Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
Die ausgewählten Theorien werden in vier Gruppen und in der Reihenfolge der Geburtsjahrgänge der AutorInnen dargestellt.
Der erste Teil „Vom Armutsideal bis zum Bauen von Hütten der Liebe“ besteht hauptsächlich aus frühen vorwissenschaftlichen Programmen, Konzepten und Theorien. Sie stehen stellvertretend für verschiedene Arten des Umgangs mit sozialen Problemen (Armut, Krankheit, Behinderung, Alter usw.) in der europäischen Geschichte der Sozialen Arbeit vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Im Mittelalter wurden soziale Probleme vor allem im Rahmen der Theologie und der Philosophie behandelt. Bald danach wurde die Reflexion sozialer Probleme von der Theologie getrennt und erfolgte in anderen, aus der Philosophie sich herausdifferenzierenden und neu gebildeten Wissenschaftsdisziplinen. Diese Entwicklung repräsentieren im ersten Teil des Buches Thomas von Aquin (1224–1274), Juan Luis Vives (1492–1540), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Adam Smith (1723–1790), Thomas Robert Malthus (1766–1834) und Johann Hinrich Wichern (1808–1881). Die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln und die damit verbundene historische Vergewisserung, dass Soziale Arbeit als Wissenschaft und Praxis eine lange Tradition hat, können Fixierungen auf Tagesfragen verhindern und das Selbstbewusstsein der Profession stärken.
Der zweite Teil „Von der Gemeinschaftserziehung bis zur Behebung der Not“ enthält Theorien der Sozialen Arbeit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Teil stellen wir bis auf eine Ausnahme nur Theorien aus dem deutschsprachigen Raum dar. Sie zeigen bereits eine deutliche Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft. Die Theorien sind primär Berufstheorien oder stehen schon als wissenschaftliche Theorie im Zusammenhang mit der Professionalisierung der Sozialen Arbeit und der Ausbildung für die Soziale Arbeit. Die anderen AutorInnen stehen für primär psychologisch, wirtschaftlich, pädagogisch, feministisch, politisch und anthropologisch orientierte Theorieansätze der Sozialen Arbeit. Als RepräsentantInnen haben wir ausgewählt: Paul Natorp (1854–1924), Jane Addams (1860–1935), Christian Jasper Klumker (1868–1942), Alfred Adler (1870–1937), Alice Salomon (1872–1948), Gertrud Bäumer (1873–1954), Ilse von Arlt (1876–1960) und Herman Nohl (1879–1960).
Der dritte Teil „Von der sozial-rassistischen Auslese bis zum gelingenderen Alltag“ enthält Theorien der Sozialen Arbeit aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Theorien erfüllen in etwa die Ansprüche, die heute allgemein an eine wissenschaftliche Theorie gestellt werden. Die ausgewählten Theorien repräsentieren wichtige unterschiedliche wissenschaftstheoretische Ansätze der Theoriebildung und beziehen sich auf den Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit insgesamt und beschränken sich nicht auf Teilgebiete Sozialer Arbeit (z. B. auf Heimerziehung oder Bewährungshilfe). In diesem Teil stellen wir vor: Hans Muthesius (1885–1977), Hans Scherpner (1898–1959), Carel Bailey Germain (1916–1995) mit Alex Gitterman (* 1938), Klaus Mollenhauer (1928–1998), Marianne Hege (* 1931), Lutz Rössner (1932–1995), Karam Khella (* 1934) sowie Hans Thiersch (* 1935).
Der vierte Teil „Vom menschengerechten Handeln bis zur Gerechtigkeit und dem guten Leben” enthält relevante Theorien der Sozialen Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die AutorInnen dieser Theorien befassen sich verstärkt mit den gegenwärtigen Veränderungen der Gesellschaft, die durch Digitalisierung, Automatisierung, Kommerzialisierung, Autonomiestreben, Migration und Individualisierung entstehen und neue soziale Probleme generieren. Die AutorInnen verstehen ihre Theorien ausdrücklich als Theorien der Sozialen Arbeit. Ausgewählt haben wir: Silvia Staub-Bernasconi (* 1936), Lothar Böhnisch (* 1944), Margrit Brückner (* 1946), Bernd Dewe (1950–2017) mit Hans-Uwe Otto (* 1940), Rudolf Leiprecht (* 1955) mit Paul Mecheril (* 1962), Ulrich Deinet (* 1959) mit Christian Reutlinger (* 1971), Björn Kraus (* 1969) und Dieter Röh (* 1971).
5 Selbstkritische Anmerkungen
Zweck und Ziel dieses Buches führen dazu, dass es eher einem groben Holzschnitt als einer feinen Federzeichnung gleicht. Komplexes wird vereinfacht, Differenzierungen werden vernachlässigt, und Details werden weggelassen, um didaktische Absichten zu erfüllen und dem vorgegebenen Rahmen gerecht zu werden.
Über unsere Auswahl der Theorien kann man streiten. Der zur Verfügung stehende Buchumfang hat uns zu einer Auswahl gezwungen. Auf wichtige und interessante deutschsprachige Vertreter haben wir verzichten müssen, so etwa auf Friedrich E. Schleiermacher (1768–1834) und Karl H. Marx (1818–1883). Theorien zu sozialen Problemen und ihren Lösungen zum Beispiel aus England, Finnland, Frankreich, Italien, Norwegen, Polen, Russland, Schweden, Spanien, Ungarn usw. mussten wir weitgehend unberücksichtigt lassen (vgl. Puhl/Maas 1997; Hering/Waaldijk 2002; Erath 2011 u. a.), ganz zu schweigen von Theorien, Modellen, Ansätzen und Konzeptionen außerhalb Europas (vgl. Graham 2002; Turner 2011; Payne 2014; Healy 2014 u. a.). Angesichts der Globalisierung der sozialen Probleme wäre es hilfreich und notwendig, auch andere europäische und außereuropäische TheoretikerInnen mit ihren Theorien zur Sozialen Arbeit in eine solche Darstellung einzubeziehen (vgl. www.ifsw.org). Auch bei der Beschränkung auf deutschsprachige TheoretikerInnen konnten wir wichtige TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit nicht berücksichtigen, zum Beispiel Max Weber (1864–1920), Aloys Fischer (1880–1937), Hans Pfaffenberger (1922–2012) und C. Wolfgang Müller (* 1928). Auch wurde aus dem gleichen Grund die Auswahl der TheoretikerInnen von Auflage zu Auflage dieses Buches immer wieder verändert. So kann ein Blick in ältere Ausgaben dieses Buches zusätzliche Theorien erschließen.
Unsere Auswahl spiegelt die Geschlechterproblematik in der Sozialen Arbeit wider: ein paar Autorinnen und fast nur Autoren von Theorien der Sozialen Arbeit. Auch in der Sozialen Arbeit gibt es einen Gender Bias: Männer nehmen die führenden Positionen in der Theoriebildung, in der Leitung der Praxis und auch in der Lehre/Ausbildung ein, während Frauen stärker die alltägliche Arbeit in der Praxis ausführen.
Vierzig Jahre hat es gedauert, ehe sich deutsche VertreterInnen der Sozialen Arbeit angemessen mit der Sozialen Arbeit während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland von 1933 bis 1945 befasst haben. Das Dritte Reich wurde aus der Geschichte der Sozialen Arbeit schlichtweg mit der These ausgeklammert: Die Entwicklung der Sozialen Arbeit wurde in Deutschland durch die Machtübernahme Hitlers 1933 jäh unterbrochen und setzte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 wieder neu ein (vgl. Schmidt 1981, 44 f.; Schilling/Zeller 2012, 46). Den Wendepunkt vom Verschweigen zur offensiven Erforschung und selbstkritischen Auseinandersetzung markiert das Erscheinen des von Hans-Uwe Otto und Heinz Sünker herausgegebenen Sammelbandes „Soziale Arbeit und Faschismus“ im Jahre 1986. Die drei Fragen: „Wie wurde die Theorie der Sozialen Arbeit in die Einheitsideologie des Dritten Reiches eingewoben? Was trat an die Stelle der im engeren Sinne sozialpädagogischen Praxis? Wie verstrickten sich das Wohlfahrts-, Fürsorge- und Fürsorgeerziehungssystem und ihre ProtagonistInnen in den totalitären Staat?“ müssen beantwortet werden (vgl. Buchkremer 1995; Kappeler 2006; Amthor 2017). Soziale Arbeit gehörte in der Gestalt von „Volkspflege“ mit ihren Institutionen und Handlungsfeldern, Organisationsformen und Programmatiken zur nationalsozialistischen Gesellschaft (vgl. Sünker 1996, 511). Viele Millionen Deutsche haben Adolf Hitlers sozialrassistische Ideen – die eine lange europäische Tradition haben (vgl. Kappeler 1994; 1999) – und Programme übernommen. Zu den VertreterInnen der deutschen FürsorgerInnen, SozialpädagogInnen und SozialpolitikerInnen, die in der Zeit von 1932 bis 1945 sozial-rassistische Thesen mehr oder weniger stark vertreten haben, gehören Ernst Krieck (1882–1947), Hans Muthesius (1885–1977), Helene Wessel (1898–1969), Franz-Josef Wuermeling (1900–1986) und andere; und auch Christian Jasper Klumker, Alice Salomon, Herman Nohl, Gertrud Bäumer, Aloys Fischer und Hans Scherpner sind nicht frei davon (vgl. Wollenweber 1983a; Cogoy/Kluge/Meckler 1989; Kappeler 1999; 2000; 2006 u. a.). Wir haben Muthesius für dieses Buch ausgewählt, weil er vor und nach dem Dritten Reich eine hervorragende Rolle im „Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge“ gespielt und lange Zeit – auch international – als eine Leitfigur der deutschen Sozialen Arbeit gegolten hat. In diesem Buch berücksichtigen wir primär, wie sich Muthesius in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an die nationalsozialistische Rassenideologie angeschlossen hat; andere Aspekte seines Lebenswerkes und seiner Auffassungen