Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
Verwaltung ist effektiv, Landwirtschaft und Gewerbe blühen, die Kunst wird ebenso gefördert wie die Wissenschaft, die vor allem in der Astronomie und Medizin das griechisch-hellenistische Denken aufgreift und weiterentwickelt. Mit dem Zusammenschluss der Königreiche Kastilien und Aragon wird Spanien politisch geeinigt und die Krone erstarkt. Die innere politische Einheit wird durch die religiöse erzwungen, und dem Glaubenszwang fallen vor allem Juden zum Opfer, wenn sie sich nicht durch Konversion zur Kirche oder durch Flucht entziehen können.
Flandern (südliche Niederlande, nordwestliches Belgien) mit seinen Städten Brügge und Gent entwickelt sich bereits ab dem Hochmittelalter zu einem Zentrum der europäischen Wirtschaft und des Welthandels. Die Grundlagen dieser Wirtschaftskraft bilden die Tuchherstellung, der Handel, die Seehäfen und schiffbare Flüsse. 1384/85 wird das Land Teil des Herzogtums Burgund und erfährt bis 1477, als die Habsburger das Erbe der Burgunder Herzöge antreten, den größten wirtschaftlichen Aufschwung, der ein Aufblühen der Kultur (Stadt- und Bürgerkultur, Demokratisierung) zur Folge hat. Vives, der sich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens überwiegend in Flandern aufhält, erlebt bereits die Anfänge des beginnenden Niedergangs dieser Region, den die Habsburger mit der Zentralisierung der Verwaltung, der Schmälerung ständischer Freiheiten und der Unterdrückung der Reformation befördern und der zahlreiche Arbeitslose und BettlerInnen in den Städten zur Folge hat (vgl. Sachße/Tennstedt 1980, 23–84).
2.2 Biografischer Kontext
Juan Luis Vives wird 1492 in Valencia (Spanien) als Kind angesehener, aber armer spanischer Adliger geboren (vgl. Edelbluth 1912, 5–14; Deuringer 1966; Scherpner 1974, 78–109, 214–219; Zeller 2006). Kurz vor seiner Geburt schließen sich seine jüdischen Eltern mit ihrer Familie der katholischen Kirche an. Mit dem Vorwurf, auch nach der Taufe noch jüdische Bräuche praktiziert zu haben, werden beide Eltern später von der Inquisition verurteilt und vermutlich hingerichtet. Vives selbst bleibt trotz dieser schlimmen Erlebnisse und vieler eigener kritischer Einwände gegen die Kirche und ihre Lehre während seines ganzen Lebens Mitglied der katholischen Kirche und lehnt die lutherische Bewegung ab. Nachdem Vives zunächst in Valencia Latein und Griechisch studiert hat, wechselt er im Alter von 17 Jahren an die Pariser Universität (1509) und setzt dort sein Studium in Philologie, Philosophie und Theologie fort. Er ist zunächst eifriger Anhänger und Verfechter der Scholastik, attackiert diese aber später genauso entschieden. Im Jahre 1512 zieht Vives nach Brügge, studiert dort weiter und unterrichtet Kinder aus einflussreichen Familien. Brügge in Flandern (heute Belgien) ist damals ein Zentrum jüdisch-spanischer Kaufleute, die wegen ihrer Verfolgung Spanien verlassen mussten. Dort heiratet Vives auch seine spanische Frau. Von 1521 an lehrt Vives Latein an der neuen Universität in Löwen (Belgien) und freundet sich mit führenden europäischen Humanisten an. Vor allem der Einfluss des Erasmus von Rotterdam (1466 [bzw. je nach Quelle 1467, 1469] bis 1536) führt ihn zum Humanismus. Als Erasmus 1523 nach Basel übersiedelt, nimmt Vives auf Vermittlung von Thomas Morus einen Lehrauftrag für klassische Sprachen und Recht in Oxford (England) an. Angesichts der vielen Bettler in Brügge schreibt Vives 1525 seine Schrift „De subventione pauperum“ (Über die Unterstützung der Armen) und widmet sie dem Magistrat der Stadt Brügge. Bis 1528 verbringt Vives jährlich mehrere Monate in England, teils als Hauslehrer am königlichen Hof in London, teils als Lehrer an der Universität in Oxford. Mit seinem gründlichen und breiten Wissen umfasst er die Wissensbereiche seiner Zeit. Er verfasst zahlreiche theologische, philosophische, philologische, pädagogische und sozial-kritische Abhandlungen. Am bekanntesten ist sein Werk „De disciplinis“ (Über die Wissenschaften), das 1531 entsteht. Er ist anerkannt und hat ein gutes Einkommen. Wegen seines Widerstandes gegen die Ehescheidungsaffären Heinrichs VIII. wird Vives jedoch in England vom König verhaftet. Der König nimmt ihm die Hauslehrerstelle und auch die Stellung in Oxford und damit zugleich sein festes Einkommen. Als armer und verbitterter Mann kehrt Vives nach Brügge zurück und lebt dort bis zu seinem Tod. Wirtschaftliche Not und eine zerrüttete Gesundheit belasten ihn und seine Familie. Seinen Lebensunterhalt erwirbt er durch Unterrichten und Schreiben. Seine Vorliebe gilt der Pädagogik. Isoliert stirbt Vives – gerade 48 Jahre alt – 1540 in Brügge.
2.3 Forschungsgegenstand und -interesse
Vives interessiert sich für alle Fragen seiner Zeit. Die Einigkeit der christlichen Staaten gegenüber dem vordrängenden Islam, der Frieden in Europa und das Gemeinwohl aller Menschen bewegen ihn und lassen ihn nach Antworten suchen. In seinen Abhandlungen über „Eintracht und Zwietracht“ entwirft er Utopien und fordert allgemeine Reformen (vgl. Heine 1881).
Die Not der vielen Armen in seiner Heimatstadt berührt Vives und veranlasst ihn, sich mit deren Situation zu befassen und konkrete Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lebenssituation zu erarbeiten. Brügge ist wie alle anderen mittelalterlichen Städte auch von Spitalinsassen, öffentlichen BettlerInnen und Hausarmen überfüllt. Die Frage „Wie kann die Not der Armen gelindert werden?“ bewegt Vives. Für den Rat der Stadt Brügge analysiert er die Lage der städtischen Armen. Er will der von ihm sehr geschätzten Verwaltung seiner belgischen Heimatstadt helfen und entwirft eine Theorie darüber, wie man die Armen von ihrem schlimmen Schicksal und zugleich Brügge von seiner „Bettlerplage“ befreien kann. Vives setzt bei der wirtschaftlichen Not der Armen an. Als engagierter Pädagoge berücksichtigt er aber zugleich pädagogische und sittliche Aspekte, und als überzeugtem Christ ist für ihn die christliche Religion Grundlage aller Bildung, auch bei den Armen.
2.4 Wissenschaftsverständnis
In seinen Abhandlungen „Über die Wissenschaft“ von 1531 kritisiert Vives den Verfall der einzelnen Wissenschaften und prangert die Geldsucht der Gelehrten und den Handel mit akademischen Würden an (vgl. Vives 1912). Wissenschaft ist für Vives „die Zusammenstellung allgemein gültiger, für unser Erkennen und Handeln und Wirken dienlicher Regeln unter Zugrundelegung eines bestimmten Endzweckes“ (a. a. O., 114). Wissenschaft wird für ihn zum Nutzen des Menschen betrieben und letztlich zum Lobe Gottes. Folglich lehnt Vives Wissenschaften, die seiner Meinung nach erfunden wurden, um den Menschen zu schaden, ab, wie die Kunst des Giftmischens, die Zauberei oder den Teil der Kriegswissenschaften, der den Menschen Tod und Verderben bringt (a. a. O., 121). Die Theologie ist für Vives die Wissenschaft der Wissenschaften. Basis von Wissenschaft und Bildung ist folglich der christliche Glaube. Vives versucht, humanistische Ideale und katholische Glaubenslehre miteinander zu verschmelzen. Jede Art von Schule und Erziehung hat für ihn nur eine Daseinsberechtigung als Dienst am sittlichen Leben. So ist es für ihn unabdingbar, dass ein guter Wissenschaftler auch ein sittlich gutes Leben führen muss.
Vives verlangt gute historische Kenntnisse, wendet sich gegen eine kritiklose Übernahme der Lehrmeinungen von Autoritäten und betont den Wert der Philologie und der Textkritik. Es lassen sich
„deutlich entwickelte Keime baconscher Anschauungen bei Vives finden. Streben nach wissenschaftlicher Methode, die Forderung eigener Beobachtungen und des Sammelns von Erfahrungen, das Verfahren der Induktion, der Hinweis, dass die Wissenschaften für das Leben nutzbar zu machen sind und nur insofern Wert haben, also das Nützlichkeitsprinzip, sind die wesentlichsten Punkte, in denen sich die Anschauungen von Vives und Bacon begegnen“ (Heine 1881, LVI ff.).
2.5 Theorie
Vives steht mit seinen Grundannahmen und -aussagen auf christlichem, das heißt katholischem Boden, kennt und folgt in vielem den Thesen von Thomas von Aquin. Seine Argumentation basiert in der Regel auf Zitaten aus den hl. Schriften und mitunter auch auf Auszügen aus den Werken griechischer und römischer Philosophen und Schriftsteller (Aristoteles, Plato, Cicero u. a.).
(1) Paradies und Sündenfall: Die Welt und die Menschen sind von Gott geschaffen und darum von Natur aus gut. Die Menschen haben aber ihre von Gott gegebene Freiheit missbraucht und gesündigt; deswegen mussten sie das Paradies verlassen. Mit dem Sündenfall ist die menschliche Vernunft verdunkelt und sind die Triebe entfesselt worden. Trotz des Sündenfalls existieren weiterhin die natürlichen und vernünftigen Grundlagen für das Leben. Das menschliche Leben ist auf ein