminal Investigation Department, der militärischen Kriminalpolizei der US-Army, war privat erfreut und dienstlich ungehalten über Lohmers Anruf. »Ich hoffe, ihr habt nicht schon wieder einen von unseren Jungs als Kokaindealer erwischt, wir haben hier schon genug Probleme, ausgerechnet zum Wochenende.«
Mit Greenberg hatte Lohmer oft zusammengearbeitet, wenn GI’s in irgendwelche Fälle verwickelt waren, meist in Drogendelikte. Lohmer sagte Greenberg, er brauche zwar dringend seine Hilfe, aber es werde nicht viel Umstände machen. Er solle nur mal schnell über die Spezial-Verbindung der US-Army Bremerhaven beim FBI in Washington und im Pentagon nach einem gewissen William J. Berrigan fragen. Lohmer berichtete von dem Boot und dem verschwundenen Amerikaner, der seltsamerweise sein Foto aus seinem Paß gerissen habe. Und daß ein Verbrechen nicht auszuschließen sei.
»Mehr hat der nicht ausgefressen?« fragte Greenberg gelangweilt.
»Dieser Berrigan hat ein paar Unterlagen über die geheimen Atomkriegspläne der Vereinigten Staaten von Amerika auf diesem Boot zurückgelassen, falls dich das interessiert?«
»Material über waaas ...?«
»Über eure Atomkriegspläne!«
»Aha.« Es war eine Weile still.
»Sag mal Fred, willst du mich verarschen?«
»Nicht während der Dienstzeit, das weißt du doch.«
»Und noch was, Bernie ...« Lohmer griff schnell in die Einkaufstüte, die noch immer auf seinem Tisch lag und zog die grüne Broschüre heraus. »Hast du schon mal was von einem Lawrence Livermore National Laboratory gehört?«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber im Moment fällt mir dazu nichts ein. Warum? Was ist damit?«
»Darüber waren auch Unterlagen an Bord.«
»Okay, ich hör mich um, was das für ein Laden ist.«
Greenberg ließ sich den Namen durchbuchstabieren und versprach Lohmer, er werde ihn auch spätabends oder nachts und am Wochenende anrufen, wenn er etwas über diesen Berrigan erfahren habe.
CID-Detektiv Greenberg schickte gegen 19.30 Uhr zwei chiffrierte Fernschreiben über Satelliten nach Washington. Eines an das FBI-Hauptquartier, eines an das Pentagon, an das Zentrale Personaldatenregister, in dem alle derzeit diensttuenden Gl’s, sämtliche Reservisten, alle Veteranen, also