Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR. Peter Pragal
schockiert. Das Versandhaus bot eine komplette Sitzgarnitur zu einem D-Mark-Preis an, für den sie in Ost-Mark gerade mal einen Sessel hätten erstehen können. Schlagartig wurde unseren Freunden klar, wie billig volkseigene Produkte, die auf dem Binnenmarkt fehlten, ins »kapitalistische Ausland« verhökert wurden. Und wie tief ihnen der sozialistische Staat mit den überhöht festgesetzten Preisen selbst in die Tasche griff. Hätten sie geahnt, in welch gigantischem Umfang heimische Erzeugnisse zu Dumping-Preisen verschleudert wurden, ihre Empörung über die Machthaber wäre schon damals so groß gewesen wie gegen Ende der DDR, als sich selbst SED-Genossen von ihren vergreisten Regenten abwandten.
Je mehr Leute wir kennenlernten, desto umfangreicher und spezieller wurden die Aufträge. Meine Frau, die sich weitaus mehr als ich um die Erfüllung der Warenwünsche kümmerte, lernte viele Fachgeschäfte in den westlichen Stadtbezirken kennen. Einer unserer Freunde, ein leidenschaftlicher Bastler, benötigte bestimmte Elektronikteile. Ein Arztehepaar, das sich am östlichen Stadtrand ein Haus baute, wollte eine Duschtrennwand fürs Badezimmer. Und ein Handwerker überraschte uns mit der Bitte, für seinen Nachwuchs die Kinderbücher von Erich Kästner zu besorgen. Von »Emil und die Detektive« bis zu »Pünktchen und Anton«. Die Bände gab es in den Buchhandlungen der DDR nicht.
Zu den Vorzügen unseres Korrespondenten-Lebens gehörte die Möglichkeit, im Versina einzukaufen. So hieß das von der DDR-Regierung betriebene Unternehmen zur Versorgung von Diplomaten mit zollfreien Waren und Dienstleistungen. Der Valuta-Shop in der Otto-Grotewohl-Straße (heute Wilhelmstraße) bot Zigaretten, Spirituosen und Kaffee zu konkurrenzlos niedrigen Preisen. Eine Stange Camel oder Kent kostete in den siebziger Jahren 5,50 DM, eine Flasche Weinbrand 2,80 DM. Das war deutlich weniger, als man im DDR-Intershop zahlen musste. Das Sortiment bei Versina wurde ständig erweitert. Es reichte von Parfum über Haushaltsgeräte bis zu Lebensmitteln. Als es in der Grotewohl-Straße zu eng wurde, zog der Diplomaten-Laden in einen von Schweden errichteten Neubau im Stadtteil Marzahn. Natürlich wussten die Mitarbeiter, dass die Kunden mit den Sonderausweisen nicht nur ihren eigenen Bedarf deckten. Doch verkauft wurde ohne Mengenbeschränkung. Es gab Abnehmer, die orderten bei einem einzigen Besuch hundert Stangen Zigaretten. Die Billig-Ware wurde häufig per Auto nach West-Berlin geschmuggelt und an Händler und Hehlerringe abgesetzt. Angehörige und Bedienstete von Botschaften besserten durch solche illegalen Geschäfte ihr Gehalt auf. Ganz ohne Risiko war das nicht. In der DDR akkreditierte Diplomaten genossen im Westteil der Stadt keine Immunität. Am Checkpoint Charlie und anderen Grenzübergängen ließ der Westzoll schon mal stichprobenartig die Kofferräume öffnen. In krassen Fällen wurde nicht nur die Ware beschlagnahmt, sondern mitunter das Auto gleich mit.
Auch wir haben mehr gekauft als wir selbst verbrauchten. Wenn wir irgendwo eingeladen waren, nahmen wir oft eine Flasche Whisky oder Cognac mit und erfreuten damit unsere DDR-Gastgeber. Ein befreundetes Ehepaar hatte in einem Dorf an der Ostseeküste ein kleines Bauernhaus erworben, das es zum Feriendomizil umbauen wollte. Örtliche Handwerker waren schwer zu bekommen. Neben Geld musste man mehr zu bieten haben. Etwa Schnaps einer westlichen Marke. Wir halfen mit Dutzenden Flaschen eines Weinbrands aus, der einen französischen Fantasienamen trug. Im Grunde war der Inhalt »ein Rachenputzer«. Die Bauleute aus Vorpommern aber ließen sich damit locken und halfen mit, das Gebäude zu renovieren. Über Bekannte lernten wir einen privaten Fleischer kennen. Der verwendete für seine von den Kunden hochgeschätzten Würste Naturdarm, der in der DDR schwer zu beschaffen war. Er bekam ihn von seinem Lieferanten nur gegen Whisky, den er mit Valuta im Intershop kaufte. Für den »Johnnie Walker«, den wir ihm besorgten, musste er viel weniger zahlen. Er revanchierte sich, indem er uns Filets gab, die – weil sie rar und begehrt waren – zumeist gar nicht erst auf die Fleischtheke kamen. Die Menge war so üppig, dass wir die Filets zum größten Teil an unsere Freunde Weitergaben.
Indem wir mitmachten in diesem System des Gebens und Nehmens, haben wir bald begriffen, wie die DDR-Gesellschaft wirklich funktionierte. Jeder, der etwas zu bieten hatte – sei es eine Ware oder eine Dienstleistung – war bestrebt, etwas anderes zu bekommen, das ihm fehlte. Die starre Planwirtschaft wurde von den Bürgern durch Tauschgeschäfte aller Art unterlaufen. Wer Beziehungen hatte, spielte diesen Vorteil ungeniert aus. Jemanden zu kennen, der an Autoersatzteile herankam, war Gold wert. Manch einer entwickelte dabei herausragende Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, auch in einer Mangelgesellschaft ganz gut über die Runden zu kommen.
Wer als Westler im Osten wohnte, konnte sich den vielfältigen Bitten, mit denen er konfrontiert wurde, nur schwer entziehen. Gewiss gab es unter den bundesdeutschen Diplomaten extrem vorsichtige Naturen, die sich überaus korrekt an alle Gesetze und Verordnungen der DDR hielten. Korrespondenten litten weniger unter solchen Skrupeln. Briefe zu befördern, die nicht von der Stasi gelesen werden sollten, waren für mich und die meisten meiner Kollegen selbstverständlich. Manuskripte von ostdeutschen Autoren habe ich ebenso »nach drüben« geschafft wie Filme von Ost-Berliner Fotografen. Was uns bevorzugt in Ost-Berlin lebende Westler dazu trieb, gegen DDR-Bestimmungen zu verstoßen, war nicht Abenteurertum oder Lust an der Provokation, sondern das Bewusstsein, die Härten der deutschen Spaltung lindern zu können. Wie konnte man jemanden abweisen, der aus der DDR herauswollte und sich mit seinem Begehren schriftlich an bundesdeutsche Behörden oder an die Menschenrechtskommission der UNO wandte? Wir Korrespondenten wussten, wie die »stille Diplomatie« funktionierte. Wir hatten mitbekommen, dass sich hinter den Kulissen oftmals mehr zugunsten bedrängter Menschen regeln ließ, als wenn man den Fall an die große Glocke hängte.
Einige der humanitären Dienste waren politisch heikel. Da war zum Beispiel ein Ost-Berliner Krankenhausarzt, der bei einer Dienstreise im Westen geblieben war. Er hoffte, dass seine Frau und seine beiden Kinder bald in die Bundesrepublik nachkommen dürften. Aber die DDR-Behörden, die an ihm ein Exempel statuieren wollten, verweigerten die Ausreise. Mehr als drei Jahre lang. Um im Westen arbeiten zu können, benötigte der geflüchtete Arzt Dokumente, darunter seine Promotionsurkunde. Die hatte er, um bei der Ausreise-Kontrolle nicht aufzufallen, zu Hause gelassen. Wir sorgten dafür, dass er die Papiere bekam. Und wenn wir seiner Frau außer schriftlichen Nachrichten den von ihm in West-Berlin besorgten Wochenendeinkauf einschließlich Katzenstreu brachten, nahmen wir auf dem Rückweg Briefe an ihn mit. So blieben die getrennten Eheleute in unkontrolliertem Kontakt.
Die Stasi hat den Kurierdienst mitbekommen, ohne freilich im Detail zu wissen, was alles hin- und hertransportiert wurde. Sie schaute mir nicht nur in meiner beruflichen Tätigkeit auf die Finger. Sie sammelte auch eifrig Informationen, die dazu dienten, Korrespondenten zu kriminalisieren. Das Augenmerk der Stasi-Offiziere richtete sich besonders auf meine Frau. Wie über mich so hatten sie auch über sie eine Akte angelegt, in der die Paragrafen des Strafgesetzbuches aufgelistet waren, gegen die sie laut Stasi-Verdächtigungen verstoßen habe. »Die P. steht im Verdacht«, so heißt es dort, »ihren Ehemann bei der Begehung von Straftaten zu unterstützen bzw. arbeitsteilig mit ihm vorzugehen.« In einem weiteren Satz musste die Stasi allerdings einräumen, dass sie konkret wenig in der Hand hatte, was sie offiziell verwerten konnte. »Die bisher erarbeiteten, den Verdacht begründenden Hinweise tragen inoffiziellen Charakter.« Und das bedeutete: Gegenüber der Justiz waren die Erkenntnisse nicht zu verwerten.
»Da wird mir ja jetzt noch ganz komisch.« Frau Freitag schaut auf ein Blatt Papier mit der Überschrift: »Auskunftsbericht zum operativen Material Freitag.« Sie liest und sagt verblüfft: »Was die alles gewusst haben.« Freitag ist nicht ihr wirklicher Name. Wir haben sie nur so genannt. Weil sie aus Furcht, bei der Stasi aufzufallen, es so wollte. Frau Freitag war in Ost-Berlin unsere Putzfrau. Eine »illegale Reinigungskraft«, wie sie jetzt in dem Aktenvermerk des MfS liest. Wir haben uns lange nicht gesehen. Sie hat noch einmal geheiratet. Ihr neuer Name war meiner Frau und mir unbekannt. Erst durch gemeinsame Bekannte aus DDR-Zeiten haben wir ihre neue Adresse herausgefunden.
Im Frühjahr 1974 stand sie zum ersten Mal in unserer Wohnung in der Ho-Chi-Minh-Straße. Eine kleine, schmächtige Frau, der man ihre Unsicherheit ansah. Begleitet wurde sie von ihrem damaligen Ehemann, einem gelernten Schlosser, der unseren Hausmeister kannte. Den hatte meine Frau gefragt, ob er nicht jemanden wüsste, der bei der Reinigung der Wohnung helfen könnte. Frau Freitag sah sich um, ging durch die Wohnung und willigte ein. Sie kündigte ihre Arbeitsstelle beim Staatlichen Außenhandel und kam fortan zweimal in der Woche für jeweils fünf Stunden. Dafür bekam sie 50 D-Mark. »Das war viel Geld«,