Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR. Peter Pragal
erlebten, bleibt mir anscheinend erspart. Niemand, zu dem ich eine enge Beziehung habe, hat mich hintergangen. Ich lese weiter. Ohne Beunruhigung und ohne besondere Emotionen. Sachstandsberichte mit Bewertungen meiner journalistischen Arbeit, Protokolle über Observierungen, IM-Berichte, Operativpläne, Vermerke und Auswertungen. Verfasst in einem gleichbleibend hölzernen Bürokraten-Deutsch.
Plötzlich wird mir heiß. Ich blicke auf eine Kopie mit Aufzeichnungen in meiner Handschrift. Ich fühle, wie mir Blut in den Kopf schießt. Hastig blättere ich, schaue mir die nächsten Seiten an. Vor mir liegen die Ablichtungen eines sehr privaten Tagebuchs. In einem Stenoblock habe ich meine Empfindungen während einer kritischen Phase unseres Ehelebens aufgeschrieben. Er lag ganz unten in meiner Schreibtischschublade. Begraben unter dienstlichen Papieren. Und nur für mich bestimmt. Verdammt noch mal, denke ich. Was geht den Staatssicherheitsdienst unser Intimleben an? Das war naiv. Dass der Stasi-Apparat keine Tabus kennt, war mir eigentlich klar. In der Theorie. Jetzt bin ich mit der Praxis konfrontiert. Der Gedanke an die heimlichen Mitleser wühlt mich auf. Wut mischt sich mit Hilflosigkeit, Erschrecken mit Scham.
Es dauert, bis sich an diesem Tag meine Erregung legt und ich meine Fassung zurückgewinne. Ich begreife, dass ich es mit den Ergebnissen einer konspirativen Durchsuchung meines Büros in der Clara-Zetkin-Straße zu tun habe. Am 26. März 1978 sind die Experten der Hauptabteilung VIII in mein Dienstzimmer eingedrungen. In einer sorgfältig vorbereiteten Aktion, die von der Führungsspitze des Staatssicherheits-Ministeriums genehmigt worden war. Der Einbruch war ja nicht ohne Risiko. »Stellen Sie sich vor, unsere Leute wären dabei erwischt worden«, hat mir lange nach dem Ende der DDR ein ehemaliger Stasi-Offizier gesagt. »Was das für ein Aufschrei im Westen gewesen wäre.«
Das Öffnen eines gewöhnlichen DDR-Schlosses war für die Spezialisten des MfS kein Problem. Es war ein Sonntag, Ostersonntag. Vermutlich kamen sie, als es dunkel war. Wo ich war, wussten sie. Ich stand unter Beobachtung. Sie müssen sicher gewesen sein, dass sie niemand überraschen würde. Kein Büromieter der Etage, kein zufälliger Passant. Die Fahnder durchstöberten Schubladen, Schränke und Regale. Was ihnen wichtig erschien, haben sie fotografiert. Adressbücher, Kalender, Briefe, Abrechnungen. Auch Notizen für meine journalistische Arbeit. Auf manchen Seiten sind noch die in dünnen Handschuhen steckenden Finger des Menschen zu sehen, der die Dokumente unter die Kamera gehalten hat. Nichts habe ich in der Zeit danach von dem heimlichen Besuch gemerkt. Alles, was die Profis angefasst und erschnüffelt hatten, lag auf dem gewohnten Platz. Spuren haben sie nicht hinterlassen.
Drei Tage nach dem Einbruch, der auch nach DDR-Recht illegal war, hat die für die Korrespondenten zuständige Hauptabteilung II/13 die Ergebnisse der »konspirativen Durchsuchung« in einem mehrseitigen Bericht ausgewertet und zusammengefasst. Aus den Materialien in meinem Büro gehe hervor, so lese ich, dass ich die mir als Korrespondent zustehenden Befugnisse überschreite, Kontakt zu »feindlichen und politisch-negativen Kräften« sowie »sogenannten Kritikern des realen Sozialismus« suche und über »die angebliche Entwicklung einer inneren Opposition in der DDR« recherchiere. Die im Büro dokumentierten Unterlagen bestätigten ferner »die vielfältigen Verbindungen des Pragal zu solchen Bürgern der DDR, die mit rechtswidrigen Anträgen zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung in die BRD in Erscheinung getreten sind«.
Es folgt eine Aufzählung von Personen, die ich nach Ansicht der Stasi zu ihrem Begehren der freien Ausreise »inspiriert« oder sie dabei beraten habe. Als besonders wichtigen Fund der Durchsuchung werteten die Fahnder die »Riesaer Petition«. Ein Originalschriftstück mit rund 30 Namen und Adressen von Bürgern, die auf Initiative des sächsischen Arztes Karl-Heinz Nitschke unter Berufung auf die UN-Konvention über Menschenrechte die Übersiedlung in die Bundesrepublik gefordert hatten. Über mich heißt es in dem Stasi-Protokoll: »Er unterhielt persönliche Kontakte zu Mitgliedern dieser Gruppe, ließ sich umfassend über deren feindliche und negative Aktivitäten informieren und wertete diese Kenntnisse publizistisch ... in verleumderischer und diffamierender Weise gegen die DDR aus.«
Wer als West-Korrespondent im Machtbereich der DDR lebte, stand unter totaler Kontrolle des kommunistischen Geheimdienstes. Die Zimmer waren »verwanzt«, Telefongespräche wurden abgehört, Briefe geöffnet und mitgelesen, Hauspostkästen und Wechselsprechanlage kontrolliert, Kontaktpersonen registriert, Fahrten und Spaziergänge beobachtet und protokolliert. Wo immer wir waren, was immer wir machten – die Stasi hatte fast immer ein wachsames Auge auf uns. Was ich früher nur geahnt oder angenommen habe, ist in meinen Akten als »Operativer Vorgang Starnberg«, später »OV Kumpan, Teil Starnberg« auf etlichen Tausend Blatt dokumentiert.
Der Aufwand, den das MfS gegen uns »Klassenfeinde« betrieb, wirkt im Rückblick grotesk. Dass ich bei dienstlichen Fahrten in die DDR beobachtet wurde, war noch verständlich. Aber dass sich die »Firma« auch im Ost-Berliner Alltag über längere Zeitabschnitte von früh bis spät an unsere Fersen heftete, lässt sich wohl nur aus einem maßlos übersteigerten Sicherheitsdenken erklären. Sobald meine Frau und ich das Haus verließen, wurden mit akribischer Gründlichkeit über uns »Beobachtungsberichte« angefertigt.
Das liest sich so: »19.18 Uhr begab sich ›Starnberg‹ in Begleitung seiner Ehefrau Karin Pragal, welche den Decknamen ›Kobra‹ erhält, zum abgeparkten Pkw. Beide Personen fuhren auf direktem Weg zur Staatsoper. 19.37 Uhr betraten ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ die Staatsoper. Im Kassenraum begrüßte ›Starnberg‹ eine unbekannte männliche Person mit Handschlag. Diese Person erhält im weiteren Bericht den Decknamen ›Boa‹. ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ begaben sich zur Garderobe. Während der Vorstellung standen sie nicht unter operativer Beobachtung.« Aber danach. Denn im Bericht heißt es weiter: »22.16 Uhr verließen ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ die Oper, begaben sich zu ihrem Pkw und fuhren auf direktem Weg zu ihrer Wohnung, wo sie den Pkw auf dem Parkplatz abstellten und das Haus um 22.31 betraten. In der Wohnung wurde kein Licht festgestellt. Bis 24.00 Uhr trat ›Starnberg‹ nicht wieder in Erscheinung. Zu diesem Zeitpunkt wurde die operative Beobachtung unterbrochen.«
In der Regel habe ich von der Oberservierung nichts gemerkt. Wenn ich doch mitbekam, dass ich verfolgt wurde, dann war dies von Stasi-Leuten beabsichtigt. Es gab westliche Diplomaten und Berufskollegen, die versucht haben, potenzielle Verfolger abzuhängen. Ich habe von solchen Spielereien nichts gehalten. Aber aus den Akten weiß ich, dass ich es meinen Beschattern auch ohne Absicht nicht leicht gemacht habe. Am 4. März 1978 waren die Beobachter wieder einmal in Ost-Berlin hinter mir her. Laut Protokoll passierte um 11.23 Uhr Folgendes: »In der Ho-Chi-Minh-Straße wendete ›Starnberg‹ verkehrswidrig und fuhr in Richtung Frankfurter Allee. Dabei geriet er aus verkehrstechnischen Gründen außer Kontrolle.« Sie hatten mich aus den Augen verloren.
Eines Tages hatte es meine Frau satt, dass Kollegen aus der Münchner Redaktion tagsüber bei uns zu Hause anriefen und wissen wollten, wo ich gerade sei. »Das weiß ich doch nicht«, sagte sie. »Wenn er nicht im Büro ist, dann hat er einen Termin.« Manchmal fügte sie noch provozierend hinzu: »Vielleicht ist er auf der Toilette oder bei seiner Freundin.« Als ich abends in unsere Wohnung kam, meinte sie, der Verlag müsse mir endlich einen Anrufbeantworter für mein Büro besorgen. Dann würden die lästigen Anrufe in der Privatwohnung wohl aufhören. Ich war schon drei Jahre in Ost-Berlin und hatte mehrfach in München auf die Notwendigkeit einer technischen Neuanschaffung zur Verbesserung der Kommunikation hingewiesen.
Beim Besuch eines Verlagsmanagers trug ich erneut mein Anliegen vor und fand bei ihm Verständnis. Dann erkundigte ich mich beim Dienstleistungsamt, was außer einer Zolleinfuhr-Genehmigung für die Installation nötig sei. »Da stellen Sie mal einen Antrag«, sagte ein Sachbearbeiter, »und dann geht die Sache schon klar.« Das Verfahren sei ähnlich wie beim Telefon. Außerdem müsse ich mit ein paar Mark Gebühren rechnen. Obwohl ich die verlangte Formalität rasch erledigte, zog sich die Angelegenheit hin. Das Gerät sei in der DDR unbekannt, erklärte der Sachbearbeiter. »Wir brauchen noch die technischen Unterlagen.« Neben der Bedienungsanleitung benötige die Post auch die Schaltpläne. Ich lieferte die gewünschten Unterlagen. Aber auch dann rührte sich nichts. Schließlich wurde ich aufgefordert, das Gerät zu einer technischen Prüfung zur Verfügung zu stellen. »Nur für ein paar Tage.«
Nach etwa zwei Wochen bekam ich den Anrufbeantworter zurück. Verbunden mit dem Hinweis, dass