Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
und im 20. Jahrhundert unsere Sozialpädagogik beseelt wie niemand sonst, und er ist so tief in die deutsche Geistigkeit eingedrungen, dass das Wesen des Pädagogischen seit ihm bei uns nicht mehr an Socrates gefunden wird wie im 18. Jahrhundert, sondern an dem Symbol seiner leidvollen Gestalt mit dem starken Herzen“ (Herman Nohl 1983, 283).
5.1 Historischer Kontext
Mit den Ideen der Aufklärung wird im Frankreich des 18. Jahrhunderts die Revolution vorbereitet. Die privilegierte Oberschicht aus Adel und Klerus hält zwar an den Feudalrechten (ihren eigenen Privilegien) fest, fordert aber zugleich die Beschränkung der absoluten Monarchie. Die Bourgeoisie (Bankdirektoren, Fabrikanten, Kaufleute, Juristen, Ärzte) gewinnt zunehmend an Macht und fordert als dritter Stand soziale Gleichberechtigung und politische Mitbestimmung. Die Pariser Arbeiter revoltieren gegen zu hohe Brotpreise. Ludwig XVI. (1774–1792) entschließt sich zwar zu Reformen; diese werden aber durch das Parlament und andere Interessierte verhindert. Mit Spanien als Verbündetem greift Frankreich gegen Großbritannien in den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg ein. Die Kosten dieser Intervention belasten die ohnehin schon zerrütteten französischen Staatsfinanzen noch mehr. Großbritannien erkennt 1783 im Frieden von Versailles die amerikanische Unabhängigkeit an. Der amerikanische Freiheitserfolg ermutigt die Regimekritiker in Europa zum Sturz der feudalen Ordnung. Im Mai 1789 beginnt die Französische Revolution. Die Bastille (als Gefängnis für politische Gefangene Symbol für den Despotismus) wird gestürmt, das Heer löst sich auf. Das Volk siegt über den Absolutismus, die Revolutionäre schaffen die Feudalordnung ab und befreien die Bauern aus ihrer Abhängigkeit. Der Ständestaat wird ein Klassenstaat mit Ämter- und Gewerbefreiheit. Die Menschenrechte „liberté, égalité, fraternité“ werden deklariert. In die neue französische Verfassung von 1791 werden die Menschenrechte, die Rechtsgleichheit und das Recht auf Privateigentum aufgenommen. Doch Hungersnot und Furcht vor Gegenrevolutionen führen zu weitflächigen Unruhen und zahlreichen Gewalttaten. Statt Frieden und Zufriedenheit eskalieren Terror und Schreckensherrschaft. Das Fallbeil (Guillotine) wird eingeführt, um die zahllosen Hinrichtungen zu „humanisieren“. Der Kult der Vernunft soll den christlichen Glauben ablösen. 1799 greift sich Napoleon Bonaparte (1769–1821) die Macht; 1804 wird er Kaiser der Franzosen. Der „Code civil“ garantiert persönliche Freiheit, Rechtsgleichheit, privates Eigentum, Zivilehe und Ehescheidung.
Zürich – die Geburtsstadt Pestalozzis – ist seit 1351 Mitglied der Schweizer Eidgenossenschaft, und die 1336 in Zürich eingeführte Zunftverfassung besteht bis 1798. Alle Gewalt, die gesetzgebende, die ausführende und die richterliche Gewalt, liegt bei den Bürgern der 10.000 Einwohner zählenden Stadt, die ein umliegendes Landgebiet mit 200.000 Einwohnern beherrscht. Landleute können nur untergeordnete Ämter einnehmen, ihre Bürgerrechte sind stark eingeschränkt, sie dürfen keinen eigenen Handel treiben und keine eigene Industrie errichten. Die systematische Unterdrückung der verarmten Landbevölkerung führt zu Unruhen und Aufständen (1794). Unter dem Einfluss der Französischen Revolution wird 1798 das feudalistische Gesellschaftssystem in einen bürgerlichen Staat, die Helvetische Republik, umgewandelt. Französische Truppen besetzen die Schweiz. Auf dem Wiener Kongress, der die europäischen Staaten nach den Napoleonischen Kriegen neu ordnet, wird dem Staatenbund Schweiz 1814/15 immerwährende Neutralität garantiert. Zürich besitzt im 18. Jahrhundert Elementarschulen, in denen die Kinder der Bürger die ersten Kenntnisse in Schreiben, Lesen, Rechnen und im Katechismus erhalten. Wie in allen anderen Schulen der Zeit müssen sich die Kinder alle Kenntnisse weitgehend ohne Erläuterungen des Lehrers durch bloßes Auswendiglernen der vorgeschriebenen Lektionen aneignen. Die Schüler lernen auswendig, indem sie die Texte laut lesen, ebenso wiederholen, ohne sich dabei von den ebenfalls laut lernenden Mitschülern stören lassen zu dürfen (vgl. Liedtke 1989, 13 f.).
Die Reformation geht in der Schweiz im 16. Jahrhundert von Zürich aus, und das 18. Jahrhundert ist wieder eine Zeit der kulturellen Blüte (Johann Jakob Bodmer, Johann Caspar Lavater u. a.). Der Barock (1600–1750) ist die Kunst der Gegenreformation und des Absolutismus. Mit der Aufklärung und Revolution macht sich ein neuer Klassizismus (Empirestil) breit. In der Wissenschaft gewinnen auf der Suche nach vernünftigen Erkenntnismethoden, die sich nicht auf religiöse und kirchliche Lehren stützen, die Erfahrungswissenschaften zunehmend Gestalt. Im Empirismus geht man von beobachteten Erfahrungen aus. Der Rationalismus postuliert, die Wahrheit allein durch Denken und allgemeine Prinzipien zu finden. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts basiert auf Humanismus; Vernunft, Mut zur Kritik, geistige Freiheit und religiöse Toleranz sollen die religiöse Dogmatik und die kirchliche und staatliche Autorität überwinden. Religiöse Bewegungen wie der Pietismus wollen die Kirche durch frommes Leben zu einer Liebesgemeinschaft reformieren und betonen das subjektiv-persönliche Verhältnis des Menschen zu Gott.
5.2 Biografischer Kontext
Johann Heinrich Pestalozzi wird 1746 in Zürich geboren (vgl. Schumann 1899; Nohl 1983; Liedtke 1989; Hebenstreit 1996; Osterwalder 2006; Niemeyer 2010, 19–51 u. a.). Sein Vater ist Arzt und stirbt, als Pestalozzi fünf Jahre alt ist. Pestalozzi wird zusammen mit seinen Geschwistern von seiner Mutter und der Magd „Babeli“ als „Mutterkind“ aufgezogen. Ständige wirtschaftliche Sorgen bestimmen den Alltag. Pestalozzi besucht zunächst die Elementar- und danach die Lateinschule. Die Schulkameraden hänseln und verspotten ihn wegen seiner langen Nase und seiner Träumereien.
Mit 17 Jahren geht er auf eine Züricher Akademie, um Pfarrer zu werden. Im Kreis einer kleinen politischen Vereinigung (den Patrioten) studiert Pestalozzi intensiv die Werke Rousseaus. Nach zwei Jahren bricht er seine Ausbildung ab. Unter dem Einfluss der Schriften Rousseaus entscheidet er sich zunächst, Landwirt zu werden, verlässt die Stadt und geht aufs Land. 1769 übernimmt er das Gut Neuhof bei Brugg als Versuchswirtschaft und heiratet Anna Schultheß. 1770 wird ihr gemeinsamer Sohn Hans Jakob (Jacqueli) geboren. Ihr einziges Kind erhält den eingedeutschten Vornamen von Pestalozzis großem Vorbild Jean-Jacques Rousseau und soll im Geiste des „Émile“ erzogen werden. Eine Erkrankung (vermutlich Epilepsie) verhindert aber die vom Vater erwartete Entwicklung des Sohnes. Pestalozzi scheitert nach eigenem Urteil mit der Erziehung. Zeitlebens wirft er sich dieses Versagen vor. Hans Jakob stirbt bereits mit 31 Jahren.
Wegen Misserfolgen in der Landwirtschaft macht Pestalozzi hohe Schulden. Deshalb weitet er den Neuhof 1774 zu einer Armenerziehungsanstalt aus, in die er arme Kinder aus der Umgebung aufnimmt. Die Kinder müssen zum einen in der Landwirtschaft arbeiten und werden zum anderen unterrichtet. Doch auch dieses Projekt scheitert 1780 aus finanziellen Gründen.
Vor allem um sich Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, beginnt Pestalozzi zu schreiben. In der 1780 entstandenen „Abendstunde eines Einsiedlers“, seinem ersten größeren Werk, skizziert er bereits das Gedankengebäude, das er in seinen späteren Schriften ausweitet. Berühmt wird Pestalozzi über die Eidgenossenschaft hinaus durch seinen pädagogischen Volksroman „Lienhard und Gertrud“ aus dem Jahre 1781, mit dem er das Volk belehren will.
Obgleich Pestalozzi 1792 französischer Ehrenbürger wird, ernüchtern ihn die negativen Folgen der Französischen Revolution so stark, dass er von Rousseaus Ideen abrückt. Nach dem Zusammenbruch und Neuaufbau der Schweizer Eidgenossenschaft 1798 wendet sich Pestalozzi neben dem Schreiben auch wieder praktisch-pädagogischen Aufgaben zu. Nach kurzen Aufenthalten in Stans und Burgdorf wirkt er von 1805 bis 1825 in Iferten (Yverdon). Hier gründet er eine Erziehungsanstalt mit einem Lehrerseminar, das bald ein pädagogisches Zentrum in Europa wird und den weltweiten Ruhm Pestalozzis begründet. Die preußische Universität Breslau anerkennt 1817 seine Leistungen mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Streit innerhalb der Lehrerschaft und Streit einzelner Mitarbeiter mit Pestalozzi verursachen den Niedergang des Institutes.
Pestalozzi kommt über die Streitereien und die ihm zugefügten Verletzungen nicht hinweg und versucht bis zu seinem Tod, sich für sein Verhalten zu rechtfertigen. Ein Jahr vor seinem Tod verfasst Pestalozzi seinen „Schwanengesang“, eine systematische Darstellung seiner Pädagogik ohne die ihm sonst eigenen Übertreibungen. Im Jahre 1827 stirbt Pestalozzi – von Geburt an schwächlich, ständig an Atembeschwerden leidend und während seines ganzen Lebens seinen baldigen Tod erwartend – im Alter von 81 Jahren in Brugg.