Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
selbst als Vertreter einer sozial-rassistischen Theorie der Sozialen Arbeit anzuführen, bietet zu leicht die Möglichkeit, sich von sozialrassistischen Theorien und Taten in der Sozialen Arbeit zu distanzieren, sie einem „Unmenschen“ zuzuschreiben und die eigenen Neigungen zu verdrängen.
Fraglich ist es für uns, ob sich alle von uns ausgewählten AutorInnen überhaupt damit einverstanden erklärt hätten, als AutorIn einer Theorie der Sozialen Arbeit bezeichnet zu werden. Diese Frage muss zumeist unbeantwortet bleiben. Wir können nur darauf verweisen, dass es auch in anderen Wissenschaften üblich ist, AutorInnen in die eigene Theoriegeschichte einzubeziehen, die sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich zu dieser Wissenschaft bekannt haben und auch nicht bekennen konnten, weil es diese damals in der heutigen Gestalt noch nicht gegeben hat.
Wir sind uns bewusst, dass unser Unternehmen, 31 Theorien auf wenigen Seiten darzustellen, sehr couragiert ist, und unsere Darstellungen kritisch gesehen werden können. Die umfangreichen Publikationen beispielsweise von Smith, Rousseau, Pestalozzi, Wichern, Mollenhauer und anderen enthalten auch sich ausschließende Aussagen. Insofern können auch andere Darstellungen als unsere mit Quellenangaben belegt werden. Fehlende Kenntnisse und unzulängliche Rezeption unsererseits können bei der Materialfülle trotz unseres Bemühens um Sorgfalt und Genauigkeit zu verzerrten oder fehlerhaften Darstellungen geführt haben. Unsere ausführlichen Quellen- und Literaturangaben sollen auch der Überprüfung unserer Ausführungen dienen.
Nur selten werden von den AutorInnen alle Thesen in einem Werk systematisch zusammengefasst und zu einer in sich geschlossenen Theorie verbunden (vgl. Rössner 3.6). Häufig haben AutorInnen mehrere Werke geschrieben, in denen sie ihre Theorie(n) entwickeln; in den verschiedenen Werken behandeln sie nur verschiedene (Teil-) Aspekte ihrer Theorie (vgl. Thiersch 3.8). Manche Theorien kann man nur verstehen, wenn man die Gegenposition kennt, mit der sich die AutorInnen auseinandersetzen und die sie widerlegen möchten (vgl. Klumker 2.3 und Malthus 1.6). Bisweilen werden zudem von Werk zu Werk Positionen gründlich geändert (vgl. Mollenhauer 3.4). Mitunter werden frühere Thesen später durch neue Erkenntnisse ausgeweitet (vgl. Staub-Bernasconi 4.1).
Wir beschreiben die Theorien aus unserer Sicht und hoffen, dass wir dem Selbstverständnis der AutorInnen gerecht geworden sind. Bei der Darstellung der Theorien haben wir uns bemüht, möglichst nahe an der Sprache und den Denkfiguren der jeweiligen AutorInnen zu bleiben. Viele AutorInnen haben jedoch in ihrer Theorie eine eigene Sprachwelt geschaffen, neue Fachbegriffe entwickelt oder bekannten Begriffen einen neuen Inhalt gegeben; wie zum Beispiel bei „Lebenswelt“, „Konstruktivismus“, „Hilfe“ und „Profession“. Bei manchen Theorien wäre ein Glossar zum besseren Verständnis hilfreich.
Manche Titel für die Theorien und auch die Darstellungen der Theorien selbst geben die bei den Theorien real vorhandenen Wendungen, Widersprüche und Brüche nur unzureichend wieder. Wir haben aufgrund der Quellen und unter Zuhilfenahme der Sekundärliteratur versucht, ein durchgehendes Anliegen des/der AutorIn zu ermitteln und dafür eine dementsprechende Überschrift zu finden. Wir sind uns bewusst, dass eine Festlegung auf ein einziges, zentrales Thema den AutorInnen und ihren Anliegen nur bedingt gerecht wird.
Vor allem bei den neueren Theorien stehen wir vor der Herausforderung, dass diese oft in Zusammenarbeit von weit mehr als einer oder zwei Personen erstellt und weiterentwickelt werden. Hier haben wir versucht, prägende Hauptpersonen zu benennen und weitere relevante Beteiligte in ergänzenden Zitaten und Quellenangaben mit zu benennen.
Auf eine ausdrückliche kritische Kommentierung und Würdigung der einzelnen Theorien haben wir verzichtet. Das bedeutet nicht, dass wir die Theorien nicht kritisch sehen und reflektieren. Vorrangig ist es für uns, die AutorInnen mit ihren Theorien möglichst original zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir die Bedeutung der einzelnen Theorien für die Soziale Arbeit (vgl. Punkt 6 im oben dargestellten Leitfaden) erörtern, dann gehen damit selbstverständlich unsere eigenen Sichtweisen und die Einschätzungen unseres Umfeldes mit ein. Wir haben zwar versucht, uns möglichst auf nachprüfbare Kriterien (wie z. B. Anzahl, Auflagenhöhe und Verbreitung der Publikationen, Beachtung in der Fachliteratur, Häufigkeit der Nennung in Literaturverzeichnissen usw.) zu stützen. Es liegen jedoch fast keine sozialwissenschaftlichen Anforderungen genügenden Erhebungen zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Theorien der Sozialen Arbeit in der Praxis und der Ausbildung vor. Unser Bemühen um eine möglichst originalgetreue Darstellung mit entsprechenden Zitaten bedeutet nicht, dass wir die vorgetragenen Thesen teilen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, in diesem Studienbuch konzentriert eine Auswahl von Theorien der Sozialen Arbeit, die für die gegenwärtige Soziale Arbeit relevant sind, zu vermitteln. Die kritische Würdigung und Bewertung der einzelnen Theorien überlassen wir den LeserInnen (Anregungen dazu siehe Engelke/Spatscheck/Borrmann 2016, 316).
1Die Bezeichnung „Soziale Arbeit“ verwenden wir als Begriff, der die historischen und aktuellen Traditionen von Armenpflege, Fürsorge, Caritas, Diakonie, Jugendhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit und Sozialpädagogik umfasst. Aus sprachlichen Gründen benutzen wir gelegentlich Sozialarbeit synonym für Soziale Arbeit; insbesondere dann, wenn ein Adjektiv erforderlich ist, wählen wir sozialarbeiterisch. In der Sozialen Arbeit Tätige bezeichnen wir als SozialarbeiterInnen, beziehen dabei aber auch SozialpädagogInnen, GemeinwesenarbeiterInnen, FürsorgerInnen usw. mit ein.
2Bei der Darstellung des historischen Kontextes haben wir uns vornehmlich auf Zeitungsarchive und die Geschichtsbücher von Grundmann 1988, Kinder/Hilgemann 2005 u. a. gestützt.
Einleitung
Wir Menschen sehen uns selbst im Unterschied zu anderen Lebewesen als vernunftbegabte und unserer selbst bewusste Lebewesen an. Als vernünftige Menschen müssten wir eigentlich aus unserer eigenen Geschichte und der Geschichte anderer Menschen lernen. Doch dies tun wir nicht immer, auch nicht im Bereich der Sozialen Arbeit. Selten wird die Geschichte der Menschheit erforscht, um zu erfahren, wie früher jeweils mit sozialen Problemen umgegangen worden ist. Genauso selten befassen wir uns mit den theoretischen wie auch praktischen Lösungsversuchen unserer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, um daraus für unsere Zeit zu lernen. Wir scheinen eher auf die Gegenwart fixiert zu sein und vernachlässigen darüber unsere Einbindung in die Geschichte. Oft wird davon ausgegangen, dass unsere heutige Situation und die gegenwärtige Art und Weise, über soziale Probleme nachzudenken, einmalig seien. Unsere Lebenssituation hat es zwar so, wie sie jetzt ist und wahrgenommen wird, noch nie zuvor gegeben, dennoch ist sie nicht völlig neu. Wenn wir nach dem Neuen fragen, dann sollten wir immer auch das Alte sehen. Dann würden wir auch sehen, dass das Alte nie so alt gewesen und das Neue nie so neu gewesen ist, wie es scheint (Hans-Georg Gadamer). Die Gegenwart ist immer das Ergebnis vorhergegangener Ereignisse. Die Vergangenheit vergeht nicht, sondern wirkt in die Gegenwart und in die Zukunft weiter. Probleme, die sich in der Gegenwart stellen, folgen oftmals nicht zuletzt aus früher praktizierten Problemlösungen.
Wenn man in der Sozialen Arbeit aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen will, ist zu fragen, bei welcher Zeitepoche man bei einem solchen Rückblick anfangen soll. Hierüber gibt es, je nachdem, wie Soziale Arbeit definiert wird, kontroverse Auffassungen. Ein weiter Konsens besteht unter TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit allerdings darin, dass die berufliche Soziale Arbeit mit der vom Frühkapitalismus produzierten Massenarmut ihren Anfang genommen hat (vgl. z. B. Mollenhauer 1959/1987; Staub-Bernasconi 1986; Böhnisch/Schröer 2011). Aufgrund dieser Festlegung gehen viele AutorInnen vom 19. Jahrhundert als Beginn der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Praxis aus. Wir schließen uns allerdings der davon abweichenden Auffassung an, dass bereits mit dem Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit (um 1450 bis 1500), näherhin mit der beginnenden Urbanisierung und sich verändernden Produktionsbedingungen, entscheidende Bedingungen für gegenwärtige soziale Probleme und damit auch für die berufliche Soziale Arbeit als Antwort auf diese Probleme in Europa entstanden sind (vgl. z. B. Scherpner 1974; Mollenhauer 1987). Die Auflösung der hochmittelalterlichen Gesellschaftsordnung führte zu frühen Formen des