Sexuelle Gewalt gegen Frauen. Daniela Pollich
teilweise der polizeilichen Ermittlungs- und Opferschutzmaßnahmen erfordern. Da dies den Rahmen des vorliegenden Bandes sprengen würde, fand notwendigerweise eine Konzentration auf den oben beschriebenen Gegenstandsbereich statt.
Die Forschungsliteratur zum Untersuchungsgegenstand ist recht heterogen und Studien ausschließlich zu sexueller Gewalt männlicher Täter, die dem weiblichen Opfer fremd oder allenfalls flüchtig bekannt sind, sind rar. Aus diesem Grund wird hier auf eine breite Basis an allgemeineren Studien zu sexueller Gewalt zurückgegriffen, wobei stets angestrebt wird, Befunde zu den hier fokussierten Fallkonstellationen zu extrahieren. Wegen der bestehenden Analogien zwischen sexuell assoziierten Tötungsdelikten und Sexualdelikten, die für die Opfer nicht tödlich enden1, werden die Ausführungen an einigen Stellen zudem durch Befunde zu sexuell assoziierten Tötungshandlungen ergänzt. In erster Linie wird im vorliegenden Band die deutschsprachige Forschungsliteratur zum Phänomenbereich wiedergegeben, da die für Deutschland gültigen Befunde auch maßgeblich für die polizeiliche Arbeit hierzulande sind. An einigen Stellen wird jedoch ergänzend auf internationale Befunde zurückgegriffen.
Weiterhin wird für die hier betrachteten Delikte der Begriff der sexuellen Gewalt gewählt. In der aktuellen, besonders in der feministisch orientierten Literatur wird alternativ häufig der Begriff der sexualisierten Gewalt verwendet, um aufzuzeigen, dass „Sex zwar die Waffe, nicht aber die Motivation bei einer Vergewaltigung ist“2. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung werden in dieser, teilweise kontrovers diskutierten Sicht in erster Linie als ein Gewaltdelikt gesehen, bei dem die Sexualität eher als ein Tatmittel anzusehen ist.3
Auch in der kriminologischen Forschung zum Deliktsbereich herrscht weitgehend Einigkeit bezüglich der Tatsachte, dass bei weitem nicht alle Sexualdelikte dem Motiv der sexuellen Befriedigung entspringen, sondern „dass die Täter aggressiver Sexualdelikte Sexualität häufig als Instrument der Beherrschung, der Unterdrückung und Erniedrigung einsetzten – regelmäßig als Reaktion auf Kränkungen und Ängste, die zu einem von Hass und Wut bestimmten Verhältnis gegenüber Frauen geführt haben. Taten mit rein sexueller Motivation, d.h. um sexuelle Erregung abzureagieren, sind dagegen vergleichsweise selten“4. Es handelt sich demnach in erster Linie um Gewaltdelikte, bei denen auch ein Machtaspekt im Vordergrund steht. Dennoch ist nicht darüber hinwegzusehen, dass in den meisten Fällen von Vergewaltigung die sexuellen Handlungen das Tatgeschehen auf Verhaltensebene dominieren.5
Womöglich deshalb hat sich in der kriminologischen und kriminalistischen Literatur der Begriff der sexuellen Gewalt derart stark eingebürgert, dass er auch im vorliegenden Band Verwendung findet.
Erwähnenswert ist überdies, dass für die Betroffenen sexueller Gewalt in diesem Band der Begriff des Opfers verwendet wird, auch wenn dieser gelegentlich in der Kritik steht, eine gewisse Passivität und ein Ausgeliefertsein zu unterstellen, das womöglich ein Leben lang nachhallt. Aus diesem Grund bevorzugen einige Autorinnen und Autoren den aktiv konnotierten Begriff der Überlebenden von Sexualdelikten.6 In einem kriminalistisch und kriminologisch ausgerichteten Band wie diesem erscheint dieser Begriff jedoch, auch wenn seine beabsichtigte Konnotation sinnvoll erscheinen mag, unpräzise: Da sich die Darstellung hier nah an strafrechtlichen Sachverhalten orientiert, die danach differenzieren, ob eine Tötung oder auch ein Tötungsversuch bzw. eine Tötungsabsicht vorlagen oder nicht, würde die Argumentation an einigen Stellen verschwimmen. Gerade weil, wie weiter oben im Text beschrieben, auch Forschungsarbeiten zu sexuell assoziierten Tötungshandlungen einbezogen werden, wäre eine pointierte Darstellung von Forschungsbefunden nicht möglich.
Es ist Ziel des vorliegenden Bandes, die komplexen wissenschaftlichen sowie polizeilichen Wissensbestände zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen zusammenzufassen und praxistauglich darzustellen. Damit sollen den Akteuren der praktischen Kriminalitätskontrolle die erforderlichen Kenntnisse für einen sachgerechten polizeilichen Umgang mit diesem Kriminalitätsphänomen kompakt vermittelt werden. An einigen Stellen war dies eine Gratwanderung zwischen der erforderlichen umfassenden Darstellung des Wissensstandes zum Thema und den Bedarfen und Erfordernissen der Praxis sowie von Studierenden im Bereich Polizeivollzugsdienst. Wir hoffen, diese weitestgehend bewältigt zu haben. Für wertvolle Hinweise zum Manuskript danken wir herzlich Arjen Akkersdijk, Horst Clages, Barbara Ernst und besonders Wolfgang Gatzke.
Düsseldorf, im Juni 2019
1Siehe beispielsweise Straub/Witt, 2002 S. 17–18, 29; Steck/Raumann/Auchter, 2005, S. 78.
2Sanyal, 2017, S. 41.
3Sanyal, 2017, S. 41–43.
4Elsner/Steffen, 2005, S. 13.
5Siehe beispielsweise Uhlig, 2015, S. 62.
6Siehe genauer Sanyal, 2017, S. 93–95.
2Gesellschaftliche und rechtliche Definitionen
2.1Gesellschaftliche Wahrnehmungen von Opfern, Tätern und Taten
Die gesellschaftliche Wahrnehmung und damit auch die Definition dessen, was abweichendes oder „unmoralisches“ sexuelles Verhalten ist, unterliegt einem ständigen Wandel. Damit verschieben sich nicht nur stetig die Bewertungsmaßstäbe in der öffentlichen Diskussion; auch die Entwicklung des Sexualstrafrechts wird essenziell von der gesellschaftlichen und medialen Wahrnehmung und Beurteilung mitbestimmt.7
Seit jeher sind Sexualdelikte stark mit den Begriffen „Ehre“ bzw. „Scham“ verknüpft. Schon in der Antike war die Ehre einer Frau – anders als bei Männern, die sich auch im Krieg oder im Beruf unter Beweis stellen konnten – aus gesellschaftlicher Sicht eng mit ihrer gelebten Sexualität, d.h. mit ihrer Jungfräulichkeit bzw. ihrem Status als Ehefrau, verbunden. Hatte eine Frau (freiwilligen oder unfreiwilligen) Geschlechtsverkehr mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war, galt sie damit als „entehrt“ und in der Gefahr, alles gesellschaftliche Ansehen und damit auch ihre „Existenzgrundlage“8 zu verlieren.9 Wurde eine Frau gewaltsam zum Sexualverkehr gezwungen, wurde sie damit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ihrer Ehre beraubt. Dies zeigt auch die Herkunft des englischen Begriffs für Vergewaltigung „rape“, welcher vom lateinischen „rapere“ (auf Deutsch „Raub“) abstammt. Auch der heute veraltete deutsche Begriff „Notzucht“ hat sich aus dem althochdeutschen Begriff für Raub im Allgemeinen entwickelt. Bemerkenswert hieran ist, dass die Ehre nur einer solchen Frau geraubt werden konnte, die zuvor in der gesellschaftlichen Wahrnehmung im Besitz einer solchen war.10
Zeigte eine Frau noch im 18. und 19. Jahrhundert ein sexuelles Gewaltdelikt bei der Polizei an, wurde bei verheirateten oder verwitweten Frauen der unbescholtene gesellschaftliche Ruf überprüft, bei unverheirateten Frauen die Dehnbarkeit der Vagina, um (vermeintlich) festzustellen, ob Geschlechtsverkehr bereits vor dem angezeigten Delikt stattgefunden hatte oder nicht. Zum Nachweis der weiblichen „Ehre“ vor Gericht war es sogar bis in die 1970er Jahre hinein (siehe Abschnitt 2.2.1) nötig, den Verlust eben dieser durch ein entsprechendes Auftreten als Opfer glaubhaft zu machen und nachzuweisen, dass man sich der Vergewaltigung in ausreichendem Maße und während des gesamten Tatgeschehens widersetzt hatte. Nur dann war in der gesellschaftlichen und auch rechtlichen Wahrnehmung eine „echte“ Vergewaltigung gegeben.11
Seit dieser Zeit hat das Konzept der (verlorenen) „Ehre“ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung an Bedeutung verloren und wurde durch die „Scham“, die Opfer sexueller Gewalt empfinden, weitestgehend ersetzt. Während eine erlebte Vergewaltigung heute