Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
des Robinson Crusoe beschrieben werden, eines Seemanns aus York, der 28 Jahre ganz allein auf einer von weißen Menschen unbewohnten Insel vor der amerikanischen Küste lebte, wohin er nach einem Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung außer ihm selbst ums Leben kam, verschlagen worden war.
Die farbigen Bewohner der Insel sind für Defoe – entsprechend und typisch für die Blütezeit des Kolonialismus im damaligen Frankreich und England – „Wilde“ und „Kannibalen“, also im Grunde keine (gleichwertigen) Menschen, und der einzige Farbige, der Robinson nahe kommen darf, wird sein Diener.
(3) Der zweite Weg zur Natur zurück: der gemeinsame Gesellschaftsvertrag: Rousseau beginnt im Jahre 1762 seine politisch-staatsphilosophische Schrift über den Staatsvertrag provokativ:
„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Manch einer glaubt, Herr über die anderen zu sein, und ist ein größerer Sklave als sie. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann sie rechtmäßig machen? Ich glaube, dass ich dieses Problem lösen kann. … Die Gesellschaftsordnung ist ein heiliges Recht, das die Grundlage für alle übrigen Rechte ist. Diese Ordnung entspringt aber nicht der Natur. Sie ist durch Vereinbarungen begründet“ (Rousseau 1995, 61).
Für Rousseau ist die Familie die älteste und einzig natürliche Gesellschaft; wenn die Kinder ihren Vater nicht mehr zur Erhaltung brauchen und beide unabhängig voneinander werden, dann gründet auch die Familie nur noch auf Vereinbarungen zwischen den Mitgliedern. Die Familie ist für Rousseau das erste Muster der politischen Gesellschaft; daraus leitet er seine Idee von der Gesellschaft ab.
Alles seiner Meinung nach Unwesentliche weglassend, führt Rousseau den Gesellschaftsvertrag auf folgende Grundsätze zurück:
„Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft (puissance) der höchsten Leitung des Gemeinwillens (volonté générale), und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen. Im gleichen Augenblick entsteht aus dieser Vergesellschaftung, anstelle des einzelnen Vertragspartners, ein Moral- und Kollektivkörper, der aus so vielen Mitgliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat; aus diesem Akt hat er seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen“ (a. a. O., 74).
Rousseau hält das völlige Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit (communauté) wie in einer Familie für geboten.
Ein politischer Organismus lebt nach Rousseau von einer „ursprünglichen“ Übereinkunft (convention), der alle Mitglieder in völliger Entscheidungsfreiheit zugestimmt haben. Mit seiner Zustimmung hat ein jedes Mitglied sich der Allgemeinheit und jedem ihrer einzelnen Glieder bedingungslos verpflichtet. Diese Übereinkunft
„ist keine Abmachung zwischen einem übergeordneten und einem untergeordneten Partner, sie ist eine Vereinbarung zwischen einem Ganzen und seinen Gliedern, und sie ist rechtsgültig, weil sie auf dem Gesellschaftsvertrag beruht. Dieser Vertrag ist gerecht, weil er alle gleich behandelt. Er ist zweckmäßig, weil er nur das Wohl der Allgemeinheit zum Ziele haben kann. Er ist dauerhaft, weil die Macht der Öffentlichkeit und die höchste Gewalt ihn garantieren. Solange die Vertragspartner keinen weiteren Abmachungen unterliegen, haben sie niemand zu gehorchen als ihrem eigenen Willen“ (a. a. O., 92).
Der einzelne Mensch wird zum Bürger einer Gesellschaft, indem er auf seine natürliche Unabhängigkeit verzichtet. Die natürliche Unabhängigkeit bedeutet für die Einzelnen zugleich Abhängigkeit von der Ungleichheit ihrer natürlichen Gaben. Durch den Verzicht auf seine natürliche Unabhängigkeit nimmt der Einzelne teil an der absoluten rechtlichen und moralischen Gleichstellung mit allen anderen Menschen. Diese Gleichstellung charakterisiert eine wirkliche Gesellschaft.
Die einzelnen Menschen stimmen dem Gesellschaftsvertrag frei zu; sie überantworten und unterwerfen sich damit keinem Herrscher. Der Gesellschaftsvertrag kann niemals Ursprung von Ungerechtigkeiten und Privilegien sein, weil die gegenseitige Verpflichtung von den Einzelnen als absolut verbindlich anerkannt wird. Durch den Gesellschaftsvertrag wird eine Gesellschaft geschaffen, die sich nicht selbst dadurch schaden wollen kann, indem sie einem ihrer Mitglieder schadet. Die Gesellschaft ist souverän (Volkssouveränität) und äußert sich in einem „Gesamtwillen“ (volonté générale). Dieser Gesamtwille drückt sich in den Gesetzen aus, die alle zum allgemeinen Wohle der Gesellschaft erlassen werden. Die Glieder der Gemeinschaft sind Regent und Regierter in einem. Die Aufgabe der natürlichen Freiheit des Einzelnen ermöglicht das Erreichen der rechtlichen Freiheit. Das Gleiche gilt für das Eigentum. Die Abgabe an die Gemeinschaft sichert erst das gesetzliche Eigentum. Die Eigentümer werden zu Verwaltern der Dinge.
Von dem Gesamtwillen ist der „Wille aller“ (volonté de tous) als Summe der Einzelbestrebungen zu unterscheiden. Der „Wille aller“ resultiert allein aus dem Bemühen, eigene Interessen – auf Kosten anderer – durchzusetzen. Der Herrschaftsanspruch, den der Gesamtwille ausdrückt, ist wie dieser selbst unteilbar und unübertragbar. Ihm obliegt die Verkündung von Gesetzen, die ausschließlich dem allgemeinen und öffentlichen Wohl dienen. Einer Regierung ist es aufgegeben, die allgemeinen Gesetze auf die einzelnen Fälle anzuwenden. Das ausführende Organ darf die Gesetze jedoch nicht ändern. Die in den Gesetzen sich ausdrückende Freiheit der Bürger und des Staates ist von der Regierung zu schützen. Wenn die Regierung (die Exekutive) die eigene Macht auf Kosten des Gesamtwillens (der Legislative) vermehrt, gibt es kein freies Volk mehr, sondern lediglich Herren und Sklaven.
Alle Bürger einer Gesellschaft sollen den Sitten nach einfach sowie nach Recht und Besitz gleich sein. Der Glaube an Gott, an Lohn und Strafe in einem zukünftigen Leben und an die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze ist für Rousseau Voraussetzung, damit die Bürger auch wirklich gute Bürger sein können. Was der Einzelne darüber hinaus noch glauben will, ist ihm nach Rousseau freigestellt. Toleranz ist eine entscheidende bürgerliche Tugend, da Intoleranz nach Rousseaus Auffassung stets eine der Hauptquellen für Streitereien in einer Gesellschaft war.
Rousseau nennt verschiedene Regierungsformen, die für eine Gesellschaft in seinem Sinn möglich sind. Seinem Ideal einer Demokratie entsprechen zahlenmäßig kleine Gemeinschaften (Staaten) am ehesten, da dort am leichtesten der Gesamtwille festgestellt werden kann.
3.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit
Wie kühn Rousseaus Thesen zur damaligen Zeit waren, kann heute, da viele von ihnen, wie zum Beispiel die Bildsamkeit des Menschen, selbstverständlich geworden sind und zum Allgemeingut gehören, kaum noch nachempfunden werden. Rousseaus Schriften haben seine Zeitgenossen überrascht und schockiert. Im Zeitalter der Vernunft und der Wissenschaften war die radikale Verurteilung der Wissenschaften und der Künste eine ungeheuere Provokation. Die Auffassung Rousseaus, der Mensch sei primär ein Einzelwesen, das sich selbst genügt, stand in scharfem Gegensatz zu der in der Aufklärung geläufigen Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus ein geselliges Wesen.
Für die Pädagogik waren die Betonung der Lebenssituation des einzelnen Kindes, die Berücksichtigung der altersgemäßen Bedürfnisse genauso revolutionär wie das Eingehen auf die innere Natur des Kindes, seine individuelle Erlebnisfähigkeit, seine eigenen Erfahrungen, Gefühle und Leidenschaften, vor allem aber auf die Stadien seines Lebensweges, auf Kindheit und Jugend als eigene Erlebnis- und Existenzweisen (vgl. Rang 1979, 122). Rousseau hat außerdem die Erziehungstheorie von weltanschaulichen beziehungsweise ethischen Bildungssystemen getrennt (Mollenhauer 1996b, 182). Die politisch-staatsphilosophischen Thesen aus dem „Gesellschaftsvertrag“, die zum Teil im Gegensatz zu seinen pädagogischen Thesen stehen, beeinflussten maßgeblich die Zielsetzungen der Französischen Revolution.
Manfred Kappeler macht unter dem Titel „Wie Robinson war, soll Émile werden“ kritisch auf den Zusammenhang von Aufklärung, Rassismus und Erziehung bei Rousseau aufmerksam (1994, 83–109), indem er in Defoes Roman „Robinson“, auf den sich Rousseau als Ideal seiner Erziehung bezieht, zahlreiche sozial-rassistische Anteile nachweist. Ähnliche rassistische und menschenökonomische Denkmuster werden später von den Eugenikern des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen