Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR. Peter Pragal

Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR - Peter Pragal


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Wir fetzten uns verbal, bis es draußen hell wurde. Streckenweise sehr emotional. Schließlich haben wir den Disput abgebrochen, weil wir müde waren und wenigstens noch eine Stunde bis zum Aufwachen der Kinder schlafen wollten. Nie zuvor haben wir so intensiv diskutiert und gestritten wie in unseren ersten Jahren in Ost-Berlin. Unsere Gegenwart löste immer neue Kontroversen aus. Über die Ost-Politik der sozial-liberalen Bundesregierung, über Umweltschutz und Marktwirtschaft, über die Arroganz von Bundesbürgern und Erfahrungen mit West-Besuchern. Auch über Kindererziehung, Umgangsformen, Esskultur und die Stellung der Frau in der Gesellschaft.

      Ostler haben oft auf ihren Staat geschimpft, auf die Mängel und Unzulänglichkeiten und die Borniertheit seiner Diener. Aber wehe, Westdeutsche oder West-Berliner maßten sich an mitzumosern, die Wertungen der Ostler durch eigene Urteile zu ergänzen. Und dies womöglich noch in überheblicher Pose. Plötzlich verteidigten DDR-Bürger Zustände, die sie noch kurz zuvor kritisiert hatten. Gespräche im Osten waren anstrengend. Auch für uns. Die Fragen waren unbequem. Phrasen ließ man uns nicht durchgehen. Man musste seine Sätze kontrollieren und wägen, musste lernen, Empfindsamkeiten rechtzeitig zu erkennen. Erst als wir uns besser verstanden, als aus Bekannten Freunde geworden waren, brauchten wir nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Konnten auch schon mal ironisch von den »Zonis« sprechen, ohne befürchten zu müssen, für reaktionär gehalten zu werden.

      Als wir nach Ost-Berlin zogen, kannten wir lediglich eine DDR-Bürgerin, der wir bei einem Urlaub am Goldstrand in Bulgarien begegnet waren. Über sie lernten wir andere Ost-Berliner kennen. Das setzte sich fort wie bei einem Schneeballsystem. Schon nach wenigen Wochen zählte der Kreis der Bekannten ein Dutzend und mehr. Mit jeder Party, zu der man uns einlud, wurde die Zahl der Menschen, die dann auch bei uns ein- und ausgingen, größer. Kaum jemand, dem wir unsere Adresse gegeben hatten, meldete sich an. In vielen Haushalten gab es kein Telefon. Außerdem wollte man vermeiden, dass die Stasi schon vorab Bescheid wusste. In der Regel standen die Besucher vor der Tür und klingelten. Unser Domizil im Plattenbau wurde zur Wohnung der offenen Tür.

      Für unsere Besucher waren wir Exoten, Menschen aus einer anderen, für sie nicht zugänglichen Welt. »Es war so, als würde ein Fenster aufgemacht«, hat die 2006 verstorbene Schauspielerin Jenny Gröllmann gesagt. Bei uns sahen sie Bücher, die es in der DDR nicht gab. Sie schauten in Zeitungen und Zeitschriften, die ein gewöhnlicher Bürger des Arbeiter- und Bauernstaates nie zu Gesicht bekam. Vor allem aber konnten sie mit uns reden, uns fragen, uns beim Wort nehmen. Manche unserer Gäste ließ ich meine gedruckten und noch nicht veröffentlichten Artikel lesen. »Wie seht ihr das?«, wollte ich wissen. »Wenn ihr Einwände habt, sagt es.« Wechselseitig haben wir voneinander gelernt, haben Verständnis füreinander entwickelt.

      Wenn Bundesbürger bei Verwandten in der DDR zu Besuch waren, haben sich beide Seiten oft etwas vorgemacht. Ostler haben die Tische üppig gedeckt und dabei verschwiegen, dass sie tagelang in Delikat- und sonstigen Läden herumgelaufen sind, um die Lebensmittel zu besorgen. Und Westler haben stolz ihre Autos vorgeführt, die sie nicht selten gebraucht oder auf Kredit gekauft hatten. Hinter die Fassaden hat man die anderen möglichst nicht schauen lassen. Und über Sorgen und Probleme sprach man ungern. Unser Leben dagegen war für die neuen Freunde transparent. Sie konnten überprüfen, ob bei uns Worte und Taten übereinstimmten, ob wir in Gesprächen Werte vertraten, nach denen wir auch im Familienalltag handelten. Unsere Glaubwürdigkeit stand täglich auf dem Prüfstand.

      Unter den Menschen, die wir kennenlernten, waren Neugierige und Ängstliche, Sorglose und Misstrauische. Manche standen loyal zu ihrem Staat, andere machten aus ihrer Abneigung gegen den totalen Machtanspruch der regierenden Partei keinen Hehl. Oft hing die Bereitschaft, sich auf uns einzulassen, vom Beruf ab. Schauspieler, Musiker und Filmleute gehörten zu den Kontaktfreudigen, die sich über Abgrenzungsregeln der Machthaber am ehesten hinwegsetzten. Auch Ärzte und Naturwissenschaftler zeigten im Umgang wenig Scheu. Der Stasi blieb nicht verborgen, wer uns besuchte. »Pragal hat sich in einem Jahr einen DDR-Bekanntenkreis von 60 Personen aufgebaut«, lese ich in meiner Akte. »Der größte Teil gehört zur Intelligenz und ist prowestlich eingestellt.« Viele unserer neuen Bekannten sorgten sich, die Kontakte mit den West-Menschen könnten ihnen beruflich schaden. In etlichen Fällen war dies berechtigt. Aber meistens war die Neugier größer als die Angst. Und wenn aus dem gewachsenen Vertrauen erst einmal Freundschaft geworden war, hatten die Abgrenzungs-Ideologen der SED keine Chance. Mehr noch: Der Umgang mit den Westlern machte DDR-Bürger mutiger. »Durch euch«, sagt Henning Schaller, damals Bühnenbildner am Maxim-Gorki-Theater Berlin, »habe ich meine Anti-Haltung mit größerer Sicherheit gelebt.« Unsere Freundschaft war für ihn und seine Familie ein Schutz. Weder hat die Stasi versucht, ihn als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben, noch hat sie ihn offen schikaniert. Nach der Vereinigung wurde er Professor an der Kunsthochschule in Dresden.

      »Ihr habt es aber sehr nett hier.« Den Satz aus dem Munde von DDR-Bürgern haben wir oft gehört. Die Einrichtung unserer Wohnung unterschied sich von der Standard-Möblierung in den Plattenneubauten. Bei uns stand nicht die übliche dunkle Schrankwand, sondern ein aus Nussbaumholz gefertigter Biedermeierschrank. Statt einer wuchtigen Sitzgruppe, die das halbe Zimmer vollstellte, gab es ein englisches Sofa und entsprechende Sessel. Und auch die beiden Empiretische, auf denen Lampen mit Porzellanfüßen standen, entsprachen nicht dem Muster der propagierten sozialistischen Wohnkultur.

      Im Laufe der Zeit haben wir Menschen getroffen, die ebenfalls Antiquitäten schätzten und besaßen. Menschen, die einem bürgerlichen Milieu entstammten und sich in ihrem Wohn- und Lebensstil bewusst von den Geschmacksvorgaben der herrschenden Funktionärsschicht abhoben. Aber im sozialistischen deutschen Staat, in dem kollektive Behaglichkeit mehr zählte als die Ästhetik von Individualisten, bildeten sie eine Minderheit. In den siebziger Jahren, als Hunderttausende DDR-Bürger aus heruntergekommenen Vorkriegshäusern, oft mit Außentoilette auf der halben Treppe, in neue Plattenbauten mit Fernheizung umzogen, verhielten sich Ostdeutsche so wie Millionen Westdeutsche etliche Jahre zuvor. Man wollte moderne Möbel und entledigte sich des vermeintlichen Plunders ihrer alten Einrichtungen, die von den Eltern und Großeltern stammten.

      Mit den elektronischen Geräten, die sie in unserer Wohnung sahen, haben wir bei Besuchern Unverständnis, ja sogar Enttäuschung hervorgerufen. Wer aus dem Westen kommt, so dachten sie, der müsste technisch auf dem neuesten Stand sein. Aber das waren wir nicht. Unser tragbarer Fernsehapparat war schon ein paar Jahre alt, der Plattenspieler auch. Das Radio im Wohnzimmer war zwar ein neueres Modell, aber weit davon entfernt, HiFi-Qualität zu bieten. Und dann stand im Schlafzimmer noch ein alter Röhrenempfänger in einem Holzgehäuse. Geräte dieser Art waren selbst in der DDR längst aus der Mode und konnten bestenfalls als Liebhaberstück durchgehen. »Das ist ja unfassbar«, sagte ein befreundeter Physiker. Er war ein Elektronik-Freak und konnte nicht begreifen, warum wir uns mit einem derartigen Fossil von Radio begnügten. Ein Nachbar, der sich später als Stasi-Spitzel entpuppte, vermutete indes, das Uralt-Radio sei nur Tarnung. Es diene in Wahrheit dazu, von einem westlichen Geheimdienst verschlüsselte Nachrichten zu empfangen. In einem auf Tonband gesprochenen Bericht an seinen Führungsoffizier über Beobachtungen in unserer Wohnung hat er speziell die Wellenbereiche des Radios angegeben. Die Langwelle hielt er für so wichtig, dass er sich sogar die Kilohertz-Zahlen einprägte.

      Versandhauskataloge übten auf DDR-Bürger einen besonderen Reiz aus. Sie blätterten fasziniert in den bunten Angebotsbüchern und staunten über die Fülle der offerierten Waren. Manche fragten zaghaft, ob sie sich die Kataloge für ein paar Tage ausleihen dürften. Andere sagten, sie hätten gern ein eigenes Exemplar. Beim Anschauen blieb es nicht. Etliche hatten West-Verwandte und besaßen D-Mark. Meine Frau notierte sich ihre Wünsche, ließ die Artikel auf ihren Namen an unsere West-Berliner Postfachadresse kommen und brachte die Pakete im Auto in unsere Wohnung. Die Ost-Freunde mussten nun nicht mehr ihre bundesdeutschen Verwandten oder die DDR-Oma, die als Rentnerin in den Westen reisen durfte, um einen Gefallen bitten. Leute, die uns noch nicht lange kannten, fragten uns manchmal, was wir für die Sachen bekämen. Sie meinten, wir verlangten einen Aufschlag. »Das, was sie kosten«, sagten wir. Wir betrachteten den Warentransport als Freundschaftsdienst.

      In den West-Katalogen entdeckten Freunde mitunter Waren, die ihnen bekannt vorkamen. Etwa Möbel, die in der DDR hergestellt worden waren und die es dort nur in seltenen Glücksfällen zu kaufen gab. In der Regel waren es Produkte


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