Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen. Mathias Schwabe
von ihm und beäugen ihn immer wieder auch als einen, der nicht wirklich zu ihnen gehört. Der junge Mann muss deswegen nicht nur zwei Wertesysteme in sich integrieren, sondern auch lernen. sich in zwei Welten mit unterschiedlichen Ansprüchen zu bewegen und dabei immer wieder einen Ausgleich zwischen beiden herzustellen. Zugleich hat er genau dieses Doppelleben gewählt und fühlt sich diese seine Entscheidung autonom an. Oder er beweist sich seine Autonomie dadurch, dass er zwischen diesen Werten und Welten wechseln kann.
Das Beispiel ist bei Deci & Ryan so angelegt, dass zum Kernselbst des jungen Mannes beide Projekte gehören. Er würde eine Art von Amputation an sich vornehmen, wenn er nur das eine oder nur das andere leben würde. Aber es wäre durchaus denkbar, dass der Prozess der Integration ins Kernselbst eine Entscheidung für das eine gegen das andere ermöglicht oder sogar erforderlich macht. Was wirklich zum Kernselbst gehört und was »nur« zum Selbst und deswegen zurückgestellt werden kann, kann man nur selbst herausfinden. Wichtig ist, dass sich die Tätigkeiten und das Leben, das man führt, nur dann selbstbestimmt und autonom anfühlen, wenn man diesen Prozess zu einem halbwegs stimmigen Ergebnis gebracht hat.
1.3 Kritik und Ergänzung
Zunächst mag sich das von Deci & Ryan geschilderte Entwicklungsprojekt attraktiv und jugendgemäß anhören. Zunehmende Selbstbestimmung, abnehmende Fremdkontrolle und die Teilhabe an Aktivitäten, die als autonome Handlungsprojekte erlebt werden, dürften für die meisten Jugendlichen genau das darstellen, was sie sich aktuell und für ihre weitere Zukunft wünschen. Wie wir in Kapitel 2 (
Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie realistisch der von Deci & Ryan aufgezeigte Entwicklungsweg ist. Das stufenweise fortschreitende Gelingen der Integration von immer mehr externen Ansprüchen in das eigene Selbst und ein stetig wachsendes Autonomiegefühl aufgrund der erfolgreichen Realisierung eigener Handlungsprojekte scheinen mir einem amerikanisch-optimistischen Wunschtraum zu entsprechen. Man könnte dabei aber auch an den deutschen Idealismus denken. Denn auch für Hegel ist Freiheit vor allem Einsicht in die Notwendigkeit und freudiger Vollzug der Handlungsansprüche, die man als richtig und sinnvoll anerkennen konnte (Hegel 1817/1986, 282). Aber entspricht das der Erlebniswelt heutiger Jugendlicher?
Zudem bezweifle ich die Ausschließlichkeit der Stufenabfolge und werde aufzeigen, dass die Lebenswelten Jugendlicher sehr viel widersprüchlicher strukturiert sind und häufig komplexere Lösungen für die Normenbeachtung an unterschiedlichen Orten erforderlich machen (
Gleichzeitig muss man sich klarmachen, dass soziale, normative wie ästhetische Ordnungssysteme nicht statisch sind, sondern Wandlungen unterliegen. Nur ein Beispiel: Während in der Generation der heute Fünfzig- bis Sechzigjährigen Tätowierungen randständigen Gruppen wie Seefahrern und Gefängnisinsassen vorbehalten waren, sind diese inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Anteil der Tätowierten in Deutschland hat sich in den vergangenen sieben Jahren verdoppelt. Waren es 2012 noch 11,4 %, sind es 2019 21 % der Bevölkerung. Besonders verbreitet sind Tattoos unter den 20- bis 29-Jährigen: Fast jeder zweite (47,1 %) trägt eines oder mehrere (Wort & Bild Verlag 2019).
Damit hat sich eine neue Körperordnung etabliert, zu der sich jeder junge Mensch irgendwie verhalten muss im vollen Bewusstsein, dass eine Normalität einer anderen Platz gemacht hat, sich aber auch rasch wieder verschieben kann. Wer sich für ein Tattoo entscheidet, trägt die Konsequenzen ein Leben lang, auch wenn sich die Mode wieder ändert. Der Verfallswert einer Ordnung steckt aber auch andere mit Unsicherheiten an wie z. B. das Ordnungssystem von Beziehungen, von Geschlechterrollen oder beruflichen Orientierungen. Umso drängender stellt sich die Frage, was man selbst für richtig und wertvoll festhalten will und ob man sich angesichts solcher Unsicherheiten – mit Hanna Arendt gesprochen – nur noch taktisch-instrumentell »verhalten« oder noch »handeln« kann (Arendt 1967).
1.3.1 Autonomie trotz Heteronomie: Jugendliche als Tänzer*innen zwischen Ordnungssystemen und Hybrid-Moral(en)
Kehren wir zu Serkan zurück, der sich darüber beschwert, dass er in der Schule weiter wie ein Kind behandelt wird, und auf der anderen Seite mit Stolz davon berichtet, was er im Gemüseladen seines Onkels leistet. Warum stellt sich dieser Ort trotz seiner zahlreichen Anforderungen für ihn so attraktiv dar? Auf der Habenseite steht die stundenweise Integration als Arbeiter in einem kommerziellen Betrieb und damit sein Einstieg in die Erwachsenenwelt; die damit einhergehende Anerkennung, die er dafür von Seiten des Onkels und seiner Eltern erfährt; eine für ihn attraktive Bezahlung und Erfahrungen einer positiven Identität mit Zukunftsperspektive. Auf der Anspruchsseite steht dem gegenüber, dass Serkan auf einen Gutteil seiner Freizeit verzichten muss, nicht rauchen kann und auch sonst den »Arsch (zusammen)kneifen« muss, weil er in Gestik, Mimik und Wortwahl stets höflich aufzutreten hat. Zudem muss er noch einen Teil des Geldes zu Hause abgeben, weil man dort knapp bei Kasse ist, oder bekommt es manchmal gar nicht erst ausbezahlt, weil Vater und Onkel seine Arbeitsleistung in einer Art bargeldlose Tauschökonomie einbeziehen.
Handelt Serkan selbstbestimmt? Verfolgt er ein autonomes Handlungsprojekt? Ja und nein. Manche der Regeln, die im Laden gelten, sind eindeutig fremdbestimmt und sein Handeln ist extrinsisch motiviert. Das Nicht-Rauchen bewältigt er z. B. im Modus einer externalen Regulation, hinter der die Angst vor einem möglichen Rauswurf steht. Serkan raucht dann eben vor und nach der Zeit im Laden.
Mit Blick auf das Wechselgeld oder das »Arsch kneifen« bewegt sich Serkan im Modus einer introjizierten Regulation. Er hat die Werte Genauigkeit und Höflichkeit verinnerlicht. Er legt sie auch an den Tag, wenn sein Onkel sich nicht im Geschäft aufhält, was gerade gegen Abend häufig vorkommt. Er ist stolz darauf, die Kasse bedienen zu dürfen, zugleich setzt ihn das auch unter Druck. Einmal hat er nachts nicht geschlafen, weil er sich unsicher war, ob er auf 50 statt auf 20 Euro herausgegeben hat. Manchmal nennt er seinen Onkel aber auch einen Geizkragen und denkt, dass es auf ein oder zwei Euro nicht ankommt.
Bezogen auf die Höflichkeit im Kundenkontakt könnte man von einer Mischung zwischen introjizierter und identifizierter Handlungsregulation sprechen. Einerseits weiß Serkan, dass es viele Gemüseläden im Bezirk gibt und man Kunden gewinnen oder halten muss. Sein Onkel macht ihm immer wieder vor, wie es geht und wie man mit den richtigen Worten und Gesten mehr verkaufen kann, als die Leute eigentlich wollten. Das imponiert Serkan und so macht es ihm häufig Freude, ähnlich gewandt und charmant aufzutreten und die Kunden um den Finger zu wickeln. In anderen Situationen kostet es ihn aber durchaus Mühe, freundlich zu bleiben, und er beschimpft die Kunden, wenn sie gegangen sind, leise für sich oder mit den anderen Angestellten.
Was das Geld betrifft, das er teilweise abgeben muss bzw. das in andere Transaktionen einfließt, scheint Serkan hin- und hergerissen.