Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck

Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck


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dauert bis in die Gegenwart an (vgl. Dupâquier 1983; Eger 1985; Turner 1986; Brandenberger 2004; Doering 2005 u. a.). Stichworte dieser heftigen, bisweilen giftigen Debatte sind: malthusianische Falle, Bevölkerungsfalle, Verelendungswachstum, Geburtenüberschuss, Geburtenkontrolle, Grenzen des Wachstums, Hungersnot usw. Vielen erscheinen seine Thesen als überzeugender Beweis für die soziale Kälte und Unmenschlichkeit eines rein auf Nutzen ausgerichteten egoistischen Denkens, das für Kapitalisten typisch sei.

      „Die Gegner von Malthus haben das Werk zum Teil offensichtlich nie in der Hand gehabt, und es gibt in der Neuzeit wohl keinen zweiten Gesellschaftstheoretiker, dessen Aussagen so verkürzt, einseitig und verfälscht worden sind“ (Eger 1985).

      Malthus hat mit seinen pessimistischen und – im Grunde – sehr anspruchsvollen Thesen in jedem Fall eine intensive Auseinandersetzung über das Problem der Bevölkerungsvermehrung und die sozio- ökonomische Situation der Armen in der industriellen Gesellschaft und in der Welt erzwungen. Sehr ausführlich hat sich in der Tradition der Sozialen Arbeit Christian Jasper Klumker mit Malthus und seinen Thesen auseinandergesetzt (vgl. 2.3). Hans Scherpner (vgl. 3.2) hat sich in seinem Buch „Theorie der Fürsorge“ ebenfalls mit den Armutsthesen von Malthus befasst (vgl. Scherpner 1974, 114–118).

      Das Bevölkerungsgesetz von Malthus hat sich im Sinne eines mathematisch exakten Gesetzes als Irrtum herausgestellt. Die Diskussion über das Bevölkerungswachstum in der Welt und fehlende Nahrungsmittelressourcen ist heute jedoch intensiver und existenzieller als in der Zeit, in der Malthus gelebt hat. Die Frage, ob Arme vom Staat unterstützt werden sollen und, wenn sie unterstützt werden sollen, in welcher Höhe diese Unterstützung geleistet werden soll beziehungsweise kann, gehört zu den umstrittensten sozialpolitischen Problemen in vielen Staaten der Welt, nicht nur in Deutschland. Unter der Überschrift „Stehplatz für Milliarden?“ hat Theo Sommer anlässlich der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 geschrieben, dass Malthus sich in der Begründung seiner Ideen zwar geirrt haben möge, das Problem aber richtig erkannt habe.

      „Heute steht die Weltgemeinschaft unausweichlich vor der Frage, ob sie die Begrenzung der Erdbevölkerung Kriegen, Hungerkatastrophen und Plagen wie HIV/Aids überlassen will, oder ob sie lieber durch konsequente Familienplanung und Entwicklungspolitik versucht, dem Gebot demographischer Selbstbegrenzung zu folgen“ (Sommer 1994).

      In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern wächst seit Jahrzehnten die Bevölkerung stark. Dank der verbesserten Gesundheitsversorgung und Ernährungslage leben die Menschen länger. Geringere Sterberaten und höhere Geburtenraten werden für wirtschaftliche Notstände verantwortlich gemacht. In manchen Ländern wie beispielsweise China wird mit den schon von Malthus empfohlenen Instrumenten dagegen vorgegangen: Geburtenkontrolle und Bildungsförderung in den unteren Gesellschaftsschichten.

      Unter dem Namen von Malthus werden mitunter aber auch Auffassungen diskutiert, die Malthus selbst abgelehnt hat. So fordert der Neomalthusianismus beispielsweise, dass die Bevölkerungsvermehrung durch die Anwendung empfängnisverhütender Mittel und durch die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs eingeschränkt werden soll. Beides hat Malthus jedoch scharf abgelehnt; da folgt er als Pfarrer ganz und gar der Lehre seiner Kirche.

       6.7 Literaturempfehlungen

      „Hat Malthus doch recht gehabt?“ – Unter dieser Überschrift hat Gudrun Eger die Aktualität des ihrer Meinung nach bekanntesten Gesellschaftstheoretikers nach Marx reflektiert (Eger 1985). Angesichts der Bedeutung der von Malthus benannten und behandelten Probleme einerseits und der zumeist selektiv-verkürzten Rezeption seiner Ausführungen andererseits ist es angezeigt, seine beiden Hauptwerke selbst zu lesen. „An Essay on the Principle of Population“ (Malthus 1798) liegt auch in deutscher Übersetzung vor (Malthus 1977). Leider ist das Buch vergriffen und soll nach Auskunft des Verlages nicht wieder aufgelegt werden. Das zweite Hauptwerk „Principles of Political Economy: Considered with a View to their Practical Application“ (Malthus 1820) liegt als Reprint vor (VDM Verlag Dr. Müller 2006). Neuere Auseinandersetzungen mit den Theorien von Malthus sind vornehmlich im Kontext der Diskussionen über das Bevölkerungswachstum zu finden (vgl. Dupâquier 1983; Eger 1985; Turner 1986; Winkler 1996; Ferdinand 1999; Brandenberger 2004 u. a.).

       7 Hütten der Liebe bauen

       Johann Hinrich Wichern (1808 – 1881)

      „Wicherns pädagogische, vor allem aber seine missionarischen und sozialpolitischen Ideen und Aktivitäten zogen über Hamburg hinaus Kreise und gaben 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag den Anstoß zur Gründung der ‚Inneren Mission‘, dem Vorläufer alles dessen, was heute als Diakonie bekannt ist“ (Stiftung Das Rauhe Haus 2008).

       7.1 Historischer Kontext

      Wichern nimmt die soziale, wirtschaftliche und politische Umbruchssituation seiner Zeit, des 19. Jahrhunderts, aufmerksam wahr. In diesem Jahrhundert der Restauration und der Reformen ist die Bevölkerung in Europa zahlreichen Kriegen (z. B. Napoleons Feldzüge, Befreiungskriege, nationale Erhebungen, Bauernaufstände, Revolutionen, Deutsch-Französischer Krieg, Deutsch-Dänische Kriege u. a.) und deren brutaler Zerstörungsmaschinerie ausgesetzt. Die beginnende Industrialisierung hat darüber hinaus tief greifende Auswirkungen auf viele Bevölkerungsschichten; sie gefährdet durch neue Manufakturen und die ersten Industriebetriebe das Handwerk. Maschinen ersetzen Menschen, Menschen müssen effektiver als bisher arbeiten. Oft genügt auch das nicht, und Frauen und Kinder arbeiten mit, um das Nötigste zum Überleben zu haben. Durch die Bauernbefreiung kommt es zu Umwälzungen in der Landwirtschaft. Viele Landarbeiter suchen nach neuen Arbeitsstellen in den immer größer werdenden Städten. Auch die Handwerker sind von Arbeitslosigkeit durch die große Konkurrenz von Fabriken und Manufakturen bedroht. In den Städten kommt es zu einem Überangebot an Arbeitskräften und dadurch zu sinkenden Löhnen. Es entwickelt sich ein verarmtes Stadtproletariat. Die Arbeiter sind deklassiert und politisch sowie gesellschaftlich weitgehend rechtlos. Sie haben kaum soziale Absicherungen, und nur wenige Gesetze dienen den Arbeitern zum Schutz ihrer Gesundheit und ihres Lebens. Die traditionellen Strukturen der Großfamilie, also das Leben aller Generationen (auch der Knechte, Mägde und Tagelöhner) unter einem Dach, zerbrechen. Die Bevölkerung wächst zudem noch sprunghaft an, was die wirtschaftlichen und sozialen Probleme verstärkt.

      Das Familienleben ist nicht intakt, die Menschen haben keine geregelte Arbeit, es fehlt an allgemeiner Bildung, die religiösen und kirchlichen Bindungen sind gerade bei den Armen zerbrochen. Not und Armut beherrschen vor allem die soziale Unterschicht. Wohnungsknappheit und schlechte Wohnverhältnisse, bei denen mehr als zehn Personen in einem Raum wohnen, sind in den Großstädten keine Seltenheit. Die Kinder fliehen aus der Enge auf die Straße. Es kommt zum Straßenkinderdasein mit den Begleiterscheinungen von Alkoholismus, Bettelei und Kleinkriminalität. Aus Not werden viele kriminell. Aus diesem Grund sitzen 1833 in Hamburg 250 Kinder im Gefängnis.

      Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gibt es soziales Engagement für Arme und Verlassene ohne unmittelbare Motivation aus dem christlichen Glauben. Die Notwendigkeit vermehrter kirchlicher Fürsorge für die Armen und Verkommenen drängt sich aber in Deutschland den von der protestantischen Erweckungsbewegung erfassten Kreisen auf, die sich nach den Befreiungskriegen in größeren Städten und gewerbereichen Gegenden einer verarmten und gleichzeitig der Kirche entfremdeten Bevölkerung gegenübergestellt finden. Anregende Vorbilder gibt es in England und Schottland. Die Gründung von Rettungshäusern für die verwahrloste Jugend 1813 durch Johannes Daniel Falk in Weimar und 1816 durch Adalbert von der Recke-Volmerstein in Overdyk und Düsselthal sowie die Stiftung der Bildungsanstalt für Armenschullehrer 1820 auf Schloss Beuggen bei Basel sind die ersten bemerkenswerten Schritte auf diesem Weg im deutschsprachigen Raum.

      Als Wichern geboren wird, ist Horn ein Dorf mit 600 Einwohnern, sechs Kilometer vor den Toren Hamburgs, das damals etwa 100.000 Einwohner hat. Der Senatssyndikus


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