Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck

Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck


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der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit, die den Menschen antreibt, fremdem Elend zu Hilfe zu kommen, ab.

      „Da die Nächstenliebe unter Gebot steht, so muss notwendig alles unter Gebot fallen, ohne das die Liebe zum Nächsten nicht gewahrt werden kann. Zur Nächstenliebe gehört aber, dass wir dem Nächsten nicht bloß das Gut wollen, sondern es auch wirklich tun … Dazu aber, dass wir jemandes Gut wollen und wirken, wird erfordert, dass wir seiner Not zu Hilfe kommen, was durch die Spendung von Almosen geschieht. Und deswegen steht das Almosenspenden unter Gebot“ (a. a. O. 1985c, 162 f.).

      Auf Seiten des Gebenden ist das Almosengeben nur dann geboten, wenn ihm das überflüssig ist, was als Almosen verwendet werden soll.

      Vorab ist es für Thomas geboten und erlaubt, dass jeder für sich und die Seinen in ausreichendem Maße sorgt. Man schuldet nicht, Almosen von dem zu geben, was schlechthin zum Leben und standesgemäß notwendig ist; es sei denn im Falle für das Gemeinwohl. Wer von dem etwas gibt, was als notwendig für seine standesgemäße Lebensführung gilt, handelt verdienstvoll, da keine Verpflichtung dazu besteht (vgl. a. a. O., 165). Der Umfang des zu gebenden Almosens richtet sich also ausschließlich nach der Lebenssituation des Gebers, nicht nach der Notlage des Empfängers. Wirklich verdienstvoll ist das Geben aber nur dann, wenn es aus der rechten Gesinnung erfolgt. Ohne den Glauben an Jesus Christus und die Liebe zum Nächsten fehlt der helfenden Handlung Wesentliches. Auf Seiten des Empfängers ist es für Thomas erforderlich, dass der Empfänger äußerste Not leidet. Es ist aber nach Thomas ein Fehler, so reichlich zu geben, dass der Empfänger Überfluss bekommt.

      „Da der Wohltäter die Ursache und eine Art von Urheit für den Genuß von Wohltat ist, so ist derjenige, welcher die Wohltat hat, dem, der sie leistet, zu Dank verpflichtet“ (a. a. O., 432). Beim Empfang des Bußsakramentes ist das Almosengeben neben dem Beten und Fasten eine Möglichkeit für die Sünder, durch eigenes sittliches Bemühen die zeitlichen (nicht ewigen) Strafen für die begangenen Sünden auszugleichen. Das Almosengeben ermöglicht also reichen SünderInnen die Rückkehr auf den Weg zu Gottes Reich.

      Dass sich die Geber Verdienste erwerben können, das ist es, was die Notleidenden als Empfänger der Almosen für die mittelalterliche Gesellschaftsordnung wertvoll macht. Sie sind für das Heil der reichen Sünder unentbehrlich, gehören zur heiligen Ordnung hinzu und leben in dieser Schöpfung, die auf das Jenseits, auf Gott, hin geordnet ist. Not und Armut werden religiös-ethisch gesehen und nicht ökonomisch-gesellschaftlich. Angesichts der wichtigen gesellschaftlichen Funktion der Bedürftigen und der theologischen Wertschätzung der Armut gab es für Thomas keinen Grund, die Gesellschaftsordnung zu ändern oder in seiner Theorie gar die Abschaffung der Armut und der Armen zu fordern. Thomas befasst sich nur nebenbei mit der Lebenssituation der Notleidenden. Ihn interessiert die Handlung. Unter diesem Blickwinkel untersucht er auch die Barmherzigkeit und die Wohltätigkeit. Die Barmherzigkeit ist für ihn „eine Mitleide in unserem Herzen mit fremdem Elend; es treibt uns an, zu Hilfe zu kommen, falls wir nur können … Die Barmherzigkeit ist eine gewisse Traurigkeit über das zutage tretende verderbliche oder betrübende Übel.“ Und Wohltätigkeit ist nach Thomas eine Wirkung der Freundschaft oder der Liebe; sie folgt aus dem Wesen der Liebe, durch die das „Höherstehende zur Fürsorge für das Tieferstehende“ bewegt wird (vgl. a. a. O., 151–161).

      (6) Werke der Barmherzigkeit: Auf biblischer Grundlage entwickelt Thomas eine von der körperlich-seelischen Natur des Menschen ausgehende Systematik für die Handlungen und unterscheidet als Almosengattungen die sieben leiblichen und die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit. Es sind allgemeine menschliche und zu allen Zeiten wiederkehrende existenzielle Nöte und Mängel, die Thomas als menschliche Defekte ansieht. Diese Mängel lassen sich durch die sieben leiblichen und sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit beheben. Die sieben körperlichen Defekte sind: Hunger, Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit, Krankheit, Gefangenschaft und Unbeerdigtsein (vgl. Matthäus 5,1–2; 25,31–46). Ihnen entsprechen die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde ins Haus aufnehmen, Kranke besuchen und pflegen, Gefangene trösten und die Toten bestatten. Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit sind: den Unwissenden lehren, den Zweifelnden beraten, den Traurigen trösten, den Sünder bessern, dem Beleidiger nachlassen, die Lästigen und Schwierigen ertragen und für alle beten. Aufgabe der barmherzigen Werke ist es, die Bedürfnisse der Bedürftigen zu befriedigen. Die Gründe für den Mangel und ihre Beseitigung interessieren Thomas nicht. Er denkt nicht daran, den Bedürftigen nachhaltig und ein für alle Mal aus seiner Notsituation hinauszuführen. Helfen ist für Thomas momentan und individuell ausgerichtet (vgl. Thomas von Aquino 1985c, 161).

       1.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit

      Die Lehre des Thomas von Aquin baute zwar auf einer tausendjährigen christlichen Tradition auf, dennoch waren die meisten seiner Thesen zur damaligen Zeit heftig umstritten und wurden von vielen Theologen und Bischöfen abgelehnt. Die auf Harmonie und Verwirklichung der Botschaft der Evangelien ausgerichtete Lehre von Thomas passte so gar nicht zu den Herrschaftsinteressen vieler Bischöfe und Päpste und in den Kontext der todbringenden Kreuzzüge und Großinquisitionen. Für die Reichen des 13. Jahrhunderts war seine Armuts- und Almosenlehre ein einziges großes Ärgernis, andererseits legitimierte seine „Ordnungs- und Ständelehre“ ihre Position in der Gesellschaft und ihre Privilegien. Der Dominikanerorden hat wenige Jahre nach dem Tod von Thomas eine „entschärfte“ Fassung seiner Lehre zur eigenen offiziellen Lehre erklärt. Seitdem beeinflussen die Thesen des Aquinaten in außerordentlicher Weise bis heute das abendländische theologische Denken (vgl. Chenu 1995; Forschner 2006; Schönberger 2012 u. a.).

      Viele Jahrhunderte lang haben die Auffassungen des Thomas von Aquin die christliche Soziallehre geprägt. Der Gedanke der Subsidiarität wird beispielsweise auf Thomas zurückgeführt (vgl. Höffner 1963, 50). Abgelehnt wird allerdings seine These, dass die ökonomische, soziale und politische Ungleichheit der Menschen natürlich und ursprünglich von Gott so gewollt sei. Die Verpflichtung zur christlichen Liebestätigkeit (caritas), zur sozialen Gerechtigkeit und auch die Rechtfertigung von Privateigentum werden heute noch mit den Werken von Thomas begründet (vgl. Scherpner 1974, 39 f.). Der Arme blieb aber in seiner Denkwelt Objekt der Wohltätigkeit der Reichen entgegen allen Aufforderungen der Evangelien, in dem Armen Jesus selbst zu sehen. In diesem Punkt hat Franziskus von Assisi (1181/82–1226) durch sein Leben und seine Predigten nachhaltig für eine tief greifende Alternative gesorgt; indem er sich mit den Armen solidarisiert hat, hat er ihnen ihre personale Würde (wieder-)gegeben (vgl. Salomon 1932; Fenger 2005, 90).

      In den Sozialenzykliken haben Päpste immer wieder auf die Werke des Thomas von Aquin zurückgegriffen, zuletzt Papst Johannes Paul II. im Jahre 1987 in seiner Enzyklika „Sollicitudo Rei Socialis“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1987). Soziales Tun, die Hilfe der Gläubigen für die Schwachen und das Eintreten für die Linderung der Not stehen auch nach Auffassung der heutigen deutschen Kirchenleitungen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der sozialen Gerechtigkeit und dem Weg des Heils (vgl. z. B. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland u. a. 1996, 11; Lehner 1997). Im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes wird als erstes Ziel genannt:

      „Jeder Mensch ist einmalig als Person und besitzt eine ihm von Gott gegebene unverfügbare Würde. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, menschliches Leben von Anfang bis Ende, von der Empfängnis bis zum Tod, zu achten, zu schützen und, wo Not ist, helfend zu begleiten“ (Leitbild des Deutschen Caritasverbandes 1997, 347).

      Heinrich Böll hat auf die politische Brisanz hingewiesen, die sich aus der Lehre von Thomas beispielsweise für die Lösung des Nord-Süd-Gefälles in der Welt ergibt (vgl. Böll 1984, 44 f.).

      Nach Thomas darf sich ein „Habenichts“ in existenzieller Not vom Habenden nehmen, was er zum Überleben braucht. Demnach dürften beispielsweise die ärmsten Länder Afrikas sich von den reichen Ländern Europas nehmen, was sie zum Überleben brauchen, auch wenn die reichen Länder dem nicht zustimmen. Der frühere Erzbischof von Köln, Kardinal Frings, hat nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der großen Not der Bevölkerung diese Lehre von Thomas konkret angewendet und die frierenden Menschen aufgefordert, sich Kohlen von den


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