Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck

Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck


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Lehensrecht konsequent an, erweitert seine Krondomäne, reformiert die Verwaltung und betreibt eine offensive Städtepolitik.

      An Kloster- und Kathedralschulen bilden sich Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden. Auf diese Weise werden in der Mitte des 12. Jahrhunderts die ersten Universitäten gegründet (Bologna, Paris). Die große Mehrheit der Bevölkerung bleibt aber von jeglicher Bildung ausgeschlossen und kann weder schreiben noch lesen. Die Philosophie und die Theologie sind im Hochmittelalter die führenden Wissenschaftsdisziplinen. Mit der (Hoch-)Scholastik findet eine spezifische Form des wissenschaftlichen Argumentierens (Begründung der Glaubensinhalte) und der Systematisierung des Wissens ihren Höhepunkt. Diese wissenschaftlichen Bemühungen sind vor allem durch neue naturwissenschaftliche Themen hervorgerufen, die durch die Erforschung der Schriften des „heidnischen“ Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) und arabisch-islamischer und jüdischer Autoren (Medizin, Astronomie, Mathematik) aufgeworfen und in Kommentaren und Summen (das sind zusammenfassende und abschließende Systeme der Welterkenntnis) reflektiert werden. Es werden aber auch kritische Stimmen gegen an Autoritäten orientierte Wissenschaftsauffassungen laut; so fordert der englische Franziskaner Roger Bacon (um 1214 bis 1292/1294) als Methode wissenschaftlichen Arbeitens das Zurückgehen auf die unmittelbare Erfahrung, das heißt auf die Beobachtung und Befragung der Natur mittels des Experiments, in dem er die Quelle allen wahren Weltwissens sieht.

       1.2 Biografischer Kontext

      Thomas von Aquin wird um die Jahreswende 1224/25 als Sohn des Grafen von Aquino, eines Verwandten der hohenstaufischen Kaiserfamilie, in der Nähe Neapels geboren (vgl. Chenu 1995; Forschner 2006; Schönberger 2012 u. a.). Mit fünf Jahren kommt er zur Erziehung zu den Benediktinern ins Kloster Monte Cassino. Als 14-Jähriger beginnt er an der Universität Neapel zunächst die freien Künste, dann Theologie zu studieren (1239–1244). Zum Entsetzen seiner reichen Familie und seiner Freunde entschließt sich der 17-jährige Thomas, in den gerade gegründeten Bettelorden der Dominikaner einzutreten, um Gott und der Wissenschaft in Armut zu dienen. Gegen den massiven Widerstand seiner Familie setzt er seinen Entschluss durch. Kurz nach dem Tod seines Vaters (1244) reist Thomas bereits als Ordensmitglied nach Paris, um dort seine Studien fortzusetzen. Mitglieder der Familie überfallen den Reisenden in der Toskana, entführen ihn, hindern ihn mit Gewalt daran, seinen gewählten Weg zu gehen, und setzen ihn in Haft. Da Thomas sich auch nach einem Jahr Haft nicht dem Willen der Familie beugt, lässt man ihn frei. Thomas nimmt sogleich sein Ordensleben wieder auf und macht sich erneut auf den Weg nach Paris.

      An den Universitäten in Paris, dem damaligen Zentrum der europäischen Theologie, und in Köln vertieft Thomas seine Studien (1245–1252). Sein wissenschaftliches Interesse gilt vorrangig dem Werk des griechischen Philosophen Aristoteles, das er erforschen und für die Theologie aufarbeiten will. Die von Arabern und Juden nach Europa gebrachten Werke des „Materialisten“ Aristoteles werden von der Kirche als heidnisch abgelehnt und dürfen nicht gelehrt werden. Von 1252 an ist Thomas als theologischer Lehrer in Frankreich und Italien tätig; 1254 wird er Magister der Theologie. Mit seinem Kölner Lehrer und Ordensbruder Albertus Magnus (1200–1280) verbindet ihn eine lebenslange Freundschaft. Den Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn erlebt Thomas bei seinem zweiten Aufenthalt in Paris von 1269 bis 1272. Während dieses Aufenthalts verfasst er auch seine „Summa theologica“ (Theologische Summe). In dieser Zeit wird Thomas in Europa als herausragender Gelehrter und Lehrer gefeiert und zugleich von Klerus und Professoren wegen seiner Lehren heftig bekämpft. Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbringt er wieder lehrend in Neapel an der dortigen Ordensuniversität. Thomas wird nur 50 Jahre alt und stirbt am 7. März 1274 in dem Zisterzienserkloster Fossanova (Latium) auf einer Reise, die er wie alle seine Reisen zu Fuß und bettelnd durchführt, zum Konzil von Lyon.

      Er hinterlässt zahlreiche philosophische und theologische Schriften. 1322 wird Thomas von der Kirche heiliggesprochen. Seine Auffassungen werden später in ihrer Radikalität „entschärft“ und weitgehend zur amtlichen Lehre (Scholastik) der römisch-katholischen Kirche.

       1.3 Forschungsgegenstand und -interesse

      Thomas von Aquin befasst sich in seinem umfangreichen schriftstellerischen Werk mit allen Fragen des Wissens und des Glaubens seiner Zeit. Fragend geht er an alles, was er sieht, hört und feststellt, heran und versucht, radikal denkend den Dingen auf den (göttlichen) Grund zu kommen. Auch Themen wie Armut, Almosen, Gesellschaftsordnung, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Arbeitspflicht, Lebensunterhalt und Wohltätigkeit behandelt er vor allem im Rahmen seiner Sozialethik in der „Summa theologica“ sowie in seinen Schriften zur Rechts-, Staats- und Gesellschaftsphilosophie. Die Ausführungen sind stets in sein theologisches Weltverständnis eingebettet. Das ewige Heil des Menschen und sein eigenes ewiges Heil stehen im Mittelpunkt seines persönlichen Forschungsinteresses. Seine „Sozialarbeitstheorie“ ist daher als christliche Sozialethik praktisch orientiert und gibt normativ an, was Menschen tun müssen, damit sie ihr Lebensziel, die ewige Gemeinschaft mit Gott, erreichen.

       1.4 Wissenschaftsverständnis

      Die Theologie ist für Thomas von Aquin die höchste Form des Wissens. Sie ist Weisheit inmitten der Wissenschaften. Die Wissenschaften führen auf ihrer Ebene nur zu einer Weisheit auf der Stufe rationaler Gewissheit. Die Überlegenheit der theologischen Weisheit kommt für ihn daher, dass sie in der Hierarchie der Stufen des Wissens und der Hierarchie der Ursachen Gott zum Gegenstand hat, die höchste Ursache der Dinge in ihrem Werden wie in ihrer Zielstrebigkeit (vgl. Chenu 1995, 44 f.).

      Thomas von Aquin ist fest davon überzeugt, dass das Sein als gesetzmäßig geordnete Realität vom Menschen vorgefunden wird und dass wir diese Realität mit unserem Verstand erkennen können. Die Gegenstandswelt, in der der Mensch lebt und die er wahrnimmt, ist eine Schöpfung Gottes. Mit der menschlichen Vernunft kann die Welt nicht ganz erkannt werden, sondern eben nur die gesetzmäßig geordnete Realität. Über dem Reich der philosophischen Erkenntnis erhebt sich das Reich der übernatürlichen Wahrheit. Dieser Bereich bleibt dem philosophischen Erkennen verborgen und ist nur durch Glauben zugänglich. Der dreieine Gott, die Menschwerdung und die Auferstehung Jesu sind die zentralen Glaubensgeheimnisse und von Gott selbst den Menschen geoffenbart; diese Geheimnisse können nur gläubig hingenommen werden. Vernünftiges Erkennen und gläubiges Aufnehmen widersprechen sich für Thomas nicht, da die Wahrheit nur eine ist und auf Gott zurückgeht. Die Welt ist Schöpfung Gottes und auf Jesus Christus als den höchsten Herrn bezogen.

      Thomas versteht die Theologie auch als praktische Wissenschaft, die den Menschen zum Handeln anleitet. Ein Dreifaches ist dem Menschen zum Heile notwendig: „Zu wissen, was er glauben, zu wissen, wonach er verlangen, und zu wissen, was er tun soll“.

       1.5 Theorie

      In der Schöpfung hat Gott – nach Thomas – seine göttlichen Ideen realisiert. Die Welt ist für ihn daher ein Abbild Gottes und folglich insgesamt gut, weil Gott gut ist und nichts Schlechtes schaffen kann. Daraus ergibt sich für Thomas eine vollständige und heilige Ordnung des Seins. Diese Ordnung ist hierarchisch gestuft aufgebaut.

      (1) Heilige Ordnung: Der Gedanke der heiligen Ordnung, in der sich die Welt befindet, beherrscht das gesamte Denken von Thomas. Im Universum ist nichts planlos oder chaotisch. Alles ist hingeordnet auf das höchste Ziel der Schöpfung, nämlich auf Gott. In der Hinordnung auf dieses Höchste gibt es dem Ziel nähere und fernere, höhere und niedrigere Positionen. Dadurch kommen in der Schöpfung Gradstufen und Maße, Gattungen und Arten zustande, die eine natürliche Ordnung schaffen.

      Von Gott haben die Naturen, was sie als Naturen sind. Und sie sind darum nur insoweit fehlerhaft, als sie vom Planen des Meisters, der sie erdacht hat, abweichen. Diese Abweichung ist möglich, weil der Mensch über einen freien Willen verfügt (vgl. Thomas von Aquino 1985a, 276 f.). Wenn der Mensch seiner Vernunft folgt, die ihn ja den richtigen Weg erkennen lässt, ist er das edelste Wesen. Folgt er aber seiner Begierde und sündigt, dann wird er das wildeste Tier; denn in der menschlichen Natur steckt ein hohes Kraftpotenzial.


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