Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck

Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck


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wollte kaum jemand bei ihm entdecken. Sein gesamtes Werk wird häufig allein unter dem Gesichtspunkt seines Egoismus bewertet. Er habe das Pamphlet geschrieben, so werfen ihm seine Gegner vor, weil er damit habe Geld verdienen und das Armengesetz abschaffen wollen, um nicht länger von seinem Wohlstand den Armen etwas abgeben zu müssen, wie es das Gesetz vorschrieb.

      Lässt man diese Verkürzung seines erkenntnisleitenden Interesses weg, dann hat sich Malthus mit Problemen befasst, die heute wie damals in gleichem Maße aktuell und bedenkenswert sind: die Bevölkerungsexplosion und die Ernährung der Menschheit. Malthus untersucht das Wachstum der Bevölkerung, die Hindernisse, die sich zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern dem Wachstum der Bevölkerung entgegengestellt haben, und die Neigung aller Lebewesen, sich in höherem Maße zu vermehren, als es die ihnen zur Verfügung stehende Nahrungsmenge zulässt. Er stellt sich in seinem demografischen Werk so unbequemen Fragen wie: Warum werden so viele Menschen in eine Welt hinein geboren, die sie bloß zu einem frühen Tod oder einer kläglichen Existenz verurteilt? Welche Funktion haben Krankheit, Leid, Katastrophen und Tod im Leben der Menschen? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Menschen eine so vollkommene Gesellschaftsordnung geben, in der niemand mehr Not leiden muss? Was müssen die Menschen und der Staat tun, damit die Bevölkerung sich nicht weiter vermehrt? (vgl. Malthus 1977).

       6.4 Wissenschaftsverständnis

      Der umfassend wissenschaftlich gebildete Malthus greift bei seinen Publikationen auf empirische, ethische, ökonomische, politische, philosophische und theologische Erkenntnismethoden und Arbeitsweisen zurück und verknüpft sie miteinander. Für den Mathematiker und Ökonomen Malthus ist aber die Erfahrung die eigentliche Quelle und Grundlage allen Wissens, und für den Theologen und Geistlichen sind die göttliche Offenbarung in der Bibel und die Lehre der anglikanischen Kirche maßgebend (vgl. Malthus 1977, 19). Beide Erkenntnisquellen verknüpft Malthus, um seine Theorie zu beweisen.

      Malthus stellt seine Thesen in der zuerst veröffentlichten Ausgabe des „Bevölkerungsgesetzes“ (1798) ohne jede wissenschaftliche Fundierung auf. Den Thesen wurde deshalb allgemein die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. In der zweiten, revidierten Fassung (1803) setzt sich Malthus dann mit den Thesen seiner Widersacher in wissenschaftlicher Form auseinander und bemüht sich, seine eigenen Thesen mit empirisch gewonnenen Daten und statistischem Material über die Bevölkerungsentwicklung in England und der Welt und die Produktion von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung zu begründen. Aus seinen Daten leitet er das auf einer abstrakten mathematischen Wahrscheinlichkeit basierende Bevölkerungsgesetz ab. Mit diesem Gesetz und einigen anthropologischen, philosophischen und theologischen Lehrsätzen begründet er seine Ablehnung der englischen Armengesetze und seine Forderungen nach präventiven sozialpolitischen und moralischen Maßnahmen, um die Entstehung von Leid und Not zu verhindern. Diese Neufassung wurde im Großen und Ganzen als wissenschaftliche Abhandlung akzeptiert.

       6.5 Theorie

      Malthus verfasst seine Theorie als Widerlegung der sozialen Utopien, die von Godwin und anderen vertreten wurden, und gegen die von William Pitt unterstützten gesetzlichen Maßnahmen (Poor Law Bill) zur Bekämpfung des durch die beginnende Industrialisierung wachsenden Massenelends in Europa.

      (1) Das Bevölkerungsgesetz: In der ersten Fassung seines Essays stellt Malthus zwei Postulate auf, die für ihn festgefügte Bestandteile der menschlichen Natur sind:

      (a) Die Nahrung ist für die Existenz des Menschen notwendig.

      (b) Die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern ist notwendig und wird in etwa gleich bleiben (vgl. Malthus 1977, 17).

      Malthus hält seine beiden Postulate von der Erfahrung her für gesichert und behauptet weiter, dass die Vermehrungskraft der Bevölkerung unbegrenzt größer sei als die Kraft der Erde, die Mittel für den Lebensunterhalt der Menschen hervorzubringen. Das verschieden starke Wachstum der beiden Größen stellt er mathematisch dar und erkennt darin eine Gesetzmäßigkeit, das Bevölkerungsgesetz: Die Bevölkerung wächst für Malthus, wenn keine Hemmnisse dem Wachstum entgegenwirken, in geometrischer Reihe (2–4–8–16–32–64 usw.); und er glaubt beobachtet zu haben, dass sich die Bevölkerung alle 25 Jahre verdoppelt. Die Nahrungsmittel wachsen dagegen für ihn nur in arithmetischer Reihe (2–4–6–8–10–12 usw.). Die natürliche Folge der unterschiedlichen Entwicklungen ist, dass beide Reihen wie eine geöffnete Schere immer weiter auseinandergehen (2:2–4:4–8:6–16:8–32:10–64:12 usw.). Malthus will eigentlich keine mathematisch exakten Gesetzmäßigkeiten angeben, sondern die mathematischen Reihen vor allem zur Veranschaulichung seiner These nutzen. Die immer weiter auseinandergehenden Entwicklungen sind für ihn aber ein Naturgesetz, das sich aus der Konstanz des menschlichen Geschlechtstriebs und der Begrenztheit der Nahrungsmittelressourcen ergibt. Das Missverhältnis zwischen dem Bevölkerungswachstum einerseits und den begrenzten Lebensmittelressourcen andererseits führt nach seiner Auffassung konsequenterweise zu Not und Elend, weil die Nahrungsmittel für die Bevölkerung nicht mehr ausreichen und viele (ver-)hungern müssen. Not und Elend aber erzeugen nach Malthus Laster (z. B. Begierden des Hungers, Raub, Lust auf Branntwein, das Verlangen, eine schöne Frau zu besitzen usw.) und verursachen so den sittlichen Niedergang der Bevölkerung.

      Wegen des unabänderlichen Naturgesetzes, dass die Nahrung für den Menschen lebensnotwendig ist, muss die Entwicklung der beiden ungleichen Größen mit ihren fatalen Auswirkungen im Gleichgewicht gehalten werden. Dies ist nach Malthus nur möglich, indem die Bevölkerungszunahme ständig und energisch gehemmt wird, zum Beispiel dadurch, dass Lebensmittel fehlen und ein beachtlicher Teil der Menschheit dieses empfindlich zu spüren bekommt.

      Die natürliche Ungleichheit, die zwischen den beiden Kräften – der Bevölkerungsvermehrung und der Nahrungserzeugung der Erde – besteht, und das große Gesetz unserer Natur, das die Auswirkungen dieser beiden Kräfte im Gleichgewicht halten muss, bildet die gewaltige, für Malthus unüberwindlich erscheinende Schwierigkeit auf dem Weg zu einer vollkommenen Gesellschaft. Weder eine erträumte Gleichheit aller Menschen noch landwirtschaftliche Maßnahmen von äußerster Reichweite können nach Malthus den Druck des Bevölkerungsgesetzes auch nur für ein einziges Jahrhundert zurückdrängen. Deshalb spricht dieses Bevölkerungsgesetz für Malthus entschieden gegen die mögliche Existenz einer Gesellschaft, deren sämtliche Mitglieder in Wohlstand, Glück und verhältnismäßiger Muße leben und sich nicht um die Beschaffung von Mitteln zum Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu sorgen brauchen (vgl. a. a. O., 18 f.). Soziale Reformversuche wie die Armengesetze können für Malthus den Zwang der Naturgesetzlichkeit nicht aufheben.

      (2) Vorbeugende und nachwirkende Hemmnisse der Bevölkerungsvermehrung: Malthus stellt jedoch bei seinen statistischen Erhebungen fest, dass sich die Bevölkerung in den modernen Staaten Europas nicht – wie ursprünglich von ihm angenommen – alle 25 Jahre verdoppelt hat, sondern dass die Bevölkerung weitaus langsamer wächst. Die Ursache für dieses verlangsamte Wachstum liegt nun für Malthus keineswegs im „Verlöschen der geschlechtlichen Leidenschaft“. Er nimmt vielmehr an, dass diese natürliche Neigung in unverminderter Stärke andauert, und erklärt seinen Befund damit, dass in allen Klassen die vorhersehbaren Schwierigkeiten, eine Familie zu ernähren, als vorbeugendes Hemmnis (preventive check) wirken: Männer und Frauen werden vom Heiraten – und infolgedessen vom Zeugen von Kindern – abgehalten und die Geburtenhäufigkeit wird verringert, weil sie zum Beispiel erkennen, dass sie ihre Ausgaben einschränken müssen, falls sie eine Familie gründen, und damit ihrer Vergnügungen, die sie für sich ausmalen, beraubt würden. In den unteren Klassen, wo die Kinder nicht die nötige Nahrung und Pflege zum Leben erhalten, stehen Not und Elend zusätzlich als nachwirkende Hemmnisse (positive check) dem Anwachsen der Bevölkerung entgegen (vgl. a. a. O. 1977, 36 f.), indem die Sterblichkeit infolge mangelhafter Ernährung, Krieg, Pest, Seuchen, Hungersnot und Naturkatastrophen, die besonders die arme Bevölkerung immer wieder treffen, erhöht wird. Die nachwirkenden Hemmnisse sind nach Malthus wirksamer als die vorbeugenden Hemmnisse, da sie sich als unmittelbare Folgen aus dem Bevölkerungsgesetz für die Armen ergeben und so direkt zu spüren sind.

      „Die


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