Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
Die „größte Wohltat ist es …, wenn man anderen zur Tugend hilft“ (Vives 2006, 267). Der Mensch kann nicht existieren, wenn er allein auf sich gestellt ist; er bedarf der Hilfe anderer und muss seinerseits anderen helfen. Das diesseitige gesellschaftliche Leben baut auf der vernünftigen Grundlage der gegenseitigen Hilfe auf. Die Verdorbenheit der Menschen infolge der Erbsünde (insbesondere Habgier, Herrschsucht und Hochmut) führt die Menschen aber immer wieder vom vernünftigen Weg ab. Statt sich in Frieden und Eintracht zu unterstützen, bekämpfen und berauben sie sich gegenseitig. Die Aufgabe der Kirche ist es, den Menschen in den Sakramenten Gnade zu vermitteln, durch die erst die naturgegebenen Formen der Gesellschaft erfüllt werden können. Die christlichen Tugenden, vor allem die Liebe, vollenden das menschliche Zusammenleben in Frieden.
Vives – ganz Humanist – nimmt auch für die Zeit nach dem Sündenfall ein Zeitalter an, in dem die Menschen kraft vernünftiger Einsicht miteinander in Frieden und Freundschaft gelebt, gearbeitet und sich gegenseitig unterstützt haben. Dieses gelang – für Vives – den Menschen allein dank natürlicher ethischer Motivation, also ohne Hilfe Gottes und der Kirche. Allein ihre Vernunft habe sie nach Vives dazu befähigt, eine Gesellschaft in Liebe und Eintracht (amor et concordia) zu schaffen. Diese ideale Gesellschaft ist für Vives das Gegenbild der Gesellschaft, die er in der Realität vorfindet. Die harmonische Gesellschaft wird seiner Meinung nach durch die menschliche Begierde, die anderen zu überragen und zu unterdrücken, von der Arbeit anderer zu leben und die übrigen Menschen zu befehligen, zersetzt. Diese menschlichen Laster zerstören für Vives die menschlichen Beziehungen. Die Aufteilung in Arme und Reiche, Unterdrückte und Mächtige in einer Stadt oder in der Gesellschaft ist für ihn das Ergebnis von Habgier und Herrschsucht der Menschen. Diese Welt spiegelt keine göttliche Ordnung wider, sondern Chaos.
(2) Arbeiten und Helfen: Der Mensch ist als Geschöpf Gottes von Natur aus gut und untersteht dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Die christliche Nächstenliebe ist für Vives der tragende Grund und ihre Steigerung das letzte Ziel aller Armenpflege, der öffentlichen wie der privaten:
„All das (d. h. alle Vorteile, die bei der Durchführung seiner Vorschläge erreicht würden, die Verfasser) übertrifft aber der Zuwachs der gegenseitigen Liebe, der aus den schlicht und ohne Verdacht der Unwürdigkeit (der Empfänger, die Verfasser) gegebenen Wohltaten entstehen wird; ebenso der himmlische Lohn, der wie wir gezeigt haben, aus den Almosen erwächst, die aus Liebe gegeben werden“ (a. a. O., 319).
Menschliches Helfen ergibt sich aus dem christlichen Hauptgebot der Liebe. Unabhängig von dem göttlichen Liebesauftrag nimmt Vives beim Menschen natürliche Triebe, zu arbeiten und zu helfen, an. Beide Triebe sind dem Menschen angeboren. Arbeiten und Helfen sind innerweltliche Werte. Wer anderen Menschen hilft, der handelt naturgemäß und erlebt ein tiefes Wohlgefühl dabei. Der nach dem Sündenfall aus dem Paradies vertriebene Mensch muss sich seinen Lebensunterhalt selbst erarbeiten. Insofern ist die Arbeit für Vives religiös gesehen eine Strafe Gottes und doch zugleich eine natürliche Lebensnotwendigkeit für jeden Menschen. Das Arbeiten erhält einen eigenen Wert: Die Menschen sind von Natur aus auf das Arbeiten angelegt und empfinden Freude an der Arbeit. Bei faulen Menschen ist diese Anlage verschüttet. Es ist eine Aufgabe der Erziehung, diese Anlage wieder freizulegen. Arbeiten, um Gewinn zu maximieren, lehnt Vives ab, da dieses Arbeitsziel ein Ergebnis menschlicher Habgier sei.
Wenn eine Gesellschaft in Liebe und Eintracht mit vernünftigen Mitteln in der Vergangenheit der Menschen erreichbar ist, dann kann es nicht sinnlos sein, das Gleiche wieder für die Zukunft anzustreben. Aus dieser Annahme speisen sich für Vives der Glaube an den menschlichen Fortschritt und die Hoffnung, durch Erziehung die Menschen von den Lastern abzuhalten. Trotz dieser Auffassung bleibt Vives aber äußerst skeptisch gegenüber dem Menschen und seiner Bereitschaft und Fähigkeit, den Nächsten zu lieben und ihm zu helfen.
(3) Die Armenpflege: Alle menschliche Not und Armut sind für Vives eine Folge des Sündenfalls, resultieren also aus der grundsätzlichen moralischen Verdorbenheit der Menschen. Daher kann die Armut auch nicht grundsätzlich beseitigt werden; sie bleibt in der Welt. Vives beruft sich dabei auf das Jesuswort: „Arme habt ihr allzeit bei euch. Math. 26, 11“ (vgl. a. a. O., 309).
Für die Armut des Einzelnen nennt Vives viele Gründe, führt sie aber letzten Endes auf den unerforschlichen Ratschluss Gottes zurück oder spricht von Schicksal, das in Demut zu ertragen ist.
Obwohl Vives sich bewusst ist, dass die Armut nicht generell zu beseitigen ist, strebt er dennoch mit seinen Überlegungen an, dass es in seiner Heimatstadt keine Armen mehr gibt. Durch private und öffentliche Wohltätigkeit will er zumindest für Brügge erreichen, dass die Armen aus ihrem traurigen und unglücklichen Zustand befreit werden. Das Ideal einer städtischen Gesellschaft ohne Arme ist durch gezielte und geplante Maßnahmen in der städtischen Armenpflege anzustreben. Diese Maßnahmen basieren auf den schon genannten anthropologischen und theologischen Grundannahmen von Vives.
Pädagogische Förderung und materielle Unterstützung sollen sich nach Vives ergänzen. Die Armenpflege ist für ihn Sache des christlichen Staates und nicht der Kirche, denn diese ist ihm zu sehr „verweltlicht“ und zu „selbstsüchtig“ in der Verwaltung der Armengüter. Die Priester, Mönche und Bischöfe würden das Geld der Kirche, das den Armen gehört, für Luxus und Pomp verschwenden.
„Wenn die Äbte und andere kirchliche Obern wollten, könnten sie bei ihren großen Einkünften die meisten Armen versorgen. Falls sie nicht wollen, wird Christus sie strafen. Doch ist nie Aufruhr und Bürgerkrieg erlaubt. Da sie schlimmer sind als der Missbrauch von Armengeldern“ (a. a. O., 307).
Die einzelnen Maßnahmen der städtischen Armenpflege gruppieren sich um drei Forderungen:
a) Alle Armen müssen – wie alle anderen Menschen auch – arbeiten.
b) Die Unterstützung der Armen hat sich jeweils am Einzelfall zu orientieren.
c) Die Armen müssen zu einem sittlichen Leben erzogen werden.
(4) Arbeitspflicht für alle: Vives entdeckt bei seinen Beobachtungen, dass die Armen in Brügge nicht arbeiten, sondern sich ihren Lebensunterhalt durch Betteln, mitunter auch durch Stehlen erwerben. Die Armen scheuen offenkundig die Arbeit. Für Vives gehört das Arbeiten aber zu den natürlichen Pflichten des Menschen; alle Menschen sind zur Arbeit verpflichtet, auch die Armen. Das Betteln lehnt er grundsätzlich ab; es widerspricht seiner Auffassung nach der Anlage des Menschen. Vives nimmt konsequenterweise kranke, alte und gebrechliche Arme mit in die Arbeitspflicht hinein. Sie sollen so viel und das tun, was ihnen möglich ist. „Nichtstun“ ist allgemein verboten. Die Arbeitsfähigkeit der einzelnen Armen ist von Ärzten zu prüfen und zu dokumentieren. Alle arbeitsfähigen Armen müssen sich Arbeit besorgen, damit sie arbeiten und sich und ihre Familien ernähren können (vgl. a. a. O., 301–305).
Ziel des Unterstützungsplans von Vives ist es, die Armen langfristig mit Arbeit zu versorgen, um so die Armut dauernd zu beseitigen. Folglich entwickelt Vives ein differenziertes Programm zur Arbeitsbeschaffung. Jugendliche arbeitsfähige Arme sollen einen Beruf erlernen, am besten ein Handwerk, um dann in einer Werkstatt zu arbeiten oder sich gar selbstständig machen zu können. Erwachsene arbeitsfähige Arme, die schon einen Beruf erlernt haben, sollen wieder in ihre alte Berufstätigkeit zurückgeführt werden. Wenn für diese Armen aufgrund des Alters oder der Krankheit eine handwerkliche Tätigkeit nicht mehr infrage kommt, dann müssen andere, einfachere Formen der Arbeit gefunden werden, die sie leisten können, um auch sie auf Dauer der Unterstützungsbedürftigkeit zu entziehen. Dabei denkt Vives auch an so einfache Arbeiten wie Wasser aus dem Brunnen schöpfen und in die Häuser tragen. Es kommt ihm nicht auf den wirtschaftlichen Nutzen der Tätigkeit an, sondern auf die konsequente Durchführung der Arbeitspflicht.
Vives geht grundsätzlich davon aus, dass die Armen freiwillig arbeiten, wenn sie nur Gelegenheit dazu bekommen und darin durch Erziehung unterstützt werden. Er rechnet aber auch mit „verkommenen“ Armen, die sich jeder Arbeit gegenüber verweigern. Diese Verweigerer sind zu harter und mühseliger Arbeit zu zwingen und karg zu ernähren. Eine solche Zwangsbehandlung soll andere