Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen. Mathias Schwabe
grenzt er sich von deren Machogebaren und Gewaltandrohungen gegenüber den Lehrer*innen ab und macht, anders als die meisten anderen, Hausaufgaben.
Damit zeigt sich Serkan in meinen Augen als Tänzer zwischen Wertewelten, der eine Hybridmoral (Bahbah nach Müller 2010) entwickelt hat, d. h. mehrere neben- und miteinander entstandene und aktuell mal enger, mal loser miteinander verbundene Moralsysteme in eine Art Metastruktur integriert hat. So kann er mehrere Handlungsweisen nebeneinander auf unterschiedlichen Stufen der Moral- und der Autonomieentwicklung praktizieren, ohne dabei eine Identitätsdiffusion zu erleiden (siehe dazu auch die Geschichte von Deborah
1.3.2 Drei Muster der Ausbalancierung
Was Serkan gelingt, scheint mir der günstigste Ausgang für die Gratwanderung zwischen Regelbeachtung und der Realisierung von Autonomieansprüchen, die wir als typische Entwicklungsaufgabe für das Jugendalter propagiert haben: eine wie auch immer geartete Ausbalancierung, die sich für den Jugendlichen stimmig und halbwegs autonom anfühlt (A) (
»Die meisten Jugendlichen reagieren auf die neue gesellschaftliche Agenda nicht mit ›Protest‹ oder mit einer ›Nullbock-Einstellung‹, wie es früher in Teilen der Jugend der Fall war. Sie erhöhen vielmehr ihre Leistungsanstrengungen und betreiben ein aktives ›Umweltmonitoring‹. Das heißt sie überprüfen ihre soziale Umwelt aufmerksam auf Chancen und Risiken, wobei sie Chancen ergreifen und Risiken minimieren wollen. Mit der neuen pragmatischen Haltung einher geht auch ein ausgeprägt positives Denken. Obwohl die Jugendlichen die Gesellschaft von vielen Problemen belastet sehen, entwickeln sie eine positive persönliche Perspektive. Der ideologisch unterfütterte Pessimismus früherer Generationen, der besonders von den Studenten und Abiturienten kultiviert wurde, ist passé. Diese Einstellung passt nicht mehr zu dem unideologischen und leistungsorientierten Habitus dieser neuen Generation« (Jugend 2002, 4).
Dass die Ausbalancierung zwischen Regelbeachtung und Autonomiespielräumen unter Wahrung von Zugehörigkeiten zu verschiedenen sozialen Systemen gelingt, ist allerdings nicht selbstverständlich. Für beinahe alle Jugendliche stellt sie eine Herausforderung dar, an der sie sich abarbeiten, bei der sie immer wieder in Unsicherheiten, Entscheidungsdilemmata und Krisen geraten und eigenen wie fremden Anzweiflungen ausgesetzt sind. Häufig ist es erst am Ende einer längeren Entwicklung klar, dass sich das eigene Hin
Abb. 2: Drei Grundmuster bezogen auf die Ausbalancierung von Regelbeachtung und Eigensinn
und Her zwischen verschiedenen Orientierungen gelohnt und Früchte getragen hat.
Einige Jugendliche scheitern aber an dieser Aufgabe, weil sie die Spannung nicht aushalten und einseitig aufzulösen versuchen, was kurzfristig zu einer Entspannung, langfristig aber zu einem Anwachsen an inneren wie äußeren Konflikten führt.
Das eine Muster (B) zeichnet sich dadurch aus, dass Autonomieansprüche von den Jugendlichen in den Vordergrund gestellt werden, während sie für die Beachtung von Regeln bzw. für Anpassungsleistungen, die von ihnen gefordert werden, wenig Energie aufbringen; meist an mehreren sozialen Orten wie Familie, Schule oder Öffentlichkeit gleichzeitig. Dadurch ziehen sie viele Konflikte auf sich und geraten häufig unter Stress. Einige dieser Jugendlichen sind aufgrund bestimmter Entwicklungsrückstände wie fehlender Antizipation von Konsequenzen oder mangelhafter Impulskontrolle oder aufgrund eigener traumatischer Erfahrungen kaum in der Lage, mehrere Regeln zu beachten und die Grenzen anderer zu respektieren; andere machen den Eindruck, es nicht zu wollen, sei es, dass sie sich mit der Rolle des Rebellen identifizieren, die negativen Identitätszuschreibungen ihrer Umwelt bereits angenommen haben oder deutliche Vorteile aus dissozialem Handeln ziehen. Manche scheinen es auch zu genießen, Erwachsene in Machtkämpfe zu ziehen und zu demontieren.
Klar ist, dass es diesen Jugendlichen viel schwerer fällt, Ausgleichsbewegungen mit Teilanpassungen hier und kleinen Fluchten dort zu verbinden; man könnte ihnen das Motto unterstellen: »I want it all and I want it now!« Häufig erleben sie Erwachsene als feindselig, als Personen, die Jugendlichen nichts gönnen oder sie überflüssigerweise belästigen, oder haben sich enttäuscht von diesen zurückgezogen, weil sie sie als unzuverlässig und unfair erlebt haben (wie Matthias in
Das andere Muster (C) zeichnet sich dadurch aus, dass die jungen Menschen auf das Projekt der Autonomieentwicklung verzichten, sei es, weil es ihnen zu viel Angst macht (Angst, bei den Peers keine Anerkennung zu finden, Angst vor der eigenen Sexualität, Angst, das behütete Nest zu verlassen), sei es, weil sie sich zu wenig davon versprechen. Deswegen ziehen sie es vor, an eingespielten Beziehungsformen vor allem innerhalb der Familie festzuhalten, in der sie häufig bestimmte Rollen eingenommen oder zugewiesen bekommen haben, die sie nicht verlassen zu können glauben, weil sonst etwas Schlimmes passiert (siehe Fallgeschichte Celine