Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
ursprünglichen Menschen sieht Rousseau wie ein Tier, das weniger stark als die einen, weniger flink als die anderen, aber alles in allem genommen am vorteilhaftesten von allen organisiert war. Freiheit – nicht Vernunft – macht den Menschen aus und unterscheidet ihn vom Tier. Dieser natürliche Mensch lebte selbstgenügsam, friedlich und glücklich, zumeist als Einzelgänger mit einer losen Bindung an eine Familie. Gesetze waren für das Zusammenleben nicht nötig, da jeder Mensch der natürlichen Ordnung folgte, sich ganz auf sein Gefühl verlassen konnte und von der Liebe zu sich selbst (amour de soi) geleitet wurde, die auch immer das Wohl der anderen im Auge hatte.
Der ursprüngliche Mensch lebte aus sich selbst. Der gegenwärtige Mensch lebt nach Rousseau hingegen stets außerhalb seines Selbst, kennt kein anderes Leben mehr als das in der Meinung anderer. Und nur noch aus dem Urteil der anderen gewinnt er das Gefühl seiner eigenen Existenz. Die Unterscheidung in eigenen und fremden Besitz war im Urzustand unbekannt. Zunächst entwickelten sich kleine, primitive gesellschaftliche Ordnungen, die weiterhin Freiheit und Gleichheit für alle garantierten. Erst mit dem Sesshaftwerden wurde Eigentum gebildet, und dadurch kam es zu Ungleichheiten:
„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte:
‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‘“ (a. a. O., 173).
Mit der Bildung von Eigentum schlug für Rousseau die ursprüngliche Selbstliebe in Selbstsucht (amour propre) um. Es entstand ein zügelloser Kampf um Besitz, Macht und Recht. Dieser Kampf wurde mit allen nur erdenklichen Mitteln geführt. Es ist nun einmal so, so stellt Rousseau fest, dass wir beim Schaden unserer Nächsten unseren Vorteil finden; der Verlust des einen ist fast immer das Glück des anderen. Die Menschen sind nach Rousseau böse geworden, obgleich sie von Natur aus gut sind. Nach der Erkenntnis von Rousseau hat das Leben in Gesellschaft, Erziehung, Kultur und Wissenschaften alles das bewirkt.
Die Reichen verbündeten sich sodann gegen die Armen und schufen Gesetze, um durch sie ihren Besitz und ihre Privilegien zu schützen. Die natürliche Freiheit und Gleichheit der Menschen wurden auf diese Weise gesetzlich beseitigt. Den Schwachen wurden durch die Rechtsprechung neue Fesseln angelegt. Die Reichen haben sich neue Möglichkeiten eröffnet, die Ungleichheit zu ihren Gunsten festzuschreiben. Die zunächst gesetzlich begründete Herrschaft wurde schließlich sogar – ohne Widerstand der Armen – in eine willkürliche gewandelt. Nach Rousseau verstößt es aber gegen das Gesetz der Natur, dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt. Die Entstehung von Privateigentum war das erste Unheil: Sie schuf Reiche und Arme. Die Einsetzung einer Regierung war das zweite Unheil: Sie schuf Herrschende und Beherrschte. Die Ausartung der Macht in Willkür war das dritte Unheil: Sie schuf Herren und Sklaven (vgl. Störig 1989, 376).
Rousseau schlägt als Ergebnis seiner Betrachtung beziehungsweise Analyse der „Natur der Dinge“ zwei Wege vor, um die Freiheit und Gleichheit aller Menschen wiederherzustellen: ein Erziehungsideal und eine Gesellschaftstheorie. Beide Wege gehören für Rousseau zusammen, ergänzen sich und stellen ein Ganzes dar.
(2) Der erste Weg zur Natur zurück: die Erziehung des einzelnen Menschen: Um die Gesellschaft von Grund auf zu sanieren, ist eine rechte, das heißt eine natürliche Erziehung der Menschen notwendig. In seinem fünf Bücher umfassenden pädagogisch-psychologischen Roman „Émile oder über die Erziehung“ von 1762 fordert Rousseau, dass die „natürliche Erziehung“ des Kindes anstelle der nur schädlichen herkömmlichen Erziehungsmethoden treten soll. Denn in der falschen Erziehung wurzele letztlich die Verkommenheit der Gesellschaft. Die erste Erziehung ist nach Rousseau die unbestreitbare Sache der Frauen; sie sind vom Schöpfer der Natur dafür ausersehen und sorgen sich mehr darum als die Männer.
„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen der Menschen“ (Rousseau 1981, 9). Mit dieser Feststellung beginnt Rousseau sein Erziehungsbuch. Ein von Geburt an mitten unter den anderen Menschen sich selbst überlassener Mensch würde das entstellteste von allen Lebewesen sein, denn
„Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Wege steht und verkommt, weil ihn die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen“ (a. a. O.).
Rousseau beschreibt sein Erziehungsideal am Beispiel von Émile, einem Waisenkind aus dem Stand der Reichen. Émile braucht weder Vater noch Mutter. Der Erzieher hat ihre Pflichten übernommen, und so tritt er auch ihre Rechte an. Émile soll seine Eltern ehren, aber nur dem Erzieher soll er gehorchen und eine enge Bindung mit ihm eingehen. Dieses ist die erste und einzige Bedingung für die Erziehung.
Rousseau wählt den Sohn reicher Eltern, weil der Arme nach Rousseau keine Erziehung braucht:
„Zwangsläufig hat er die seines Standes, und eine andere könnte er nicht haben. Der Reiche hingegen erhält schon durch seinen Stand eine Erziehung, die ihm für sich selbst und für die Gesellschaft am wenigsten nützt. Die natürliche Erziehung soll aber für alle Lebensumstände tauglich machen. … Wählen wir also einen reichen Zögling, dann können wir sicher sein, einen Menschen mehr erzogen zu haben, während der Arme aus sich selbst Mensch werden kann“ (a. a. O., 27).
Am Anfang der Erziehung steht nach Rousseau ein genaues Studium der kindlichen Wesensart. Die besten Lehrmeister des Kindes sind sein Instinkt, die ersten Eindrücke und Gefühle sowie die frühesten spontanen Schlussfolgerungen, mit denen das Kind auf die Natur reagiert. Diese instinktiven Reaktionen und Gefühle des Kindes sind zu beobachten, zu fördern und zu entwickeln, keinesfalls zu verbieten und abzugewöhnen, wie es die traditionelle Erziehung tut.
Seine Art der Erziehung nennt Rousseau „negative Erziehung“. Die „negative Erziehung“ vermittelt nach Rousseau – im Gegensatz zur „positiven Erziehung“ – keine Tugenden, sondern schützt gegen das Laster; sie lehrt keine Wahrheiten, sondern bewahrt vor Irrtümern; sie entwickelt in dem Kind die Fähigkeit, der Wahrheit und dem Guten zu folgen, sobald der Verstand in der Lage ist, beide zu erkennen und zu lieben. Der Erzieher schirmt das Kind gegen schädliche Einflüsse aus seiner Umgebung ab und hat für ein gesundes Umfeld zu sorgen, in dem das Kind sich auch körperlich gesund entwickeln kann. Das Kind soll selbst an Erfahrungen lernen, seine Unabhängigkeit behalten und an den Dingen selbst lernen. Erziehung soll nach Rousseau die Organe des Erkennens vervollkommnen und den Weg zur Vernunft durch eine richtige Übung der Sinne ebnen. Rousseau ermahnt den Erzieher, die Worte „Gehorsam“, „Pflicht“ und „Schuldigkeit“ aus dem Wörterbuch des Kindes zu streichen. So mag es gelingen, bei den Menschen Bewusstsein und Verantwortung für die Gemeinschaft, ein soziales Gewissen und die Bereitschaft, sich in die Gemeinschaft einzuordnen, zu erreichen.
Die Erziehung hat sich der natürlichen kindlichen Entwicklung anzupassen. Rousseau unterscheidet vier Stufen der natürlichen Entwicklung:
(a) das Kindesalter, das durch die egozentrische Haltung bestimmt ist,
(b) das Knabenalter, in dem sich das sachliche Interesse bildet,
(c) das frühe Jugendalter, in dem die Religiosität, das Gefühlsleben und der moralische Sinn sich bilden,
(d) das späte Jugendalter, in dem das Erlebnis der Liebe in den Mittelpunkt rückt (vgl. Rang 1979, 131).
Schließlich gehört für Rousseau zur Sicherung der individuellen Existenz, der Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen auch das Erlernen eines Handwerks, weil der Handwerker nach Rousseaus Meinung freier als ein Bauer ist. Als Erstlektüre – mit dem Ziel, ein Vorbild der Erziehung