Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen. Mathias Schwabe

Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen - Mathias Schwabe


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im Laden und mit den Kunden in der Welt der Erwachsenen bewegt und von diesen als Großer ernst genommen wird, während für ihn in der Schule immer noch die gleichen Regeln gelten wie seit seiner Kindheit. Zudem hat er das eine Betätigungsfeld selbst gewählt und verdient dort eigenes Geld und ist deswegen auch bereit dazu, Neues zu lernen und gewisse Härten in Kauf zu nehmen. Bei Schule handelt es sich aber für ihn um eine seit Jahren auferlegte Pflichtveranstaltung, bei der er sich von den Erwachsenen als Kind behandelt sieht und mehr Misserfolgs- als Erfolgserlebnisse bilanziert und damit – ganz anders als im Laden des Onkels – wenig Gelegenheit für Selbstwirksamkeitserfahrungen und den Aufbau einer positiven Identität erhält.

      Sicher könnten Vertreter*innen der Schule häufig ausführlicher begründen, welche vernünftigen Gründe hinter den unverhandelbaren Regeln stehen, und könnten andere Regeln zur Aushandlung freigeben, sodass diese auf Klassenebene als selbst- oder mitbestimmt erlebt werden könnten. Das würde nicht schaden, aber ob es dabei hilft, dass sich die Jugendlichen vermehrt an die Regeln halten, bleib fraglich. Offensichtlich hält sich Serkan an die Regeln im Laden seines Onkels, weil er dort sein will, nicht weil sie ihm gut begründet erscheinen und er ihre Geltung einsehen könnte. Die Bedeutung von Einsicht für die Einhaltung von Regeln scheint ein häufiges rationales Missverständnis vieler Erwachsener im Umgang mit Jugendlichen darzustellen. Es motiviert sie zu langen Erklärungen, die viele Jugendliche gar nicht interessieren. Jugendliche können sich an die (in Erwachsenensicht) absurdesten und pingeligsten Regeln halten, wenn sie sich mit dem Rahmen identifizieren können wie z. B. mit einer bestimmten Jugendkultur oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Clique (image Kap. 2). Beachtung oder Missachtung von Regeln hängt in erster Linie von der performativen Attraktivität des Rahmens ab, konkret davon, ob das Handeln in diesem Rahmen Freude macht und/oder neue interessante Erfahrungen bietet oder glaubhafte Zukunftsperspektiven eröffnet. Nur wenn Aushandlungsprozesse dazu beitragen, werden sie auch einen Beitrag zu regelkonformen Verhalten darstellen.

      Bei der Frage, ob Regeln eingehalten und Grenzen beachtet werden, stellt sich für Jugendliche demnach zunächst die Frage, aus welcher Motivation heraus das geschehen kann und soll, oft noch vor der Frage nach den konkreten Inhalten der Erwartungen. Dafür ist die von Deci & Ryan ausdifferenzierte Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Motivation zentral (Deci & Ryan 1993 und 2017). Bei einer intrinsischen Motivation gibt es »keinen vom Handlungsgeschehen separierbaren Kontrollimpuls« (222). Aus einer intrinsischen Motivation entsteht freudvolle Aktivität, die mit Neugier, Explorationslust, Spontaneität und Interesse einhergeht (ebd.). Misserfolge werden als Herausforderungen betrachtet, die man überwinden kann und will. Liegt eine intrinsische Motivation vor, braucht es keine Aufforderung zum Handeln und müssen auch keine Ordnungsregeln dafür formuliert werden. Noch bevor der Lehrer die Klasse betritt, hat das Kind z. B. sein Buch aufgeschlagen und liest den Text, weil ihn der Inhalt interessiert. Intrinsische Motivationen können aber auch zu Problemen führen, z. B. weil das Kind ganze Nächte durchliest oder – wahrscheinlicher – sich auch nach vielen Stunden nicht von seinem Computerspiel lösen kann.

      Extrinsische Motivationen werden dagegen durch eine Aufforderung in Gang gesetzt, die von außen gestellt und deswegen als fremdbestimmt erlebt wird, aber dennoch mehr oder weniger internalisiert werden kann. Mit Blick auf diese Möglichkeit unterscheiden Deci & Ryan vier Stufen extrinsischer Motivation:

      A) Externale Regulation: Man befolgt die Regel, weil damit Belohnungen oder Bestrafungen verbunden sind. Das eine ist erwünscht, das andere gefürchtet oder geht sogar mit Angst einher: Angst vor den unangenehmen Folgen einer Anzeige, wenn man im Supermarkt gestohlen hat, oder der Meldungen über schulisches Fehlverhalten an die Eltern, aber auch Angst vor einer öffentlichen Beschämung (wenn man z. B. beim Schwarzfahren erwischt wird und meint, von allen Passagieren missbilligend angestarrt zu werden). Wer sein Verhalten über externale Regulation steuert, wird seine Umwelt beobachten. Wenn diese aufhört zu belohnen oder zu bestrafen, wird man auch die eigene Handlungsregulierung zurücknehmen. Sie bleibt sozusagen auf Nachschub angewiesen. Das bedeutet aber auch, dass die externen Regulatoren, um zuverlässig lohnen und strafen zu können, leibhaft oder vermittelt z. B. über eine Beobachtungskamera präsent sein müssen. Als extern Regulierter versucht man, das, was man abweichend von den Regeln machen will, in den Momenten der Abwesenheit der Kontrollierenden oder in toten Winkeln zu praktizieren. Man verändert sein Verhalten nicht, sondern passt es nur so lange an, wie man sich davon Vorteile bzw. die Vermeidung von Unlust verspricht.

      Man mag externale Regulation als eine niedrige Stufe der Moralentwicklung einschätzen. Sie ist auch weit davon entfernt, als autonom gelten zu können. Und doch stellt sie eine Stufe dar, die manche Jugendliche nicht zuverlässig bedienen können – oder wollen. Ihre egozentrische Weltsicht und ihre Unfähigkeit zum Bedürfnisaufschub sind so groß, dass sie trotz möglicher Sanktionen bestimmte Regelverstöße begehen. Die Unlust einer späteren negativen Konsequenz kann entweder nicht vorausgesehen werden oder verblasst angesichts des momentanen Lusterlebens und bleibt deswegen für die Steuerung des eigenen Verhaltens irrelevant.

      Andere Jugendliche – wenn auch nur wenige – fühlen sich von beinahe jedem Versuch der externen Regulierung herausgefordert und lassen es auf einen Machtkampf mit dem Regelvertreter ankommen. Die Ansprache lautet dabei oft. »Was wollen Sie von mir? Sie haben mir gar nichts zu sagen!« Hierbei kann es sich um ein Omnipotenzgebaren handeln, mit dem der Jugendliche schon seit Langem, auch schon als Kind, aufgetreten ist mit der Folge, dass sich die meisten Erwachsenen zurückgezogen und Regelübertretungen geduldet haben, um eine Konflikteskalation zu vermeiden. Es kann sich aber auch um eine Kompensationshaltung handeln, denn manchmal werden (oder wurden) solche Jugendliche in anderen Kontexten brutal gezwungen, sich zu unterwerfen (Familie, Peers), und versuchen, diese Kränkung durch auftrumpfendes Verhalten an anderen Orten, an denen sie mit weniger drastischen Maßnahmen rechnen, zu reparieren. Es kann sich aber auch um einen radikalisierten Autonomieanspruch eines Jugendlichen handeln, der sich vor einigen Jahren an fremdbestimmte Regeln anpassen konnte, die ihm heute aber als eine Form der Unterwerfung erscheinen, die er nicht mehr mit seinem Selbstbild vereinbaren kann (siehe oben Serkan).

      B) Introjizierte Regulation meint, dass sich interne Anstöße zur Verhaltenssteuerung mit internem Druck verbinden. Zu den internen Anstößen kommt es, weil das Kind inzwischen die Gebote von Respektspersonen (Eltern, Lehrer*innen) verinnerlicht hat. Sie sind und bleiben in ihm präsent und beanspruchen Geltung, unabhängig davon, ob diese Personen anwesend sind oder nicht. Das Kind würde leiden, wenn es diesen verinnerlichten Ansprüchen nicht Folge leistete. Entweder brächte es seine Selbstachtung in Gefahr oder bekäme ein schlechtes Gewissen und zwar unabhängig davon, ob externe Autoritäten seine Regelverletzung mitbekommen oder nicht. Mit den Stichworten »Selbstachtung« und »schlechtes Gewissen« spielen Deci & Ryan auf die Konzepte Ich-Ideal und Über-Ich an. Mit diesen beiden entsteht das, was Fritz Redl control from within genannt hat (Redl & Wineman 1976). Introjizierte Regulation wäre nach diesem Verständnis eine Form der inneren Kontrolle, deren Inhalte auf die Wünsche und Gebote relevanter Anderer (Eltern, größere Geschwister, geachtete Lehrer*innen) zurückgeführt werden können, sich aber von diesen zuverlässig abgelöst hat. Diese relevanten Anderen müssen nicht mehr explizit erinnert werden. Die Inhalte können vor- oder unbewusst geworden sein. Die Regulative sind so verinnerlicht, dass sie sofort wirksam werden und in den laufenden Handlungsprozess intervenieren und diesen mitsteuern oder aber sofort nach Beendigung ins Bewusstsein schießen oder sich als Gefühl von Stolz oder Unwohlsein Präsenz verschaffen. Damit ist viel erreicht, aber noch keine autonome Handlungsregulierung.

      Deci & Ryan schreiben:

      »Eine introjizierte Handlungsregulation ist insofern internal, als keine äußeren Anstöße mehr nötig sind, aber sie bleibt doch weiterhin vom Selbst separiert. Metaphorisch gesprochen: Regulator und Regulierender sind verschieden, obwohl sie beide derselben Person innewohnen« (ebd. S. 226).

      Auch hier lässt die Sprache von Deci & Ryan Vertrautheit mit der psychoanalytischen Terminologie vermuten. Denn dort würde man etwas Introjiziertes als Introjekt bezeichnen und damit ein inneres Objekt mit dem Charakter eines Fremden meinen. Es kann als unterstützend


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