Sexuelle Gewalt gegen Frauen. Daniela Pollich
selbst. Diese Scham kann beschrieben werden als „eine hochkomplexe Emotion, die kulturell erlernt werden muss und sich keineswegs automatisch einstellt.“12
Dass derartige Reaktionsweisen von Opfern erlernt werden, liegt sicherlich auch daran, dass die Gesellschaft bis heute Vergewaltigungsopfern, mehr oder minder bewusst, häufig eine gewisse Mitschuld am Erlebten zuschreibt. Beispielsweise in Form so genannter Vergewaltigungsmythen werden die althergebrachten Vorstellungen in die heutige Zeit übertragen. Vergewaltigungsmythen können definiert werden „als Meinungen über Opfer, Täter und Umstände einer Vergewaltigung, die durch vorliegendes Tatsachenwissen nicht gestützt bzw. widerlegt sind“13. Diese Mythen bieten vermeintliche Erklärungen für das Erleben sexueller Gewalt dahin gehend, dass nur bestimmte Frauen einem Risiko unterliegen, Opfer eines solchen Delikts zu werden: „Nice girls don’t get raped“14. Der Ursprung derartiger Mythen liegt nicht zuletzt in der gesellschaftlich lange verankerten Vorstellung der (vermeintlichen) Ungleichwertigkeit von Mann und Frau, die insbesondere von der feministischen Bewegung seit den 1970er Jahren angeprangert wird. Die damals gelebte Dominanz des Mannes über die Frau führte zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen verharmlost wurde und zum Teil auch heute noch wird.15
Vor diesem Hintergrund wird Opfern sexueller Gewalt häufig eine Mitverantwortung an ihren Viktimisierungserfahrungen zugeschrieben, beispielsweise durch ihre Kleidung, ihr Verhalten, ihre unzureichende Wehrhaftigkeit oder den unterstellten Wunsch, sie wollen „zum Sex überredet“ oder gar „insgeheim vergewaltigt“ werden. Schneider berichtet in diesem Kontext von einem lang gehegten „gesellschaftliche[n] Stereotyp, das bis heute nachwirkt: ‚Wirkliche’ Vergewaltigung besteht darin, dass ein psychisch abnormer, bewaffneter Fremder eine Frau aus dem Hinterhalt sexuell angreift und ihr erheblichen körperlichen Schaden zufügt. Das weibliche Opfer leistet vergeblich verzweifelten Widerstand“.16 Weicht eine Tat von diesem klischeehaften Bild ab, kann es für Opfer oftmals heute noch schwierig sein, für glaubwürdig gehalten zu werden. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Missstände gesellschaftlich und auch im behördlichen Umgang etwas abgeschwächt17, obwohl derartige Schuldzuweisungen auch heute noch durchaus vorzukommen scheinen.18
Doch nicht nur die gesellschaftliche Wahrnehmung der Opfer, sondern auch die der Täter ist im Bereich der Sexualdelikte besonders und wohl mit keinem anderen Delikt vergleichbar. So schreibt beispielsweise Sanyal, dass eine „unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den Tätern ein noch größeres Tabu zu sein [scheint] als all die anderen Fragen um das hochaufgeladene Thema Vergewaltigung“; daraus resultiere eine „Entmenschlichung der Täter“19 seitens der Gesellschaft. So zeigen Studien, dass für Vergewaltigungstäter seitens der Bevölkerung im Vergleich zu anderen Straftätern höhere Strafen gefordert und deren Chancen auf Rehabilitation gleichzeitig deutlich niedriger eingeschätzt werden.20 Besonders bei Vergewaltigungstätern ist die Angst der Bevölkerung vor Wiederholungstaten groß und die gesellschaftliche Wiedereingliederung wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern skeptisch gesehen.21 Die Täter eines derartig ablehnenswerten Verbrechens werden von der Gesellschaft daher als andersartig und bösartig, gar als nicht zur Gesellschaft gehörig definiert: „Vergewaltiger sind nicht wie wir. Oder anders ausgedrückt: Vergewaltiger sind nicht wir.“22
Dabei zeigt die Forschung, dass zahlreiche Vergewaltigungstaten durch Täter mit einer breiten Palette krimineller Aktivität begangen werden, die nur gelegentlich durch psychologische oder psychiatrische Störungsbilder auffallen (siehe hierzu genauer Abschnitte 3.2 und 5.2.5) und dass sich sexuelle Gewalt nicht selten situativ entwickelt. Damit zeichnen sich die Täter von Vergewaltigungen in vielen Fällen nicht durch wesentlich andere Merkmale aus, als die Täter anderweitiger Delikte. Dennoch werden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung „vollkommen bösartige Täter“ „gute[n] unschuldige[n] Opfer[n]“23 (sofern diese als „unbescholten“ gelten und das Delikt dem oben geschilderten Stereotyp entspricht) gegenübergestellt. Dieses durch eine Vergewaltigungstat anhaftende gesellschaftliche Etikett ist für die Täter kaum wieder abzustreifen. Wie drastisch die Folgen einer solchen Etikettierung sein können, wird besonders an unschuldig bezichtigten Tatverdächtigen sexueller Gewalt deutlich. Jedoch auch die gesellschaftlichen, beruflichen und existenziellen Folgen für einige Täter, die im Kontext der #MeToo-Debatte24 als solche bekannt wurden, können hierfür als Beispiele herangezogen werden, ohne dabei die Tragweite der von ihnen begangenen Delikte schmälern zu wollen.
Die gesellschaftliche Funktion dieses Schwarz-Weiß-Denkens besteht womöglich – ähnlich wie bei der gesellschaftlichen Sicht auf die Opfer – darin, das Kontinuum und die Graubereiche der Ursachen von sexueller Gewalt nicht anzuerkennen. Auf diesem Weg kann vermieden werden, gesellschaftlich akzeptieren zu müssen, dass auch „normale“ Männer zu Vergewaltigungstätern werden können und dass auch das gesellschaftliche Klima eine Mitverantwortung für die Entstehung derartiger Übergriffe trägt.25 Diese Sichtweise hat einigen Autorinnen und Autoren zufolge auch auf gesetzliche Änderungen der jüngsten Zeit (siehe genauer Abschnitt 2.2.2) Einfluss genommen: Das höhere Strafbedürfnis und das gesellschaftliche Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Vergewaltigungstätern spiegle sich auch im heutigen Sexualstrafrecht und den anhaltenden Diskussionen um dessen Ausweitung wider.26
Insgesamt zeigt sich, dass die Einstellungen zu Opfern und Tätern sexueller Gewalt sehr eng mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen, Werten und Moralvorstellungen zusammenhängen. Selbiges gilt auch für die Taten selbst: Welche Arten sexueller Handlungen aus Sicht der Gesellschaft gegen die gültige Moral verstoßen oder sogar unter Strafe gestellt werden, hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird stets einem Wandel unterworfen bleiben. Ein Beispiel hierfür ist die Homosexualität, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gesellschaftlich abgelehnt und auch bis 1994 unter Strafe (ehemals § 175 StGB) gestellt war.27 Erst langsam hat sich in dieser Hinsicht die gesellschaftliche Wahrnehmung dessen, was als moralisch „akzeptabel“ gilt, gewandelt und führte zu einer Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität. Beispiel für einen Wandel in eine umgekehrte Richtung ist die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe ab dem Jahr 1998 (siehe genauer Abschnitt 2.2.1), die bis dahin straflos war und gesellschaftlich lange Zeit als moralisch bedenkenlos akzeptiert wurde. Diese Beispiele zeigen, wie eng die sich stetig wandelnde gesellschaftliche Wahrnehmung und Definition sexueller Gewalt mit der Gesetzgebung verbunden ist.
2.2Rechtliche Definitionen und Straftatbestände
2.2.1Rechtshistorie
Der dreizehnte Abschnitt des Strafgesetzbuches des Deutschen Reiches vom 15. Mai 1871 regelte unter der Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ u.a. strafbare Handlungen wie Doppelehe, Ehebruch und Blutschande. Im Mittelpunkt des Sexualstrafrechts standen zur damaligen Zeit die Begriffe Unzucht und unzüchtige Handlung. Als Unzucht galt jedes gegen Zucht und Sitte verstoßende Handeln im Bereich des geschlechtlichen Umgangs zwischen mindestens zwei Personen. Unzüchtige Handlungen waren solche, die objektiv das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung verletzten und subjektiv von sexueller Begierde getragen wurden. Fand die Handlung innerhalb einer Ehe und nicht öffentlich statt, war die Sittlichkeit nicht berührt und es lag entsprechend keine Unzucht vor.28 Ebenfalls als Voraussetzung einer Strafbarkeit galt lange Zeit der moralisch einwandfreie Ruf der betroffenen Frauen sowie das „Brechen eines ernsthaften Widerstands“29.
Nach allgemeiner Auffassung bedurfte es für die Strafbarkeit von Sittlichkeitsdelikten zur damaligen Zeit nicht der Verletzung eines Rechtsguts. Entscheidend war vielmehr die gesellschaftliche Einordnung dessen, was als unzüchtige Handlung anzusehen ist. Erst mit Ende des