Sexuelle Gewalt gegen Frauen. Daniela Pollich
Ansätze
Soziologische und/oder kriminologische Ansätze sind in der Forschungslandschaft zwar vorhanden, jedoch generell bis heute, besonders wenn es um täterbezogene Erklärungen geht, wenig ausdifferenziert.100 Die bedeutsamsten gesellschaftsorientierten Ansätze betrachten insbesondere die sozialen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich sexuelle Gewalt abspielt.
3.3.1Gesellschaftsorientierte und feministische Ansätze
Bei einer gesellschaftsorientierten Betrachtung sexueller Gewalt werden insbesondere die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe und Einstellungen analysiert, die dazu führen, dass Frauen von Männern vergewaltigt werden.101 Die Ursprünge dieser Denktradition stammen aus der feministischen Vergewaltigungsforschung. Frühe Forscherinnen kamen etwa ab den 1970er Jahren zu der Erkenntnis, dass die westlichen Gesellschaften dieser Zeit durch die vorherrschenden Geschlechterrollenbilder und das dadurch entstandene gesellschaftliche Klima als eine so genannte „Rape Culture“102 charakterisiert werden könnten:103 Die althergebrachte (vermeintliche) Überlegenheit des Mannes über die Frau und das Verständnis der Frau als „Besitz“ des Mannes führe dazu, dass Männer, um ihre Machposition zu verdeutlichen, auch sexuelle Gewalt ausüben. Frauen fügen sich, gemäß ihrer gesellschaftlich vorgegebenen Rolle, oft ihrem Schicksal, durch die Männer dominiert zu werden. Insgesamt herrscht damit ein gesellschaftliches Klima, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen verharmlost wird und „normal“ erscheint.104 Einige Autorinnen gehen sogar so weit, Vergewaltigung als Hass- bzw. Vorurteilskriminalität105 gegen Frauen zu bezeichnen, die allein aus Gründen der Abwertung der Opfergruppe begangen wird.106
Obwohl die feministischen Ansätze ihren Ursprung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben und seitdem ein deutlicher gesellschaftlicher Wandel hinsichtlich der herrschenden Geschlechterrollenbilder eingesetzt hat, ist die aktuelle Gültigkeit derartiger Ansätze nicht zu unterschätzen. Die gelegentlich immer noch vorhandenen tradierten Rollenvorstellungen gehen auch heute noch mit gesellschaftlich teilweise verankerten Vergewaltigungsmythen einher (siehe hierzu auch Abschnitt 2.1). Damit wird aus dem Blickwinkel der feministischen Ansätze bis heute sexuelle Gewalt verharmlost; es werden die Täter entschuldigt und den Opfern wird mindestens eine Mitverantwortung zugeschrieben.
3.3.2Kriminologische und viktimologische Erklärungsansätze
Nur wenige Autoren greifen auf Erklärungsansätze sexueller Gewalt zurück, die explizit etablierte Theorien aus der Kriminologie oder Kriminalsoziologie mit täter- oder auch opferspezifischen Blickwinkeln einbeziehen.107 Vereinzelt werden Verbindungen zur Theorie der differenziellen Assoziationen108, zu den Subkulturtheorien109, den Kontrolltheorien110 oder den Theorien rationalen Handelns111 hergestellt oder zumindest angedeutet.
Erklärungsmöglichkeiten aus einer viktimologischen Perspektive umfassen einerseits Opfertypologien112 – die meist wenig zur Erklärung von Opferwerdung geeignet sind –, andererseits Ansätze, die die Rolle des Opfers bei Sexualdelikten in den Mittelpunkt stellen, die so genannten Modelle der Opferpräzipation. Hierbei wird angenommen, das Opfer selbst trage durch sein Verhalten zur Entstehung der Tat bei, indem es beispielsweise den Täter provoziere, sexuell reize oder implizit der Vergewaltigung zustimme bzw. zumindest widersprüchliche Signale bezüglich der Freiwilligkeit sexueller Handlungen aussende. Diese Ansätze, die vielen Opfern eine Mitschuld an den Taten zurechnen und die Täter teilweise aus der Verantwortung nehmen, stehen stark in der Kritik.113
3.3.3Situationsbezogene Erklärungsansätze
Neben den täter- und opferbezogenen Ansätzen werden gelegentlich auch die situative Umgebung und die Rahmenbedingungen, in denen sich sexuelle Gewalt abspielt, zur Erklärung von Taten herangezogen. Insbesondere kann dadurch erklärt werden, wo genau im öffentlichen Raum ein Delikt stattfindet bzw. wie sich eine Tat zwischen Täter und Opfer situativ entwickelt.114
Einige Autoren betonen zwar die Bedeutung situativer Merkmale (wie beispielsweise Widerstand des Opfers, Einflüsse Dritter oder Frustrationserlebnisse während der Tat) für den Tathergang, bleiben dabei aber eher auf einer beschreibenden Ebene und binden diese Merkmale nicht in die ursächliche theoretische Erklärung ein.115 Wissenschaftliche Beiträge, die eine Erklärung der Bedeutung situativer Faktoren zu leisten vermögen, basieren meist auf etablierten kriminologischen und/oder kriminalsoziologischen Theorien wie beispielsweise den Theorien rationalen Handelns116 bzw. der Routine-Activity-Theorie117. Diese spielen auch bei der Erklärung des geografischen Täterverhaltens eine wesentliche Rolle (siehe hierzu auch Abschnitt 5.1.1).
3.4Integrative Ansätze
Insgesamt zeigt sich schon aufgrund der Fülle und Heterogenität vorhandener Erklärungsansätze, dass sexuelle Gewalt schwerlich durch nur einen einzigen Faktor zu erklären ist und dass Ansätze aus verschiedenen Disziplinen kombiniert betrachtet werden sollten, um dem Phänomen gerecht zu werden. Aus diesem Grund wenden sich zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den letzten Jahren so genannten integrativen Modellen zu, die verschiedene Sichtweisen und Erklärungsansätze vereinen. Diese Modelle sind allerdings sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer Reichweite, ihres integrativen Potenzials und ihres Erklärungsgehalts.
Die Modelle verbinden beispielsweise soziologische, psychologische, lerntheoretische, aber auch biologische und evolutionstheoretische Erklärungsansätze zu unterschiedlichen Erklärungsmodellen sexueller Gewalt. Darüber hinaus können – je nach Modell – auch situationsspezifische Faktoren wie Substanzeinfluss und Gelegenheitsstrukturen sowie zahlreiche andere Faktoren Berücksichtigung finden. 118
Ein komplexes und umfassendes Modell, das sowohl biologische als auch verschiedene psychische (z.B. neuropsychologische, psychopathologische und klinische) sowie soziale Wirkmechanismen berücksichtigt, legten beispielsweise Ward und Beech mit ihrer so genannten Intergrated Theory of Sexual Offending (ITSO) vor. Die Verfasser unterscheiden dabei zwischen mittelbaren, in der Person zeitüberdauernd verankerten (beispielsweise eigene Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) und unmittelbaren bzw. tatauslösenden (beispielsweise Verlust des Arbeitsplatzes) Einflussfaktoren. Insgesamt werden Einflüsse der sozialen Umwelt und dadurch in Gang gekommene Lernprozesse mit psychologischen Faktoren wie „(a) Motivation/Emotionen, (b) Handlungsselektion und Kontrolle sowie (c) Wahrnehmung und Gedächtnis“119 verbunden, um die Ausübung sexueller Gewalt zu erklären. Die Verfasser betonen, dass zur Erklärung sexueller Gewalt ein oberflächlicher Blick auf die biologischen, psychischen und sozialen Schwierigkeiten, die bekanntermaßen oftmals mit der Ausübung sexueller Gewalt einher gehen, nicht ausreiche, sondern dass im Detail das konkrete Zusammenspiel der verschiedenen Wirkfaktoren erklärt werden müsse.120 Aufgrund der Vielschichtigkeit des Modells steht eine umfassende empirische Überprüfung jedoch noch aus.121
Im deutschsprachigen Raum schlägt beispielsweise Wieczorek ein integratives Modell vor, das unter anderem individuelle psychische Grundbedürfnisse (wie beispielsweise Selbstbestätigung, Kontrolle oder Lustgewinn) und so genannte „Schemata“ von Personen verbindet. Diese Schemata beschreibt der Verfasser als Routinen oder festgelegte Ablaufmuster von Handlungen, die Menschen im Laufe ihres Lebens erlernt oder verinnerlicht haben. Schemata, die mit Sexualdelikten zusammenhängen, können physiologisch bzw. biologisch (Auslösung körperlicher sexueller Erregung), affektiv (Zuwendungs- aber auch aggressive Gefühle), kognitiv (bestimmte Wahrnehmungen, beispielsweise