Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
1746 sein erster Sohn geboren. Dieses Kind und vier weitere Kinder aus dieser Lebensgemeinschaft, die er erst kurz vor seinem Tod legalisieren lässt, werden gleich nach der Geburt dem Findelhaus übergeben. Damit verhält Rousseau sich so wie viele Eltern seiner Zeit. Ständige finanzielle Notlagen und zahlreiche Erkrankungen (so plagt ihn ein chronisches Blasenleiden) prägen seinen Alltag. Durch die Veröffentlichung des „Discours sur les sciences et les arts“ (Diskurs über die Wissenschaften und die Künste), einer äußerst kritischen Abhandlung im Jahre 1750, wird Rousseau berühmt. In dieser Zeit kehrt er zum Calvinismus zurück. Weil Rousseau mit seinen politischen Auffassungen in schroffem Gegensatz zum „Ancien Régime“ steht, wird er angeklagt, verurteilt und polizeilich verfolgt. Gezwungenermaßen wechselt er häufig seine Aufenthaltsorte; reiche Gönnerinnen beherbergen und unterstützen den Flüchtenden. In großen Notzeiten verdient er seinen Lebensunterhalt als Notenkopist. Trotz dieser widrigen Lebensverhältnisse ist er sehr kreativ und produktiv; zahlreiche literarische und musikalische Werke entstehen. 1762 erscheinen seine beiden berühmtesten Werke:
„Émile ou de l’éducation“ (Émile oder über die Erziehung) und „Du contrat social“ (Der Gesellschaftsvertrag). Die meisten seiner Werke bringen ihm vor allem neue Gegner; einer davon ist Voltaire. In der gemeinsamen Heimatstadt Genf werden Rousseaus Bücher verbrannt. Rousseau zieht sich seit 1772 immer mehr zurück; er wird zunehmend einsam, und schließlich isoliert ihn ein Verfolgungswahn vollends. 1778 stirbt er plötzlich. Zwölf Jahre nach seinem Tod wird er im Pariser Panthéon, dem Ehrentempel bedeutender Franzosen, beigesetzt.
3.3 Forschungsgegenstand und -interesse
Das Leben und das Werk Rousseaus sind spannungsreich und voll konträrer Neigungen und Interessen: auf der einen Seite die Begeisterung für die patriotische Tugend und das Interesse für politische Probleme, auf der anderen Seite die Empfindsamkeit und der Hang zu einsamer Träumerei (vgl. Rang 1979, 117). Aus der Fülle der Fragen, die Rousseau bewegen, nennen wir nur einige wenige: Wie kommt es, dass ein Volk ein Volk ist? Was lässt politische und rechtliche Ungleichheit entstehen, und was lässt sie beseitigen? Was legitimiert das Handeln des Staates? Was ist die Natur des Menschen in seiner konkreten und freien Existenz? Wie sind Menschen oder Bürger zu erziehen? Wie sind Individuum und Gesellschaft miteinander verbunden? Was sind die Bedingungen und Strukturen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Menschen? Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen Kraft aller die Person und den Besitz jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und kraft deren jeder Einzelne, obwohl er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?
Eine von der Dijoner Akademie ausgeschriebene Preisfrage hat bei Rousseau eine Inspiration ausgelöst, die er wie folgt beschreibt:
„Mit einem Schlage fühlte ich meinen Geist durch tausend Lichter geblendet, zahllose lebensvolle Ideen strömten auf mich ein, mit einer Kraft und Fülle, die mich in unaussprechliche Verwirrung brachte. … hätte ich damals den vierten Teil dessen niederschreiben können, was ich unter dem Baum empfand, mit welcher Klarheit hätte ich dann die Widersprüche der gesellschaftlichen Ordnung darlegen können, mit welcher Geradlinigkeit hätte ich bewiesen, dass der Mensch von Natur aus gut ist und dass die Menschen allein durch unsere Einrichtungen böse werden. Das Wenige, was ich von der Fülle der großen Wahrheiten festhalten konnte, die mich in jener Viertelstunde unter dem Baum erleuchteten, findet sich in abgeschwächter Form zerstreut in meinen Hauptschriften. Auf diese Art bin ich, ohne daran zu denken, fast wider meinen Willen zum Schriftsteller geworden“ (Rousseau, zit. nach Holmsten 1996, 64).
3.4 Wissenschaftsverständnis
Die Akademie von Dijon schreibt 1750 die Preisfrage aus: „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Verfeinerung der Sitten beigetragen?“ Rousseau antwortet in seiner Schrift „Diskurs über die Wissenschaften und die Künste“ mit einer eindringlichen Verurteilung der Vernunft, der Wissenschaften und der Künste. Mit Beispielen aus der Geschichte versucht Rousseau zu beweisen, dass zunehmende Zivilisation und Gelehrsamkeit stets zu Lasterhaftigkeit und Ungleichheit unter den ursprünglich natürlichen und tugendhaften Menschen geführt haben. Die Blüte der griechischen Wissenschaften und der Künste habe in Athen mit einem Sittenzerfall geendet; fortschreitendes Wissen und Aufklärung hätten Argwohn, Hass und Verrat mit sich gebracht. Die Triebfeder der wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit ist in den Augen von Rousseau eitle Neugier, deren Befriedigung sich nur Müßiggänger, also die Privilegierten, erlauben könnten. „Luxus, Zügellosigkeit und Knechtschaft“, so behauptet Rousseau,
„sind zu allen Zeiten die Strafe für die hochmütigen Anstrengungen gewesen, die wir gemacht haben, um aus der glücklichen Unwissenheit herauszugelangen, in die uns die göttliche Weisheit versetzt hatte. … Die Wissenschaften sind unnütz durch das, was sie erstreben, und noch viel gefährlicher durch die Wirkungen, die sie hervorbringen. Im Müssiggang entstanden, fördern sie diesen ihrerseits“ (Rousseau, zit. nach Holmsten 1996, 66).
Rousseau beschließt seinen Traktat mit einem Hymnus auf die Tugend (vertu) des einfachen, unverbildeten Menschen. Um die Tugend als erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen kennenzulernen, bedürfe es nicht vieler Mühen. Man finde ihre Grundlagen in allen Herzen eingegraben. Es genüge, in sich zu gehen und die Stimme des Gewissens zu hören, wenn die Leidenschaften schweigen. Rousseau behauptet auch später noch,
„dass die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk ist und dass wir sie beinahe vermieden hätten, wenn wir die einfache, gleichförmige und solitäre Lebensweise beibehalten hätten, die uns von der Natur vorgeschrieben wurde. Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, dass der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist und dass der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist“ (Rousseau 1990, 89).
3.5 Theorie
Die Akademie von Dijon stellt – angeregt durch Rousseaus ersten Diskurs – 1753 eine weitere Preisfrage: „Welches ist der Grund der ungleichen Bedingungen unter den Menschen, und sind diese durch das Naturgesetz gerechtfertigt?“ Hierauf antwortet Rousseau 1755 erneut mit einer – nun nicht mehr ausgezeichneten – Abhandlung, dem „Discours sur l’inégalité“ (Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen). Zur Begründung der Ungleichheit greift Rousseau auf Vorstellungen aus der Ideengeschichte der Menschheit über einen Urzustand der Menschheit, ein Paradies oder ein „goldenes“ Zeitalter, und über einen Urvertrag, einem Gesellschaftsvertrag aller Menschen, zurück; insbesondere verarbeitet er dabei Überlegungen des englischen Empiristen und Staatstheoretikers John Locke (1632–1704). Rousseau unterscheidet zwei Arten von menschlicher Ungleichheit:
•„ … die eine, die ich natürlich oder physisch nenne, weil sie durch die Natur begründet wird, und die im Unterschied der Lebensalter, der Gesundheit, der Kräfte des Körpers und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele besteht …;“
•„ … und die andere, die man moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert wird. Die letztere besteht in den unterschiedlichen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen – wie reicher, geehrter, mächtiger als sie zu sein oder sich sogar Gehorsam bei ihnen zu verschaffen“ (Rousseau 1990, 67).
Rousseau geht dem Ursprung der zweiten Art von Ungleichheit nach. Für seine Untersuchung lässt er ausdrücklich alle geschichtlichen Tatsachen beiseite, denn sie berühren seiner Meinung nach diese Frage nicht. Vielmehr nimmt er einen ursprünglichen Naturzustand des Menschen an, um daraus hypothetische und bedingungsweise geltende Schlussfolgerungen abzuleiten und die Natur der Dinge zu erhellen. In der reinen Natur, die niemals lügt, glaubt Rousseau die Geschichte des Menschen zu erkennen. Alles, was von ihr kommt, ist wahr. Und darum ist die Natur die Quelle der Erkenntnis. Rousseau ist sich bewusst, dass der von ihm angenommene vorgesellschaftliche Naturzustand nicht wirklich existiert hat. Trotzdem sei es notwendig, einen klaren Begriff