Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck

Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck


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      Vielfältige Fragen und Interessen bestimmen das Lebenswerk Pestalozzis. Da ist einerseits die philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft: Was bin ich, und was ist das Menschengeschlecht? Mit Pestalozzis eigenen Worten:

      „Befriedigung unseres Wesens in seinem Innersten, reine Kraft unserer Natur, der Segen unseres Daseins, du bist kein Traum. Dich zu suchen und nach dir zu forschen ist Ziel und Bestimmung der Menschheit, und auch mein Bedürfnis bist du und Drang meines Innersten, dich zu suchen, Ziel und Bestimmung der Menschheit. Auf welcher Bahn werde ich dich finden, Wahrheit, … ? Der Mensch, von seinen Bedürfnissen angetrieben, findet die Bahn zu dieser Wahrheit im Innersten seiner Natur“ (Pestalozzi, zit. nach Schumann 1899, 220).

      Da sind andererseits die politischen und pädagogischen Aspekte, die alle um die Frage nach der Bildung des Menschen kreisen. Die Erforschung von Lösungen für die Frage „Wie kann die Auferziehung der Armen erleichtert und durch einfache Anstalten erzielt werden?“ hat Pestalozzi sich nach eigenen Angaben allerdings zum „einzigen Geschäft seines Lebens bestimmt“. Weitere eng damit zusammenhängende Forschungsfragen Pestalozzis sind: Durch welche Ursachen sinkt das Volk in das Verderben? Welche Mittel liegen im Volke selbst zu seiner geistigen, sittlichen und bürgerlichen Wiedergeburt? Was muss getan werden, um das Volksleben in allen Ständen zu veredeln? Wie können Erziehung und Unterricht planmäßig aufgebaut und diesem Ziel angepasst werden? Die genaue Kenntnis der Menschennatur und der menschlichen Bedürfnisse ist für Pestalozzi die Voraussetzung, um diese Fragen beantworten zu können.

      Pestalozzi will eine durchgreifende innere Reform des ganzen Lebens. Ihn bewegen politisch-soziale, ökonomische, religiöse und pädagogische Motive. Allen Menschen soll durch Bildung und Entwicklung ihrer „Grundkräfte“ (Volkserziehungswunsch) ein erfülltes Leben ermöglicht werden, denn zu leben, in seinem Stande glücklich zu sein und in seinem Kreise nützlich zu werden, ist für ihn die Bestimmung der Menschen und das Ziel der Auferziehung der Kinder.

       5.4 Wissenschaftsverständnis

      In der philosophischen Literatur seiner Zeit findet das Werk Pestalozzis zunächst keinen Niederschlag (vgl. Nohl 1983, 291). Pestalozzi teilt Rousseaus Skepsis gegenüber den etablierten Wissenschaften und ihrem Selbstverständnis. Alle Menschenweisheit beruht nach Pestalozzi auf der Kraft eines guten, der Wahrheit folgsamen Herzens und aller Menschensegen auf Einfalt und Unschuld. Oberflächliche Vielwisserei taugt in seinen Augen nichts, nur gründliches Wissen befriedigt und gibt festen Halt. Die Methode der wahren Menschenbildung ist die „Bahn der Natur“. Sie nimmt alle Kräfte in Übung und Gebrauch und entwickelt sie. Jede Abweichung von der Natur stört. Darum stehen keine Worte und Meinungen, sondern Anschauungen und damit Realkenntnis wirklicher Gegenstände am Anfang der Erkenntnis und der Bildung. Die naturgemäße Methode entwickelt die Geisteskräfte ungezwungen, allseitig, stetig und lückenlos. Wahrheit ist für Pestalozzi die Erkenntnis davon, was der Mensch für seinen Standpunkt und sein Leben braucht. Menschenweisheit beruht auf den Kenntnissen der „nächsten Verhältnisse des Menschen“ (Pestalozzi 1945, 143–164).

      Pestalozzis Theorien erscheinen häufig als konstruiert und spekulativ. Dennoch ist er so weit Empiriker, dass er sich niemals scheut, seine Ansichten unter dem Druck der Erfahrungen zu verändern. Ihm geht es um eine möglichst sorgfältige Nachahmung der Natur, deswegen führt er „Erfahrungsversuche“ durch (vgl. Liedtke 1995, 81). Ab 1800

      „reift auch seine Methode, mit der dieser irrationale Mensch sich nun doch in den großen Zug des Rationalismus einstellte. Immerfort mit den Kindern experimentierend und dabei die Anfangsgründe immer weiter vereinfachend, kommt er schließlich auf die Frage: Wie macht es der Mensch, wenn er die verworrene Anschauung klären will?“ (Nohl 1983, 294).

       5.5 Theorie

      Pestalozzis Pädagogik basiert einerseits auf anthropologischen und soziologischen Setzungen, die durch Polarisierungen und Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet sind und von ihm im Laufe seines Lebens immer wieder verändert werden, andererseits finden sich bei ihm auch weithin konstante Grundaussagen. So besteht der Mensch nach Pestalozzi aus den beiden Substanzen „Natur“ und „Geist“ und das „Individuum“ steht der „Gesellschaft“ gegenüber, für die Erziehung eines Kindes betont er sein Leben lang die herausragende Bedeutung der Mutter (Muttertrieb).

      (1) Anthropologische Grundannahmen: Das Wesen des Menschen ist nach Meinung Pestalozzis der Ordnung der Natur zu entnehmen; und der einzelne Mensch ist individual bestimmt. Der Mensch ist zum einen das Werk der Natur, zum anderen der Gesellschaft und dann schließlich seiner selbst. Die Individualbestimmung des Menschen folgt aus dem Zusammenspiel von Natur, Gesellschaft und dem jeweiligen Menschen selbst.

      Pestalozzi erkennt – wie er in seinem Werk: „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ von 1797 darlegt – sowohl bei der Entwicklung der gesamten Gesellschaft als auch bei der Entwicklung der einzelnen Individuen drei Entwicklungsstufen: den Naturzustand, den gesellschaftlichen Zustand und den sittlichen Zustand (vgl. Pestalozzi 1946a, 377–564). Die Entwicklungsstufen lassen sich zwar voneinander unterscheiden, sind aber nicht voneinander unabhängig und können beim einzelnen Menschen und bei der Gesellschaft ineinander übergehen. Daraus folgt für Pestalozzi, dass man den Menschen nur als Ergebnis eines Zusammenspiels von Natur (Naturzustand), Gesellschaft (gesellschaftlichem Zustand) und seiner selbst (sittlichem Zustand) ansehen kann.

      (a) Der Naturzustand des Menschen (Pestalozzi nennt diesen Zustand auch „tierisch“) ist zu unterscheiden in einen unverdorbenen und in einen verdorbenen Zustand. Der unverdorbene Naturzustand ist gekennzeichnet durch einen völligen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen des Menschen und ihrer Befriedigung sowie zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Der Mensch ist ein mit viel Liebe und Wohlwollen versehenes Wesen, das zwar völlig ungebildet ist, damit aber unwissend gut und in völliger Unschuld harmonisch mit der Natur lebt. Der verdorbene Naturzustand beginnt dann, wenn beim Menschen die Bedürfnisse ins Unendliche wachsen und die Kräfte, die dieses verhindern können, fehlen. Der Mensch wird so zum Barbaren, egoistisch, selbstsüchtig. Die Menschen konkurrieren miteinander, und dadurch schlägt der unverdorbene Naturzustand in einen verdorbenen um. Die Menschen verhalten sich zunehmend egozentrisch und überlassen sich ihren Begierden und ihren (Macht- und Besitz-)Trieben.

      (b) Aus Sorge um das eigene Selbst und um die egozentrischen Interessen abzusichern, vereinigen sich die Menschen und sprechen Verträge miteinander ab, denn – so Pestalozzi – erst aus der Verdorbenheit entsteht der Wunsch nach Recht und Vertrag. So entsteht der gesellschaftliche Zustand, in dem zwar Freiraum und Schutz gewährt, aber viele Freiheiten weggenommen werden. Es bleibt jedoch beim Krieg aller gegen alle, der gegenüber dem verdorbenen Naturzustand lediglich seine Form geändert hat. Der gesellschaftliche Zustand kann für den Menschen niemals das sein, was er erhofft hat.

      (c) Erst im sittlichen Zustand wird es dem Menschen möglich, sich von egozentrischen Beweggründen zu lösen, sittliche Verhaltensnormen zu entwickeln und sich auch danach in seinem Verhalten zu richten. Der sittliche Zustand ist deshalb erreichbar, weil jeder Mensch eine Kraft in sich selbst besitzt, alle Dinge dieser Welt sich selbst, unabhängig von seiner tierischen Begierlichkeit und von seinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur unter dem Gesichtspunkt, was sie zu seiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen, und dieselbe nur in diesem Gesichtspunkte zu erlangen oder zu verwerfen (vgl. a. a. O., 449–511). Gott ist für Pestalozzi die „nächste Beziehung der Menschheit“, denn alle innere Kraft der Sittlichkeit, der Erleuchtung und Weltweisheit ruht auf dem Glauben der Menschheit an Gott. Gottes Erleuchtung ist Liebe, Weisheit und Vatersinn. Und „Gottesvergessenheit, Verkenntnis der Kinderverhältnisse der Menschheit gegen die Gottheit, ist die Quelle, die alle Segenskraft der Sitten, der Erleuchtung und der Weisheit in aller Menschheit auflöst“. Der Glaube an Gott ist für Pestalozzi die „Stimmung des Menschengefühls in dem obersten Verhältnis seiner Natur“. Der Glaube ist vertrauender Kindersinn der Menschheit auf den Vatersinn der Gottheit. Glaube an Gott ist die Quelle aller Weisheit und daher das erste Ziel des


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