Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck

Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck


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Gestalt das Menschengeschlecht heimsuchen muss. Die Laster der Menschheit sind eifrige und fähige Handlanger der Entvölkerung. Sie stellen die Vorhut im großen Heer der Zerstörung dar; oftmals vollenden sie selbst das entsetzliche Werk. Sollten sie aber versagen in diesem Vernichtungskrieg, dann dringen Krankheitsperioden, Seuchen und Pest in schrecklichem Aufgebot vor und raffen Tausende und Abertausende hinweg. Sollte der Erfolg immer noch nicht vollständig sein, gehen gewaltige, unvermeidliche Hungersnöte als Nachhut um und bringen mit einem mächtigen Schlag die Bevölkerungszahl und die Nahrungsmenge der Welt auf den gleichen Stand“ (a. a. O., 67 f.).

      Not und Elend sind für Malthus letztlich die einzigen wirksamen Mittel, eine bereits begonnene Bevölkerungszunahme aufzuhalten. Das Problem wird so zwar nicht wirklich gelöst, doch die Spannung wird etwas vermindert. Malthus folgert daraus, dass Not und Elend der Massen ökonomisch-ökologisch gesehen für den Erhalt der menschlichen Gesellschaft notwendig sind und nicht durch eine wirtschaftliche Unterstützung der Armen beseitigt werden dürfen.

      (3) Eine theologische Begründung für Not und Elend in der Welt: Der anglikanische Pfarrer Malthus findet aber noch eine andere – theologische – Begründung dafür, dass die Existenz von Not und Elend in der Welt berechtigt sei. Damit beantwortet er Fragen, die von Menschen angesichts des Leids in der Welt (Theodizeefrage) immer wieder neu gestellt werden. Seine Erklärung ist: Die Natur darf nicht aus der Fantasie über einen unendlich mächtigen Gott angesehen und bewertet werden. Gott ist – frei von allen Vorstellungen und Fantasien – aus den tatsächlichen Ereignissen in der Natur zu erschließen. Die Natur, das heißt die konkret erfahrbare Welt und das Leben, wird von Malthus als ein machtvoller Prozess Gottes angesehen, der nicht der Prüfung des Menschen, sondern der Schöpfung und Gestaltung des Geistes dient. Dieser Prozess ist notwendig, um träge und chaotische Materie, die das Ergebnis des Sündenfalls ist, zum Geist zu erwecken und zu himmlischer Freude zu führen. Die Ursünde des Menschen besteht nach Malthus nämlich in seiner Trägheit und Verderbtheit, und der Mensch entstammt einer chaotischen Materie. Aus diesem theologischen Blickwinkel sieht und rechtfertigt Malthus Not und Elend in der Welt.

      Auf die Frage „Wie kann Gott das Elend der Menschen und das Sterben der Kinder in seiner Schöpfung zulassen?“ antwortet Malthus: Das Elend gibt es in der Welt, um Tätigkeit hervorzurufen und keine Verzweiflung. Deshalb brauchen sich die Menschen dem Elend und der Not aber nicht geduldig zu unterwerfen, sondern sie müssen sich anstrengen, um sie zu vermeiden. Not und Elend sind für Malthus in der Welt unbedingt notwendig, weil sie allein den Menschen zur Arbeit antreiben. Der Mensch ist von Natur aus faul und träge; er arbeitet nur, wenn Not und Gefahren ihn bedrohen. Not und Elend treiben die Entwicklung der Menschheit voran und garantieren den Fortschritt. Sie sind unter Berücksichtigung der Entwicklung der ganzen Menschheitsgeschichte etwas Gutes, denn ohne sie gäbe es keine Entdeckungen und Erfindungen. Es liegt nicht nur im Interesse jedes Einzelnen, es ist vielmehr jedermanns Pflicht, sich der äußersten Anstrengung zu befleißigen, um das Übel von sich selbst und von seiner Umgebung, soweit er sie nur beeinflussen kann, fernzuhalten. Je mehr der Mensch der Ausübung dieser Pflicht obliegt, desto klüger richtet er seine Bemühungen aufs Ziel, und je erfolgreicher seine Bemühungen sind, desto wahrscheinlicher wird er seinen eigenen Geist stärken und erheben und umso vollständiger den Willen seines Schöpfers erfüllen (vgl. a. a. O., 170).

      Leid und Not sind für Malthus außerdem notwendig, um die Herzen der Menschen empfindungsfähiger und menschlicher zu machen, das soziale Mitgefühl zu wecken, all die christlichen Tugenden zu entfalten und Spielraum für die umfassenden Bemühungen der Nächstenliebe zu geben. Der Antrieb aus einem sozialen Mitgefühl lässt oftmals hochrangige Menschen entstehen. Gott lässt Not und Elend nicht nur zu, sondern er hat ihnen einen festen Platz und eine wichtige Funktion in seiner Schöpfung gegeben (vgl. a. a. O., 143–170).

      (4) Sozialpolitische und sittliche Forderungen: Mit seiner wirtschaftlichen und theologischen Begründung des Elends und der Not der vielen Armen und Schwachen rechtfertigt Malthus die Gesellschaftsordnung seiner Zeit einschließlich der realen Verteilung der Güter und der Aufspaltung der Bevölkerung in Reiche und Arme. Sozialen Reformen jeder Art spricht er, da sie nach seiner Meinung ja der Naturgesetzlichkeit des Bevölkerungsgesetzes widersprechen, jede Aussicht auf Erfolg ab. Da Armut und Elend gesellschaftspolitisch, ökonomisch und theologisch „in Ordnung“ sind, gibt es für Malthus keinen Grund, die Armen zu unterstützen. Jede Form der staatlichen oder anderen öffentlichen Armenunterstützung – selbst die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Staates – lehnt er folgerichtig rigoros ab. Er fordert nicht nur, dass keine Gesetze mehr zur Unterstützung der Armen beschlossen werden dürfen, sondern verlangt konsequenterweise auch die Aufhebung der seit dem 17. Jahrhundert in England geltenden Armengesetze. Als Konzession an die englische Armenpflegetradition will er höchstens einige Arbeitshäuser (workhouses) mit härtester Arbeit und schlechtester Ernährung bestehen lassen. Alle Maßnahmen, die Armen zu unterstützen und die Not zu lindern, sind zu verbieten. Denn – so Malthus – die Armengesetze bilden die Grundlage dafür, den Armen Unterhaltsmittel zu gewähren. Diese führen nur dazu, dass jedermann einer bequemen Versorgung seiner Familie sicher sein könnte und damit fast jeder eine Familie gründen und unterhalten würde. Somit wäre die heranwachsende Generation frei von dem „tödlichen Frost“ des Elends, und die Bevölkerung würde sich noch rascher vermehren (vgl. a. a. O., 72).

      Das natürlichste und naheliegendste Hemmnis für ein übermäßiges Bevölkerungswachstum scheint für Malthus darin zu bestehen, jedermann für seine eigenen Kinder sorgen zu lassen (vgl. a. a. O., 93). Malthus bezieht ausdrücklich die Kinder der Armen in seine Überlegungen mit ein. Seinen allgemeinen Thesen konsequent folgend, lehnt er auch die Unterstützung der Kinder in Not und Elend ab. Malthus befürchtet sogar, dass eine Versorgung der Kinder der Armen die Bevölkerungsvermehrung nur noch mehr anreizen würde. Wenn den Armen die Sorge um ihre Kinder genommen würde, so glaubt er, würden sie nur noch hemmungsloser weitere Kinder zeugen und die Bevölkerung noch stärker vermehren.

      Die Wohltätigkeit privater Einrichtungen und Personen lässt Malthus jedoch zu. Die private Wohltätigkeit sei sowieso nicht auszurotten, meint er, und außerdem sei sie ethisch positiv zu bewerten, trotz ihrer fatalen Auswirkungen.

      Von der zweiten, überarbeiteten Auflage seines Werkes an verlässt Malthus den Standpunkt des reinen „Laissez-faire“ seiner liberalen Theorie. Malthus schlägt stattdessen vor, die Diskrepanz zwischen dem Bevölkerungswachstum und den Nahrungsmittelressourcen dadurch auszugleichen, dass man der Vermehrung der Menschen bewusst Schranken setzt. Er fordert als Mittel gegen eine hemmungslose Bevölkerungsvermehrung, dass die Menschen sich sexuell enthalten, auf Geschlechtsverkehr verzichten und so jede Zeugung von Kindern ausschließen sollen. Moralische Zurückhaltung (moral restraint) soll damit an die Stelle einer öffentlichen Unterstützung der Armen treten. Sie ist für Malthus das wirksamste Mittel der Armenpflege. Insbesondere die Armen sollen die Eheschließung hinauszögern und nur sehr spät oder am besten gar nicht heiraten. Dadurch sollen der Geschlechtsverkehr und die Zeugung von Kindern unterbunden werden. Durch die Verschiebung seiner sexuellen Bedürfnisbefriedigung soll jeder Mensch dazu beitragen, die Armut zu beseitigen und die Menschheit überlebensfähig werden zu lassen. Sollten solche Präventivmaßnahmen, die dem moralischen Bewusstsein des Einzelnen anheimgestellt werden müssten, versagen, so bleiben als Alternative nach Malthus nur verhängnisvolle Unterdrückungsmaßnahmen. Der Mensch hat nur die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Die Bevölkerung, vor allem die Armen, müsste über die Wirkungen des Bevölkerungsgesetzes und die notwendige geschlechtliche Enthaltsamkeit (sittliche Disziplin) als präventiv mögliche Maßnahme, um Hunger und Not infolge Übervölkerung und mangelnder Nahrungsmittel zu verhindern, aufgeklärt werden.

      In den weiteren Auflagen seines Essays betont Malthus immer stärker die Bedeutung des „moral restraint“ für die Verhinderung von Massenelend. Letztlich macht er jedoch immer wieder die Armen selbst für ihre Notsituation verantwortlich, weil sie sich nicht beherrschen könnten, häufig Geschlechtsverkehr hätten und Kinder zeugten. Das Elend trifft die Armen wegen dieser sittlichen Unbeherrschtheit – so sagt Malthus provokant – zu Recht.

       6.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit


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