Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR. Peter Pragal
technisches Wissen aus dem Westen verschafft. Dafür auch noch Geld zu verlangen, sei eine Zumutung. Auf den Anschluss des Gerätes musste ich weiter warten. Fast hatte ich die Hoffnung aufgegeben, den Anrufbeantworter in meinem Büro nutzen zu können, da bekam ich einen Anruf, die Sache gehe in Ordnung. Am nächsten Tag kam ein Techniker und schloss das Gerät an. Von einer Rechnung war nicht mehr die Rede. Den wahren Grund für die Verzögerung habe ich später erfahren. Vor mir hatte ein Korrespondenten-Kollege in seinem Ost-Berliner Büro einen Anrufbeantworter installieren lassen, der es ermöglichte, die gespeicherten Gespräche auch von auswärts abzuhören, etwa aus Hamburg oder Berlin (West). Das rief die Stasi auf den Plan. »Die haben hier rotiert«, sagte mir ein Eingeweihter. Man vermutete wohl bei meinem Gerät eine ähnliche Funktion und inspizierte sein technologisches Innenleben. Die Enttäuschung hätten sich die DDR-Experten sparen können. Mit einer Fernabfrage konnte ich nicht dienen.
Immer unter Kontrolle zu sein – das war für manche der in Ost-Berlin lebenden Westler auf Dauer schwer zu ertragen. Wenigstens im Urlaub wollten sie das Gefühl der Freiheit genießen. Möglichst weit weg von der DDR, der Stasi und ihren Spitzeln. Verständlich, dass der eine oder andere sich an die Stirn tippte, als wir ihnen erzählten, wir blieben auch in unseren Ferien im Lande. Mal an der Ostsee, mal in märkischen Gefilden. Etwa in Menz am Roofensee, wo das Dienstleistungsamt für Diplomaten und »bevorrechtigte Personen« ein »Ferienobjekt« unterhielt und gegen Valuta Häuser vermietete. Auch dort hatte die »Firma« ein sorgsames Auge auf uns.
Kaum hatten wir das Haus 3 an einem Tag Ende Juni 1988 für zwei Wochen bezogen, da begannen die Mitarbeiter der Potsdamer Bezirksverwaltung ihre Aktion »Blitz«. Die Wände im »Objekt Wüste« waren mit Abhöranlagen präpariert. Der Genosse von der Auswertung war informiert. Und ein IM schickte sich an, unseren Tagesablauf zu kontrollieren und in einem »Zeitfilm« festzuhalten. »Im Verlaufe der Nacht keine Bewegungen«, notierte er handschriftlich morgens um 8 Uhr. Um 9.45 war immer noch »Ruhe im Haus. Pkw und Fahrräder stehen vor der Tür«. Der IM blieb wachsam: »11.35 Waldlauf von ihm allein. Zu 19.30 wurde die Sauna bestellt.«
Tag für Tag schrieb er auf, was er beobachtete. Seite um Seite. Mit genauer Zeitangabe. Ein Sammelsurium von Banalitäten. Als DDR-Freunde telefonisch für das Wochenende ihren Besuch ankündigten, war IM »Peter« rechtzeitig auf Posten. »Um 10.38 Uhr begab sich der Pragal zu Fuß in Richtung Toreinfahrt des Geländes«, schrieb er ins Protokoll. »Hier zeigte er Warteverhalten.« Die Besucher kamen eine Stunde später. »Die männliche Person trug eine Kollegmappe, die weibliche Person einen Blumenstrauß.« Als gewissenhafter Spitzel notierte er sich auch Farbe und polizeiliches Kennzeichen des Autos vom Typ »Trabant«, mit dem unsere Freunde gekommen waren.
Um auf dem Laufenden zu bleiben, ließ ich mir die Tageszeitungen zustellen, die ich sonst in mein Büro bekam. Blätter aus dem Westen und aus der DDR. Ein Kurier brachte sie jeden Morgen nach Menz. Nach dem Frühstück lasen wir ausgiebig in den Gazetten. Ohne dabei viel zu reden. Manchmal, wenn mir bei der Lektüre etwas Interessantes auffiel, las ich es meiner Frau vor. »Hör mal, was sich Leipziger Schüler gegen das Rauchen haben einfallen lassen. Das wird dir gefallen.« So steht es wörtlich in einem Protokoll, in dem unsere Unterhaltung auf Tonband aufgezeichnet und später abgeschrieben worden ist. Der nächste Satz in der Abschrift lautet: »Papierknistern. Etwas später sagt sie: ja.«
Bei seinem Drang, mich auszukundschaften, beschränkte sich das Staatssicherheits-Ministerium nicht auf das eigene Territorium. Es dehnte seine Observierung auf das »Operationsgebiet« Berlin-West aus. Im Falterweg in Charlottenburg hatten wir – anders als in den siebziger Jahren, in denen wir ausschließlich in Ost-Berlin lebten – nach meiner Rückkehr aus Bonn neben meiner Ost-Berliner Dienstwohnung in der Leipziger Straße einen zusätzlichen Wohnsitz genommen. Wir dachten dabei vor allem an unsere Kinder, die inzwischen in einem Alter waren, das schulische Experimente im realen Sozialismus verbot.
Im Frühjahr 1985 setzte das MfS einen Agenten in Marsch, um die Örtlichkeiten »aufzuklären«. Zwar stand unser Name nicht im West-Berliner Telefonbuch, aber der Stasi war die neue Adresse bekannt. Die Ausbeute des Kundschafters war mager. Und einer der Hellsten schien er auch nicht gewesen zu sein. Er konnte sich während seiner halbstündigen Beobachtung nicht einmal die richtige Zahl merken und übermittelte eine falsche Hausnummer. Ein Studentenwohnheim in unserer Nachbarschaft hielt er für ein »Aufnahmelager für polnische Bürger«. In seinem Bericht an die Hauptabteilung II/13 kam er zu dem Schluss, dass Pragals ein für die Zwecke der Stasi-Observierung ungeeignetes Haus gemietet hatten. Der Falterweg sei eine Sackgasse. »Da es sich um eine reine Wohngegend ohne jede Geschäfte handelt, ist eine direkte, längere Beobachtung des Hauses nicht möglich.« Ferner sei zu beachten, »dass es in dieser Gegend kaum Fußgänger gibt«.
Diese Auskunft hinderte die Hauptabteilung II/13 nicht daran, Stasi-Kollegen bei einem späteren Anlass um Amtshilfe zu bitten. Durch »inoffizielle Hinweise« hatten meine Aufpasser mitbekommen, dass ich den Leiter der Ständigen Bonner Vertretung, Hans-Otto Bräutigam, meinen damaligen Chefredakteur Rolf Winter und den Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel zu einem Abendessen in unsere Charlottenburger Wohnung eingeladen hatte. Zur Adresse im Falterweg, so heißt es in einem Schreiben an die zuständige Diensteinheit, seien bereits Ermittlungen geführt worden. »Es wird um die Einleitung von operativen Kontrollmaßnahmen zur Feststellung weiterer Teilnehmer (genutzte Pkw) gebeten.«
Im Sommer 1984 habe ich meine Familie mit einem Urlaubsplan überrascht. Ich wollte an die polnische Ostseeküste. Nach Kolberg, das heute Kolobrzeg heißt. Ich war dort während des Krieges mit meiner Mutter zu einem kurzen Urlaub. Ich meinte, mich an den warmen, gepflegten Sandstrand der hinterpommerschen Küste erinnern zu können. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Jedenfalls zog es mich in nostalgischer Verklärung dahin. Meine Frau und meine Kinder willigten ein, skeptisch und ohne Begeisterung. Über ein West-Berliner Reisebüro buchte ich einen 14-tägigen Aufenthalt im Orbis-Hotel »Solny«. Meine Reiseabsicht blieb der Stasi nicht verborgen. Sie vermutete, der Urlaub sei nur Tarnung. In Wahrheit wolle ich in der damaligen Volksrepublik Polen über die aktuelle politische Lage Informationen einholen. Jedenfalls wurde der polnische Geheimdienst vor mir gewarnt. Pragals Aufgabenstellung, so lese ich in einer Aktennotiz des MfS, bestehe in der »Eigenerkundung zum Stand des Einflusses von Solidarnošč und der Stabilität der inneren Lagebedingungen in der VRP«. Um Übermittlung und Einleitung geeigneter Kontrollhandlungen werde gebeten.
Unser Urlaub war ein Reinfall. Das Wetter war schlecht, die Ostsee kalt, der Hotelservice mies, und die Kinder langweilten sich. Drei Wochen nach unserer Abreise beantwortete die Geheimdienst-Zentrale in Warschau das Auskunftsersuchen des ostdeutschen Bruderdienstes. Der polnische Offizier Z. Wasilewski berichtete, dass wir Kontakt zu einem polnischen Ehepaar aufgenommen hätten, das uns ein Bekannter aus Ost-Berlin empfohlen hatte. Der überaus gastfreundliche Mann war kein Solidarnošč-Anhänger, sondern Kommunist und ehemaliger Offizier. Was dann in dem Schreiben folgt, dürfte die Stasi enttäuscht und ernüchtert haben: »Der Aufenthalt von Pragal in Kolobrzeg hatte typischen Erholungscharakter. Eine Kontaktaufnahme mit Personen, die uns interessieren, wurde nicht festgestellt.«
Nachbarn, Freunde und Bekannte
»Wir gehen ins Kino, wollt ihr mit?« Was denn gezeigt werde, wollten wir von unseren Ost-Berliner Freunden wissen. »1900«, von Bernardo Bertolucci. Den Film hatten wir noch nicht gesehen. Wir baten die Frau des Hausmeisters, auf unsere Kinder aufzupassen, setzten uns ins Auto und fuhren zum »Toni« am Antonplatz im Stadtbezirk Weißensee. Das Epos über die Auseinandersetzung zwischen Faschisten und Kommunisten in Italien wühlte uns auf. Wir fuhren gemeinsam nach Hause, um darüber zu diskutieren. Sie wundere sich, dass dieser Film überhaupt in der DDR gezeigt werde, sagte meine Frau. Unsere Freunde schauten sie erstaunt an. Wieso, fragten sie. Der Regisseur sei bekennender Marxist und zeige die Brutalität und Menschenverachtung der Faschisten. »Eben darum«, beharrte meine Frau. »Das ist doch wie hier.« Auch die DDR sei ein Polizeistaat, in dem die Menschenrechte verletzt würden. Unsere Freunde protestierten heftig.
Sie waren nicht in der SED und standen dem Regime kritisch gegenüber. Aber diesen Vergleich wollten sie nicht zulassen. Er provozierte sie. Sie waren »im antifaschistischen Geist« erzogen. Und danach waren Kommunisten – historisch betrachtet – nicht Täter, sondern