Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR. Peter Pragal
später auch die Zeitung mit. Von da an kam er täglich. Und wenn er ging, hatte er eine Lektüre in der Tasche, die ihm sonst nicht zugänglich war.
Der grün uniformierte Volkspolizist, der auf einer Ost-Berliner Straßenkreuzung den Verkehr regelte, bemühte sich gar nicht erst um Höflichkeit. »Steig ab, fahr rechts ran und warte, bis ich komme«, herrschte er einen Jugendlichen an, der in den Augen des Ordnungshüters mit seinem Mofa ein wenig zu flott um die Kurve gefahren war. Doch der junge Mann, der mit vielen Gleichaltrigen das Schicksal teilte, von der Polizei besonders schikaniert zu werden, verhielt sich anders als erwartet. »Erstens haben Sie nicht du zu mir zu sagen, zweitens bleibe ich sitzen, und drittens werde ich gleich weiterfahren«, sagte der Mofa-Fahrer. Dem Volkspolizisten verschlug es die Sprache. Bevor er darüber nachdenken konnte, wie er diesem Angriff auf seine Autorität begegnen sollte, zeigte der junge Mann, Sohn eines befreundeten Mitarbeiters der Ständigen Bonner Vertretung, seine rote Diplomatenkarte. »Entschuldigung, konnte ich ja nicht wissen«, murmelte der Uniformierte und ging schnell auf die andere Straßenseite.
Die Konfrontation mit Menschen, die ihnen selbstbewusst begegneten, muss für die Vertreter der Staatsmacht ein Schock gewesen sein. Bisher waren sie gewohnt, dass sich Bürger ihres Staates bei geringsten Verstößen gegen die Regeln von Disziplin und Ordnung devot verhielten. Jetzt hatten sie es ab und zu mit Leuten zu tun, die sich ihren barschen Ton verbaten und sich nicht einfach abkanzeln ließen. Oder sich so benahmen, wie es in ihren westlichen Heimatländern üblich war. Im Bewusstsein, dass ein Polizist für die Bürger da ist. Oder zumindest da sein sollte. Zum Beispiel, indem man mitten auf der Kreuzung neben einem Verkehrspolizisten anhielt, die Scheibe der »Ente« hochklappte und sich höflich erkundigte, wie man am schnellsten an einen bestimmten Ort kommen würde. »Was habt ihr gemacht?«, haben uns ungläubig DDR-Freunde gefragt, als wir ihnen diese Episode erzählten. Unser Verhalten war nach DDR-Regeln ungebührlich. Sie selbst hatten eine andere Praxis verinnerlicht: Auto am Straßenrand abstellen, zu Fuß zum Polizisten gehen und in Demutshaltung um Auskunft bitten oder – falls man etwas falsch gemacht hat – sich einen mündlichen Verweis abholen. Dieses Verhalten war für uns schwer verständlich, weil die »Grünen«, wie man in der DDR Volkspolizisten nannte, in der Gesellschaft eher gering geschätzt wurden. Man machte sich, wie zahlreiche Witze belegen, gern über sie lustig. Frage: Warum treten Volkspolizisten häufig als Paar auf? Antwort: Weil sie nur zu zweien ihre zehn Klassen Oberschule zusammenkriegen. Oder: Was ist, wenn es keine Ökonomen mehr gibt? Dann sind die Volkspolizisten wieder die Dümmsten.
Dass wir in einen Obrigkeitsstaat geraten waren, bei dem sich preußisch-wilhelminische Traditionen mit sozialistischer Bevormundung mischten, haben wir vom ersten Tage an gemerkt. In Gaststätten, wo Gäste am Eingang stehen gelassen wurden, bis ein Kellner nach längerer Wartezeit sie gnädig an einem der vielen freien Tische platzierte. In Kulturhäusern, wo Besucher auf Hinweistafeln ermahnt wurden, in »einwandfreier Kleidung« zu erscheinen. In Rathäusern, wo man vom Pförtner barsch angefahren wurde, wenn man nicht unaufgefordert seinen Ausweis zeigte. Wer ständig nach oben buckeln muss, neigt dazu, andere seine kleine Macht spüren zu lassen. Vielleicht war es ja Zufall, aber Rentner sind uns besonders häufig als Besserwisser und Rechthaber aufgefallen. Irgendwann haben wir mit unseren Kindern in einer Grünanlage gespielt. »Gehen Sie runter, das ist verboten«, herrschten uns Veteranen an, die auf einer Bank saßen. Wir waren in keinem Park mit einem gepflegten Rasen, wo man Einschränkungen akzeptieren konnte, sondern auf einer gewöhnlichen Wiese am Rande des Weißen Sees, nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Meine Frau und ich sahen uns an. Als Studenten hatten wir in München erlebt, wie uns berittene Polizisten von den Wiesen des Englischen Gartens vertreiben wollten. Immer wieder hatten wir ihre Aufforderungen ignoriert, bis die kommunale Obrigkeit irgendwann aufgab und uns gewähren ließ. Und jetzt sollten wir uns diesen zänkischen Alten beugen? Wir überhörten ihr Gezeter und spielten weiter mit unseren Kindern.
Am Wochenende fuhren wir hinaus aus dem Häusermeer ins Brandenburgische. Unser Auto war inzwischen in der DDR zugelassen. Die Buchstaben QA auf dem Kennzeichen symbolisierten den Status als akkreditierter Korrespondent. Die Ziffer 57 stand für Bundesrepublik Deutschland. Jeder Staat, der in Ost-Berlin eine diplomatische Mission unterhielt, hatte eine spezielle Kennziffer. Geordnet nach der zeitlichen Reihenfolge, in der die Beziehungen aufgenommen worden waren. Jeder Volkspolizist wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte. Immerhin wurden wir an der Stadtgrenze zwischen der »Hauptstadt« und der DDR nicht angehalten und kontrolliert, wie das in unserer Anfangszeit mit Personen in Autos aus West-Berlin oder der Bundesrepublik geschah.
Wir fuhren über Straßen, die von mächtigen Laubbäumen dicht gesäumt waren. Ihre Kronen berührten sich und bildeten ein Dach, unter dem wir uns bewegten. Wir freuten uns an dem ungewohnten Anblick. Wenn wir in Westdeutschland unterwegs waren, konnte man oft nicht erkennen, wo eine Gemeinde aufhörte und wo eine andere begann. Die Landschaft war zersiedelt. Hier, in der DDR, war ein Dorf noch ein Dorf. Und dazwischen Felder, Wälder und Wiesen. Manchmal holperten wir über Kopfsteinpflaster. Wir dachten an unsere begradigten, zu Schnellpisten ausgebauten Straßen in der Bundesrepublik, an denen man Bäume gefällt hatte, weil sie ein Sicherheitsrisiko darstellten. Hier sah es noch so aus wie in der Zeit vor dem Krieg. Vermutlich hätten die SED-Regenten die Verbindungswege auf ihrem Territorium gern nach westdeutschem Muster modernisiert. Dass dies nicht geschah, war weniger ihrer Liebe zur Natur geschuldet als dem Mangel an Arbeitskräften und Material.
Was wir bei unseren Ausflügen wahrnahmen, erinnerte uns häufig an die eigene Kindheit in den Nachkriegsjahren. In den Gärten von Freunden kam das Wasser nicht aus der Leitung, sondern aus einer Pumpe. Für unsere Kinder, die nackt umhersprangen, war das ein Erlebnis. Auch die Erwachsenen waren in ihrem Verhalten ungezwungen. Viele badeten in den Seen ohne Badehose und Badeanzug. FKK war weit verbreitet. Als nach dem Ende der DDR unter dem Einfluss westdeutscher Kurdirektoren die Freizügigkeit des Nacktbadens an der Ostsee wieder eingeschränkt wurde, liefen viele Einheimische gegen die neue Bevormundung Sturm.
Und noch etwas fiel uns bei unseren Erkundungstouren auf. An Halteplätzen der Landstraßen standen mitunter Dörfler und boten Früchte aus ihrem Garten zum Kauf an. Äpfel, Birnen und Beeren. Frisch geerntet und in der Regel ungespritzt. Wir genossen den ursprünglichen Geschmack. Auch Pilze wurden offeriert. In den Kaufhallen hätte man wohl vergeblich danach gesucht. Wir gewöhnten uns daran, dass in der sozialistischen Mangelgesellschaft das Warenangebot der jeweiligen Jahreszeit entsprach. Kohl im Winter, Kirschen im Sommer, Pflaumen im Herbst. Apfelsinen, die für Devisen importiert werden mussten, spendierte die Obrigkeit ihren Untertanen meistens nur zu Weihnachten.
DDR-Bürger beneideten die Westdeutschen um ihren kulinarischen Überfluss. Wir dagegen fanden, dass sich die Ostdeutschen – wenn auch nicht freiwillig – ein Gefühl für den natürlichen Rhythmus des Jahres und der Natur bewahrt hatten. Weil nicht alles, wie in den westlichen Ländern, zu jeder Zeit verfügbar war. Etwa frische Erdbeeren im Winter – eingeflogen aus dem Süden. Werden Freude und Genuss nicht gedämpft, wenn sie immer zu haben sind? Waren die Menschen in der DDR, ohne dass ihnen dies bewusst war, wegen des allgegenwärtigen Mangels vor Übersättigung geschützt? Wir behielten solche Überlegungen für uns, aus Sorge, wir könnten für zynisch oder elitär gehalten werden. Im Dezember brachte meine Frau aus West-Berlin frische Blumen mit, die es in Ost-Berlin nicht gab. Eine DDR-Nachbarin kam zu Besuch. Sie sah den Strauß und sagte: »Rote Tulpen unter dem Adventskranz. Das ist ja pervers.«
Immer unter Kontrolle
Am 6. Juli 1993 sitze ich in einem Raum der Stasi-Unterlagenbehörde und lese in meinen Akten. Stunde um Stunde arbeite ich mich durch die Berge von Papier. Wie schon am Tag zuvor. Viele Opfer der SED-Diktatur haben sich vor diesen Stunden der Wahrheit gefürchtet. Die Vorstellung, jemand aus ihrem Verwandten- und Freundeskreis könnte sie bespitzelt haben, hat ihnen schon vor der Konfrontation mit den Aufzeichnungen schlaflose Nächte bereitet. Mir nicht. Ich bin vorbereitet und ohne Illusionen. Neugierig bin ich, das ja. Neugierig auf das Material, das Erich Mielkes Leute über mich gesammelt haben. Doch im Gegensatz zu DDR-Bürgern fühle ich mich nicht als Opfer, eher als publizistischer Gegenspieler der untergegangenen Staatsmacht.
Was ich über Inoffizielle Mitarbeiter bei der Lektüre erfahre, regt mich nicht sonderlich auf. Echte Freunde sind es nicht gewesen, die auf mich angesetzt