Sexuelle Gewalt gegen Frauen. Daniela Pollich
(Mord), welcher die Tathandlung unter lebenslange Freiheitsstrafe stellt. Diese Strafrechtspraxis blieb durch die Veränderungen im Sexualstrafrecht unberührt.
Zur Ausweitung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung dient außerdem der 2016 neu eingeführte § 184i StGB „Sexuelle Belästigung“. Damit werden insbesondere Fälle in Form eines Antragsdelikts registriert, die im Vorfeld der Reform des Sexualstrafrechts im Einzelfall allenfalls als Beleidung (auf sexueller Grundlage) nach § 185 StGB erfasst wurden. Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise, also sexuell motiviert, körperlich berührt und dadurch belästigt. Das verbale Einwirken auf das Opfer reicht für eine Strafbarkeit nicht aus, vielmehr ist der Tatbestand erfüllt, wenn der Täter das Opfer an den Geschlechtsorganen berührt oder Handlungen vornimmt, die typischerweise eine sexuelle Intimität zwischen den Beteiligten voraussetzen, wie beispielsweise das Küssen des Mundes.63
Schließlich werden gem. § 184j StGB Personen bestraft, die in einer Gruppe64 gemeinsam eine andere Person bedrängen, um an ihr die Begehung einer Straftat nach § 177 oder 184i StGB zu ermöglichen.
2.3Grenzen strafrechtlicher Einordnung und wissenschaftliche Definitionen
In Bezug auf die strafrechtliche Begriffseingrenzung muss einschränkend angemerkt werden, dass die „Realität“ im Bereich der Sexualdelikte sich manchmal einer eindeutigen rechtlichen Einordnung entzieht: Die Beschreibung von Michaelis-Arntzen65 aus dem Blickwinkel der Aussagepsychologie und Glaubwürdigkeitsbegutachtung macht deutlich, dass es sich bei Vergewaltigungsdelikten nicht immer um so eindeutige Handlungen handelt, wie die oben genannten Definitionen und Gesetzestexte nahe legen. Regelmäßig bewegen sich Sexualdelikte in einem rechtlichen Graubereich, der beispielsweise durch „Teileinwilligung“66 des Opfers in niedrigschwelligere sexuelle Handlungen, nachträgliche Rücknahme der Einwilligung zum Geschlechtsverkehr, Ablehnung des Geschlechtsverkehrs erst zum Zeitpunkt der Durchführung67 oder „[s]prachliche Missverständnisse“68 bedingt wird. Taten, die sich in solchen Graubereichen bewegen, sind jedoch nicht direkt als Vortäuschungen zu bewerten. Begrifflichkeiten wie die einer „provozierte[n] Vergewaltigung“69, auch wenn die Provokation dabei nicht bewusst erfolgt sein muss70, sollten bei aller notwendigen Differenziertheit der Betrachtung hingegen vermieden werden, um nicht eine Mitschuld des Opfers an der Tat zu implizieren (siehe auch Abschnitte 6.1.2.1 und 7.3).
Trotz der Schwierigkeiten, die rechtliche Definitionen mit sich bringen, stützen sich auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu Sexualdelikten aus verschiedenen Disziplinen bei der Festlegung des Untersuchungsgegenstandes in erster Linie auf strafrechtliche Deliktseinordnungen. Insbesondere Arbeiten, die auf Hellfelddaten – beispielsweise in Form von Aktenanalysen – basieren, sind schon aus Gründen der Fallauswahl stark an die rechtliche Einordnung der untersuchten Delikte gebunden. Daher nutzen zahlreiche Untersuchungen Definitionen von sexueller Gewalt, die mehr oder weniger stark an das jeweils gültige Sexualstrafrecht und/oder die Erfassung des konkreten Untersuchungsgegenstandes (z.B. Vergewaltigung durch fremde Täter) in der Polizeilichen Kriminalstatistik angelehnt sind und ggf. durch weitere Festlegungen konkretisiert werden.71
Niemeczek weist jedoch darauf hin, dass sexuelle Deviation beispielsweise auch auf Basis klinischer und zivilrechtlicher (beispielsweise § 825 BGB, Gewaltschutzgesetz) Kriterien definiert werden kann. Den Unterschied zwischen klinischen und strafrechtlichen Definitionen macht sie klar, indem sie betont, dass beispielsweise nicht jede klinisch diagnostizierte Paraphilie strafrechtlich relevant ist.72
Als einer der wenigen Autoren polizeinaher Hellfeldstudien schlägt beispielsweise Dern eine vom Strafrecht unabhängige Definition von sexueller Gewalt im Allgemeinen vor: „Grundsätzlich ist kriminelle Sexualität dadurch gekennzeichnet, dass sexuell assoziierte Grenzen ohne Zustimmung einer beteiligten Person überschritten werden“.73
Insbesondere in Studien, die sexuelle Gewalt (auch) im Dunkelfeld untersuchen, sind weiter gefasste Definitionen zu finden. Oftmals ist es genau das Ziel dieser Studien, Dimensionen von sexuellen Übergriffen zu untersuchen, die das Strafrecht (zum Untersuchungszeitpunkt) nicht abdeckt, die aber für die Betroffenen dennoch sehr belastend sein können. Beispielsweise in einer Studie von Müller und Schröttle finden sich deshalb, neben der stark am (damals gültigen) Strafrecht orientierten Festlegung „erzwungene sexuelle Handlungen, zu denen die Befragte gegen ihren Willen durch körperlichen Zwang oder Drohungen gezwungen wurde“, auch weiter gefasste Definitionen sexueller Gewalt. Diese beinhalten sexuelle Übergriffe, bei denen die Frauen „gedrängt oder psychischmoralisch unter Druck gesetzt“ werden und verschiedene Spielarten sexueller Belästigung, um die „fließenden Übergänge“74 und Grauzonen zwischen nicht strafbaren, sexuell konnotierten Handlungen und Straftatbeständen detailliert zu erfassen.75
Anzumerken bleibt letztlich, dass die Vorgehensweise, sexuelle Gewalt zu Beginn der Durchführung einer Studie bereits zu definieren, von einigen Autorinnen und Autoren generell kritisch bewertet wird. Die schwierige Definierbarkeit des Begriffes führe zwangsläufig zu vielen unterschiedlichen Festlegungen und damit automatisch zu unterschiedlichen Forschungsergebnissen. Vielmehr müssten die (gesellschaftliche) Definition von sexueller Gewalt selbst und deren zugrunde liegende gesellschaftliche Normen erst einer Analyse unterzogen werden.76
7Hoven, 2017.
8Sanyal, 2017, S. 54.
9Sanyal, 2017, S. 54–55.
10Sanyal, 2017, S. 58, 138.
11Reiter, 2003, S. 22-24; Sanyal, 2017, S. 69–70.
12Sanyal, 2017, S. 76.
13Krahé, 1989, S. 102; siehe auch Brownmiller, 1978, S. 226–227; Sanyal, 2017, S. 40–41; Süßenbach, 2017; Krahé, 2018, S. 46.
14Scully/Marolla, 1985, S. 305.
15Deming/Eppy, 1981, S. 358-359; 363; Scully/Marolla, 1985, S. 295; Krahé, 1989, S. 103; Sanyal, 2017, S. 39–40.
16Schneider, 1999, S. 234, siehe auch Krahé, 1989, S. 103.
17Rauch et al., 2002, S. 96.
18Krahé, 2018, S. 46–47.
19Beide Sanyal, 2017, S. 148.
20Beispielsweise Rogers/Ferguson, 2011, S. 397–399, 406–409.
21Sanyal, 2017, S. 150.
22Sanyal, 2017, S. 150 (Hervorhebung im Original).
23Beide