Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen. Mathias Schwabe
die man mit noch so viel Anstrengung nicht zur Ruhe bringen kann. Oder aber, das wird im folgenden Zitat von Bittner deutlich, sie bleiben unverbindlich und irrelevant:
»Wird nur (…) das verbal formulierte Gebot oder Verbot des Vaters oder der Mutter verinnerlicht, dann handelt es sich um keine ›innere‹, sondern nur um eine wahrscheinlich wenig wirksame ›internalisierte‹, sozusagen nach innen geklappte äußere Grenze. Eine innere wird daraus erst, wenn ich sie in mein Bild von der Welt aufgenommen habe – und das kann niemand für mich, das kann ich nur selbst tun« (Bittner 2016, 29).
Der Fremdheitscharakter vieler Ansprüche im eigenen Selbst dürfte der Grund sein, weshalb sich Kinder und in noch sehr viel stärkerem Ausmaß Jugendliche gegen diese Art der introjizierten Regulierung wehren. Wenn sie diese – teilweise oder überwiegend – als eine fremde Macht erleben, die ihr Innenleben besetzt hat, liegt es nahe, diese Stimme zu überhören, sich über sie hinwegzusetzen oder sie auszutricksen, indem man z. B. einen Keil zwischen diese Stimme und den eigenen Handlungsplan treibt. Dann ergreift man die Rolle des Regulators und bringt eine Handlung so zur Ausführung, wie man es gewünscht hatte, und beruhigt den Einspruch des Gewissens (des Regulierenden) dadurch, dass man diesem weis macht, es wäre in dieser Situation nicht anders gegangen, würde sich nur um eine Ausnahme handeln oder hätte gravierende Nachteile für sich und andere bedeutet, wenn man der Stimme gefolgt wäre. In der Sprache der Psychoanalyse sind das Rationalisierungen, mit denen man nachträglich Abweichungen von Ansprüchen des Über-Ichs oder Ich-Ideals rechtfertigt, um sich Schuld- oder Schamgefühle zu ersparen.
Wie wir gehört haben, kann dieses Stadium nicht autonom genannt werden. Gleichzeitig wären viele Eltern und Pädagog*innen glücklich darüber, wenn so viel an »innerer Kontrolle« halbwegs zuverlässig abrufbar wäre, prospektiv handlungsregulierend oder zumindest nachträglich in Form von Schuld- oder Schamgefühlen. Aber offensichtlich kann man nicht mehr davon ausgehen, dass Über-Ich und Ich-Ideal noch immer so effektiv wirken wie in der Stufe davor.
C) Das Stadium der identifizierten Regulation ist erreicht, wenn ein Verhalten vom Selbst als persönlich wichtig oder wertvoll anerkannt und deswegen auch praktiziert wird (ebd. 228). Man tut etwas nicht (mehr) deswegen, weil man es tun soll(te) oder sich bei Nichtbeachtung des Anspruchs auf unterschiedliche Formen von äußerem oder innerem Druck einstellen muss (schlechtes Gewissen, Selbstvorwürfe, Beschämung, diffuses Unwohlsein), sondern, weil man davon überzeugt ist, dass es sinnvoll und richtig ist und einem selbst und/oder anderen guttut und/oder mit einer gewünschten und erreichbaren Zukunft in Verbindung steht. »Diese persönliche Relevanz resultiert daraus, dass man sich mit den zugrunde liegenden Werten und Zielen identifiziert und sie in das individuelle Selbstkonzept integriert hat« (ebd.).
Man beachte den Unterschied zwischen internalisiert und identifiziert bzw. integriert. Etwas Internalisiertes verweist auf etwas ursprünglich Externes, während etwas, mit dem man sich identifiziert, die Spuren der Fremdheit abgestreift hat und zu einer eigenen Sache geworden und Teil oder Ausdruck des eigenen Selbst ist.
Vergleichen wir das mit der Situation von Jugendlichen: Viele betreiben Sport mit hoher Motivation und bringen dafür auch ein hohes Maß an Disziplin auf. Sie betrachten es als ihr Projekt, für das sie sich Ziele setzen und eigenen Regeln unterwerfen. Handelt es sich hierbei um ein autonomes Handeln? Nach Deci & Ryan, käme es auf die Art der Motivation an. Die Jugendlichen können den Sport verbissen betreiben und dabei unter Druck stehen. Bei Nichtbefolgung ihrer eigenen Handlungsregeln würden sie mit Selbstvorwürfen oder schlechter Stimmung rechnen oder mit Kritik von Seiten der Peers, weil sie sich in Gefahr sehen, dicker zu werden, als sie sein wollen, oder einen weniger muskulösen Körper zeigen zu können, als sie gerne hätten. Damit würden sie sich im Bereich von introjizierter Regulation bewegen. Es handelt sich um ein eigenes, aber nicht um ein selbstbestimmtes oder autonomes Projekt. Anders verhält es sich, wenn sie die Disziplin aufbringen, weil sie sich nach dem Sport ausgeglichen fühlen, sich besser konzentrieren können und es genießen, gesund zu sein. Und wenn sie sich hin und wieder einen faulen Nachmittag oder zwei Sport-freie Tage in der Woche gönnen, also engagiert, aber zugleich locker mit dem eigenen Handlungsprojekt umgehen. In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass die Integration des Anspruchs in das eigene individuelle Selbst stattgefunden hat, während sich die anderen Jugendlichen eher noch mit den Ideen eines kollektiven Selbst identifizieren, in dem sich die eigenen und die Ansprüche der Peers vermischen.
Selbstbestimmtes Handeln stellt sich also ein, wenn sich Jugendliche mit (ursprünglich fremden) Regeln und Ansprüche identifizieren und diese ins individuelle Selbst integriert haben. In psychoanalytischer Terminologie ausgedrückt, hätten die Jugendlichen in diesem Stadium die Ich-fremden Anteile am Über-Ich und Ich-Ideal überwunden oder ausgeschieden und reifere Formen dieser Instanzen entwickelt, die eher als unterstützend und motivierend, weniger als fordernd und kontrollierend erlebt werden.
Damit stellt sich freilich die Frage, was diejenigen Jugendlichen erleben, die auf Grund von befürchtetem oder tatsächlich einsetzendem inneren Druck Sport machen? Sicher würden sie einräumen, dass ihr Handeln nicht wirklich als autonom gelten kann. Andere würden aber weiter behaupten, selbstbestimmt zu handeln, sei es, weil sie den Druck nicht spüren, den sie sich selbst machen (bzw. verleugnen), sei es, weil sich für sie »selbstbestimmt« und »Druck empfinden« nicht ausschließen. Das könnte daran liegen, dass es neue und andere Gebote sind, die sie in sich errichtet haben. Denn tatsächlich sind mit dem Jugendalter im Ich-Ideal neue Bilder entstanden, an denen man sich von da an misst (z. B. schlank, aber mit Muskeln). So wie auch dem Über-Ich Mängel ins Auge stechen, die es vorher nicht gesehen hat, wie z. B. die eigene Gier (mehr essen als geplant) oder der innere Schweinehund (auf dem Sofa liegen statt aktiv sein). Das können in der Kindheit noch zweit- und drittrangige Themen gewesen sein, die keinerlei Kontrolle unterworfen worden waren, neuerdings aber schon.
Insofern hätten die Jugendlichen recht. Sie haben – wenn auch mit Blick auf Peers und/oder motiviert durch die Werbung – ausgewählte neue Leitbilder in sich zugelassen und reklamieren dafür Selbstbestimmung, auch wenn diese noch immer mit innerem Druck verbunden sind. Somit hätten sie die Inhalte der introjizierten Regulierung gewechselt, aber noch nicht deren Form.
Daneben wird man bei vielen Jugendlichen aber auch Mischungsverhältnisse annehmen können, in denen sich »innerer Druck« und »Freiheit zu«, also introjizierte und identifizierte Regulierung im Übergang befinden bzw. abwechseln.
D) »Integrierte Regulation ist die Form der externalisierten Regulation mit dem höchsten Grad der Integration in ein kohärentes Selbstkonzept« (ebd. 229). Diese Form stellt die Endstufe der Internalisierung dar. Sie ist das Ergebnis der Integration verschiedener, eventuell auch in Spannung zueinander stehender Ziele, Normen und Handlungsstrategien in eine Struktur, die Deci & Ryan als Kernselbst bezeichnen. Neu an dieser Stufe sind also einerseits die Unterschiedlichkeit von Zielen, die auftreten, wenn man mehrere Handlungsprojekte verfolgt und sich in unterschiedlichen Systemen bewegt, und andererseits die Idee eines Kernselbst. Dieses scheint wie ein Filter zu wirken, der nur die zentralen, wirklich wichtigen Selbstverpflichtungen »durchlässt« und in sich integriert, während andere Ziele, die das individuelle Selbst bewegt haben, dort keinen Eingang finden, auch wenn man sich mit ihnen durchaus identifiziert. Vieles ist wichtig, aber nur weniges existenziell wichtig. Bittner schreibt dazu:
»Wirkliche Grenzen sind solche, die ich nicht nur im Gehorsam gegen ›internalisierte‹ externale Grenzen respektiere, sondern weil ich gar nicht anders kann als sie zu beachten, wenn ich mich nicht selbst unglücklich machen will« (Bittner 2016, 27).
Deci & Ryan schildern als Beispiel einen jungen Menschen, der wissenschaftliche Interessen verfolgt und eine Karriere an der Hochschule anstrebt und gleichzeitig ein erfolgreicher Baseballspieler werden will (Deci & Ryan 1993, 228). Es ist klar, dass diese Ziele miteinander in Konflikt geraten können. Beides verlangt Engagement und Zeit. Seine begrenzte Zeit wird nicht immer für beides reichen. Gleichzeitig sind damit verschiedene Rollen mit unterschiedlichen Spielregeln verbunden: Der Student, der sich zurückzieht, stundenlang liest und sich an akademischen Diskussionen beteiligen will, bedarf ganz anderer Fähigkeiten und muss ganz anders auftreten als der Sportler, der Teil eines Teams ist und in der Mannschaft auf einer bestimmten Position spielen möchte. Zudem werden seine