Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen. Mathias Schwabe
die für das Spiel erforderlichen Fähigkeiten halbwegs gleich verteilt sein (wenn die Chancen zu unterschiedlich verteilt sind, macht das Spiel keinen Spaß). Im besten Fall erlebt man, dass es eine nächste Runde gibt und sich Sieg und Niederlage abwechseln. Auch hier kann die mit dem Spiel verbundene Erregung ins Spiel einbrechen, sodass man versucht, die Regeln zu verändern oder zu unterlaufen, wenn man zu verlieren droht. Nirgendwo wird so oft diskutiert und gestritten wie bei Regelspielen, da diese den Rahmen, aber nicht alle Eventualitäten festlegen (Krappmann, ebd. 116 f.). Manchmal entstehen daraus neue Abmachungen, die sich noch echter anfühlen, weil man selbst bei ihrer Aushandlung mitgewirkt hat. Manchmal eskaliert der Streit aber auch und läuft ein Spielpartner anschließend wütend weg und erklärt den Sieg des Anderen für ungerecht. Dennoch machen die meisten Kinder immer wieder neue Anläufe mit Spielen nach Regeln, so als hätten sie verstanden, dass sie weder um diese Form noch um das Aushalten der damit verbundenen Frustrationen herumkommen, sondern daran wachsen.
So weit ein Überblick über das, was Kinder ins Jugendalter mitbringen sollten, um den Erwartungen von Schule und Freunden an regelkonformes Verhalten und die Einhaltung von Grenzen halbwegs gerecht werden zu können. Diese Ansprüche lassen sich nicht mit Hilfe von ein, zwei oder drei Kompetenzen erfüllen, schon gar nicht mit isolierten Fähigkeiten wie dem moralischen Räsonieren oder einem prompten Gehorsam. Das Entscheidende ist, dass von außen gesetzte Regeln zu inneren Strukturen und Grenzen werden.
Dazu bedarf es eines ganzen Netzwerks interagierender Fähigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen (emotional, kognitiv, sozial) und in unterschiedlichen Modi der Existenz (Erleben, Reflektieren, Handeln). Anders als aus einem Netzwerk – oder aus einem individuellen Dickicht –, aus persönlichen Befähigungen ist das, was Kinder und Jugendliche brauchen, um sich sozial verträglich zu bewegen und Konflikte auf faire Weise auszutragen, nicht zu bekommen.
Es ist klar, dass es diesbezüglich eine erhebliche Varianz zwischen Kindern und Jugendlichen einer Klasse oder einer Konfirmandengruppe etc. geben wird. Kinder sind in diesem Alter hinsichtlich ihrer kognitiven und emotionalen Kompetenzen unterschiedlich weit entwickelt. Es ist gut möglich, dass manche sprachlich genau anzugeben wissen, was von ihnen erwartet wird, und das auch selbst richtig finden. Aber sie sind noch nicht in der Lage, ihr Verhalten entsprechend zu steuern. Andere verhalten sich zwar diszipliniert, lassen es aber an Interesse an Anderen und an Empathie fehlen und können sich nicht gut mit anderen abstimmen. Wieder andere haben keine Probleme damit, sich in offizielle Ordnungen einzufügen, verhalten sich aber unsozial, wenn sie sich unbeobachtet wähnen.
Neben individuellen Variationen, die mit angeborenem Temperament und unterschiedlichem Entwicklungstempo zu tun haben, muss man damit rechnen, dass die skizzierten Voraussetzungen nicht überall gleichermaßen gefördert bzw. erreicht wurden und sich einzelne Kompetenzen häufig nicht so verbunden haben, wie es nötig wäre, um sich gegenseitig unterstützen zu können. Ähnlich wie bei der sprachlichen Entwicklung und dem Zugang zu Bildung sind die familiären Bedingungen dafür nicht immer günstig. Die Lernprozesse, die in KiTa und Schule stattfinden, können hier einiges kompensieren, aber nur eingeschränkt Grundlagen dafür schaffen. »Wissenschaftliche Studien zeigen übereinstimmend eine Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern in Deutschland zwischen 15 und 20 % in Verbindung mit einer deutlichen Risikoverschärfung von Kindern und Jugendlichen aus niedrigen Statusgruppen« (Opp & Otto, 2016, 186). Nach einer Untersuchung von Groos & Jehles weisen dort etwa 30 % der Kinder mit zehn Jahren deutliche Entwicklungsverzögerungen auf (Groos & Jehles 2015; Alt & Beier 2012), die, wenn sie erkannt werden und förderlich mit ihnen umgegangen wird, durchaus noch aufgeholt werden können (Dornes 2012, 400). Für emotionale Grundlagen, insbesondere die Frage von Bindungsformen, können sich aber Entwicklungsfenster bereits geschlossen haben (Großmann u. a. 1989). Solche Entwicklungen können, wenn überhaupt, nur noch unter therapeutischen Bedingungen nachgeholt werden. Dabei können sie in sozialpädagogisch ausgerichteten Erziehungshilfen oft besser hergestellt und genutzt werden als in klassischen Therapieformen, weil sich Jugendliche oft schlicht weigern, dort hinzugehen, oder nicht über die inneren Strukturen verfügen, regelmäßige Termine pünktlich wahrzunehmen (Baer 2019, Schmid 2004).
1.2 Jugendspezifische Moralentwicklung als Entwicklung selbstbestimmter Ziele
Jugendliche bauen auf vielem auf, was sie in der Kindheit gelernt haben, um damit neue und alte Aufgaben zu bewältigen (vgl. Zimmermann 1999; Göppel 2019, 164, von Salisch/Seiffge-Krenke 2008). Insbesondere Empathie und Perspektivenübernahme, aber auch das Spielen werden zuverlässige Stützen für die Bewältigung der Anforderungen in der nächsten Lebensetappe. wenn auch in erweiterten bzw. neuen Formen (
Was meint Autonomisierung der Moral? Für Kinder stellt es häufig kein Problem dar, sich einem fremden Regime wie dem der Schule unterzuordnen und dort gleichsam mitzuschwimmen, vor allem, wenn sie erleben, dass dies von allen gefordert wird. Sie spüren häufig sogar einen gewissen Stolz darüber, dass sie diesen Disziplinanforderungen außerhalb des Elternhauses gewachsen sind, und wenden dafür mitunter ein Ausmaß an Impulskontrolle auf, zu dem sie zu Hause manchmal nicht (mehr) bereit sind. Zugleich betrachten sie andere, denen das nicht gelingt, mit Missbilligung oder gar Verachtung.
Für Jugendliche wird eine solche fraglose Anpassung in dem Maße schwieriger, in dem sich ihr Selbstbild verändert (King 2004, 55; Müller, B. 2010, 397 f.). Die Unterwerfung unter fremdbestimmte Regeln kollidiert mit ihren Autonomieansprüchen. Entweder gelingt ihnen, was von ihnen gefordert wird, als sinnvoll anzuerkennen und sich zu eigen zu machen, weshalb sie solche Regeln auch einhalten oder es zumindest von sich selbst erwarten. Oder aber sie erleben diese als fremdbestimmt, zweifeln deren Sinn an und unterstellen, dass man sie damit unnötig gängeln möchte, weshalb Widerstand und/oder Ignorieren zur Wahrung der eigenen Autonomieansprüche geboten erscheinen.
Serkan, ein gerade 14 Jahre alt gewordener türkischstämmiger deutscher Junge, bringt das so auf den Punkt:
»Ey, Mann ich bin jetzt doch schon groß. Nachmittags helfe ich meinem Onkel im Laden und geb’ Wechselgeld (aus der Kasse) und so was alles bis abends um zehn. Ohne Pause, oder nur mal kurz so 5 Minuten, wenn’s grade geht. Mit so ne Kunden, manchmal …, die sind nicht gerad nett (verdreht die Augen). Aber mein Onkel sagt: der Kunde hat immer Recht. Also kneif Arsch zusammen und lächel! (grinst breit). Glaub mir Alter, das is kein Sahneessen, das is Maloche, richtig hart. Aber hier (gemeint ist die Schule) werd ich immer noch behandelt wie Kindergarten! Von wegen keine Kappen im Unterricht, nimm die ab, und Handyverbot und keine Musik hören in der Pause und diese Musik geht nicht und die Texte von dem Heino sind verboten und von jenem und keine Filme anschauen, und schon gar keine Pornos und noch tausend so Sachen. Mann, wo sind wir da? Und dann die ganze Zeit stillsitzen und das Gelaber anhören. Und dann noch ja, Frau S. und ja Herr B. danke für die Fünf in Mathe … bin ich selbst schuld, dass ich das nicht kapiere und lauter so Faxen …«
Wie man hört, gibt es auch im Laden seines Onkels viele, explizite und implizite Regeln, an die er sich halten muss, wenn er dort arbeiten will (nicht erwähnt hat er in diesem Interviewabschnitt das strikte Rauchverbot, was