Lionel Forster, der Quarteron. Eine Geschichte aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Sophie Wörrishöffer

Lionel Forster, der Quarteron. Eine Geschichte aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg - Sophie Wörrishöffer


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Grab, wunderbar ergreifend brausten die Töne über das stille, nächtliche Totenfeld. Dann trat der zweite Präsident eines Klubs ein wenig vor, um noch ein letztes Abschiedswort dem plötzlich dahingeschiedenen ersten Vorsitzenden desselben nachzurufen. „Möchte der ruchlose Mörder entdeckt werden,“ schloss er, „möchten alle, die heute den treuen und hochgeachteten Mitbürger beweinen, auch Zeugen werden der Strafe, die den Frevler ereilt! Aber selbst, wenn das Dunkel jener Todesstunde niemals gelichtet wird, wenn der Verbrecher auf Erden seiner Strafe entrinnt, so ist ihm diese damit doch keineswegs erlassen. Das Gewissen spricht, ob auch alle anderen Stimmen schweigen, zu ihm mit dem Posaunenschall des letzten Gerichts, um so lauter, je stiller und unangefochtener äusserlich sein Leben dahingeht. Er ist bestraft, er ist verurteilt schon in dieser Stunde, das muss uns, die wir den teuren Toten beklagen, wenigstens einigermassen trösten.“

      Der Redner hatte geendet, und unter den Klängen eines neuen Chorals wurde der Sarg in die Gruft hinabgelassen. Einer nach dem andern traten die Herren des Gefolges vor, um eine Handvoll Erde auf die Blumen da unten hinabfallen zu lassen, auch Manfred Trevor bückte sich und nahm etwas Staub vom Boden.

      Der Mann war so blass wie eine Leiche, seine Augen blickten starr, der feine Sand rieselte zwischen seinen Fingern auf die Erde, ohne dass er es bemerkte. Er stand wie jemand, der nicht weiss, was der nächste Augenblick ihm bringen werde. Und plötzlich, als er sich über den Rand der offenen Grube vorbeugte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte hinab auf den Sarg. Eine Wolke von Sand flog nach, mehrere Kränze wurden gewaltsam zerrissen, — ehe eine Minute verging, hatte der Knecht des Totengräbers eine Leiter herbeigeholt und in die Gruft gestellt, vier oder sechs Hände streckten sich aus und halfen dem halbbetäubten Manne an die Oberfläche der Erde. Man klopfte ihm den Staub von den Kleidern und führte ihn, der vor Schreck nicht zu sprechen vermochte, aus der Nähe des Grabes; dann, als die Herren des Gefolges ihrer Pflicht genügt hatten, kam die ganze Schar der Neger an die Reihe. Wie sie alle weinten und schluchzten, die armen Schwarzen, wie sie die Blumen auf dem Sargdeckel begruben unter der Erde, die als letztes Liebeszeichen hinabfiel in das düstere Haus des Todes!

      Zusammengeworfen auf einen Haufen, verglühten die Fackeln und bedeckten mit purpurnem Schimmer rings in weitem Kreise den Himmel. Einer nach dem andern verabschiedeten sich die Gäste bei Manfred Trevor, der zusammengesunken in den Kissen des Wagens kauerte. Er musste jedem ein Dankeswort sagen, musste lächeln, obgleich seine Lippen zuckten, — wie ein Schleier lag es über dem Bewusstsein des aufgeregten Mannes.

      Ein böses Zeichen, der Sturz in das offene Grab. Ob er bald dem Vorausgegangenen folgen solle? Jetzt, nun er über Hunderttausende verfügte? Ein Schauer durchrieselte seine Glieder. „Nicht sterben! Nein, nicht sterben!“

      Zu Hause auf Seven-Oaks warf sich Mr. Trevor, tödlich erschöpft, in den Schaukelstuhl, trocknete die heisse Stirn und trank ein Glas Wasser nach dem andern. Was hatte der Redner am Schlusse seines Vortrages gesagt: ‚Der Schuldige ist verurteilt, schon in dieser Stunde.’ Er fuhr mit den Fingern durch das Haar. Die unsicher tastende Hand griff in die Brusttasche, um das dort versteckte Dokument zu befühlen, aber wie von einer Schlange gebissen, zog sie sich zurück. Die Tasche war leer.

      Der kaum getrocknete Schweiss stand schon wieder in grossen Tropfen auf des erschreckten Mannes Stirn. Sollte er das Paketchen im Hausrock vergessen haben? Ein einziger Sprung brachte ihn zur Wand, er liess sich nicht so viel Zeit, um die Taschen zu untersuchen, sondern drückte und fühlte von aussen, — alles leer! Jedes Haar auf seinem Haupte begann sich zu sträuben. Wo war das Testament?

      Er suchte nochmals, er kehrte jede Tasche um, er stürzte in den Schuppen und befühlte alle Polster der Equipage — umsonst, das Dokument war nicht zu finden.

      Zu Tode ermattet, kam er wieder in sein Zimmer. Es drehte sich alles mit ihm im Kreise, seine Gedanken arbeiteten nicht mehr, er war wie vernichtet. Das Papier, an dessen Vorhandensein sich die Entscheidung knüpfte, das Papier, welches Tod und Leben in seinem Schosse barg, — es war fort.

      Vielleicht in das Grab gefallen?

      Ein neues Grauen rieselte durch Mr. Trevors Adern. In das Grab des Mannes, dessen letzten Willen er durchkreuzt hatte? — Streckte der Tote so gleichsam die Hand aus, um ihn auf seinem Wege anzuhalten?

      Vielleicht auch lag das kleine Paket auf dem Wege, irgendwo zwischen Gras und Gebüsch, — vielleicht hatte es der Totengräber gefunden. — Bei diesem Gedanken richtete sich Manfred Trevor plötzlich auf. Er musste hinaus, ganz allein und ohne Säumen, kein fremder Blick durfte das Testament sehen.

      Ralph bekam die Weisung, sogleich den leichten Wagen zu bespannen, und fünf Minuten später war Mr. Trevor wieder auf dem Wege zum Kirchhof. Nur dort konnte das Paket aus der Tasche gefallen sein, — nur dort. Aber wie viele Hunderte von Personen hatten sich zugleich mit ihm in der Nähe des Grabes befunden! Bettler in Scharen, Kinder, Neger, das Gesindel, welches den vornehmen Beerdigungen nachläuft. Jede dieser Persönlichkeiten konnte das kleine, längliche Paketchen entdeckt und aufgehoben haben. Vielleicht lasen gerade jetzt begierige Blicke den Inhalt, und ein spekulativer Kopf überschlug, wie viel Vorteil für ihn selbst bei der Sache herausspringen werde.

      In einiger Entfernung von der Kirchhofspforte liess Mr. Trevor halten und ging zu Fuss den Weg bis an die grüne Hecke, welche das Gebiet des Todes umgab. Das Eisengitter war geschlossen, hier konnte er nicht hinein, er zwängte sich durch eine Lücke in der Hecke und lief zwischen den Leichensteinen zur Eingangspforte; von hier aus verfolgte er den noch ganz mit Blumen bestreuten Weg zum Grabe seines Vetters. Unruhig spähten nach rechts und links die Blicke, unruhig schlug in der Brust das Herz. Wie unzählig viele Füsse hatten in dem losen Sande ihre Spuren zurückgelassen!

      Dort lag das Grab, — Manfred fühlte, wie ihm kalte Schauer durch alle Adern rieselten. Er wagte es hinzusehen, — die Grube war bereits ganz mit Erde gefüllt. Jedes Steinchen am Wege schob sein Fuss beiseite, jeden Zweig der umgebenden Gebüsche. Er suchte und suchte, bis ein Schwindel seine Sinne ergriff, — vergebens.

      Jetzt gab es nur noch eine einzige Hoffnung, und auch diese schien sehr zweifelhaft. Man musste bei dem Totengräber Erkundigungen einziehen. Wieder ging Mr. Trevor an der Aussenseite der Hecke den ganzen Weg zurück bis zum Häuschen am vorderen Eisengitter; hier klopfte er, um Einlass zu erhalten.

      Nach einer längeren Weile öffnete sich ein Fenster zu ebener Erde, eine Männerstimme fragte: „Wer ist da?“

      Mr. Trevor trat näher. „Machen Sie einen Augenblick auf, Sir, ich wünsche mit Ihnen zu sprechen und verlange nichts umsonst.“

      Der Totengräber beugte sich aus dem Fenster. „Ah!“ rief er, „der Gentleman, welcher in das Grab stürzte!“

      Die Haustür wurde geöffnet, und Manfred konnte eintreten.

      „Ist Ihnen ein kleines, in Wachstuch eingeschlagenes Paket eingeliefert worden?“ fragte er. „Ich glaube, es hier verloren zu haben.“

      „Wo? Bei dem unglücklichen Zufall am —“

      „Nein, ich hatte es später noch in der Hand. Aber beim Einsteigen in den Wagen, — es ist mir, als sei mein Rock an der Tür hängengeblieben. Sollten Sie wirklich nichts gefunden haben?“

      „Nichts, Euer Ehren, ich schwöre es!“

      Manfred fuhr mit der Rechten über die Stirn. „Das ist mir sehr fatal,“ sagte er heiser, — „es waren Briefe in dem Paket, Dinge, die nur für mich selbst einen Wert besitzen, aber doch — —“

      Und er schüttelte den Kopf, wie es schien, unfähig, noch ein Wort hervorzubringen. Der Totengräber sah ihn an. „Wissen Sie auch ganz gewiss, dass das Päckchen nicht in die Grube gefallen ist, Euer Ehren? Morgen mache ich dem Geistlichen eine Meldung, erwirke die Erlaubnis, das Grab wieder zu öffnen und den Sarg herauszunehmen, dann kann —“

      Manfred unterbrach zum zweitenmale den dienstfertigen Mann. „Ich sage Ihnen ja, dass ich das Päckchen noch auf dem Wege zur Equipage in der Hand hielt, Sir! — Guten Abend jetzt, hier ist eine Kleinigkeit für Ihre Mühe.“

      Mit müden Schritten ging Mr. Trevor zum Wagen und liess sich ächzend in die Polster der Equipage


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