Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
zurückzukehren. Über die konkrete Form der Zwangsarbeit sagt Vives nichts weiter aus. Vives geht davon aus, dass Arbeitsstellen für die Armen nicht ohne Weiteres zur Verfügung gestellt werden. Deshalb soll die städtische Obrigkeit eingreifen, um die erforderlichen Arbeitsstellen zu beschaffen, falls die Produzenten und Handwerksmeister nicht freiwillig bereit sind, arbeitsfähige Arme aufzunehmen. Einzelnen Handwerksmeistern soll eine bestimmte Zahl von Armen zur Arbeit zugewiesen werden, die selbst keine Arbeitsstelle finden können. Handwerksmeister, die Arbeiter und Lehrlinge aufnehmen (mussten), sollen bei der Vergabe von Aufträgen durch die Stadt und kirchliche Einrichtungen bevorzugt behandelt werden. Die Stadt selbst soll ihrerseits Stellen für arbeitsfähige Arme schaffen beziehungsweise die Armen bei der Besetzung von Stellen besonders berücksichtigen. Vives legte aus pädagogischen Gründen Wert darauf, dass die Stadt keinen festen Unterstützungsfonds für die Armen in ihrem Etat einrichtet. Den Armen soll jede wirtschaftliche Absicherung verwehrt werden, damit der Arbeitswille und die Bereitschaft, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, geweckt werden und wach bleiben (vgl. a. a. O., 310).
(5) Materielle Unterstützung in besonderen Notlagen: Trotz der Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung – so meint Vives – wird es auch weiterhin Arme geben, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst durch Arbeit erwerben können. Die besondere Notlage dieser Armen ist von Beauftragten der Stadt zu untersuchen und ihre Unterstützung an den individuellen Untersuchungsergebnissen auszurichten. Alle Armen sind in ein Verzeichnis einzutragen; erfasst werden sollen alle Armen, sowohl diejenigen, die in Hospitälern der Kirche und der Stadt untergebracht sind, als auch die Hausarmen und die umherziehenden Armen. Mit dem Armenverzeichnis soll weder eine armenpolizeiliche Kontrolle noch die Absonderung der Armen, sondern eine planmäßige Versorgung der Armen mit Arbeit und Unterstützungsmitteln ermöglicht werden. Die Notlage, die Art ihres früheren Lebensunterhaltes, der Anlass ihrer Verarmung, die Lebensart, die Moral und die Arbeitsfähigkeit sollen genau festgestellt und in das Verzeichnis eingetragen werden. Diese Angaben sollen eine individuelle Förderung ermöglichen. Es sollen die Heilmittel angewendet werden, die am besten helfen. In den psychisch kranken Menschen, die damals als gemeingefährliche Irre angesehen und eingesperrt werden, sieht Vives ebenfalls arme Menschen, die es zu unterstützen und zu behandeln gilt.
Der Geber von Almosen hat seine Hilfe nach seiner eigenen Lage abzuwägen; er bestimmt, was, wieviel und wann er geben will. Dennoch ist die Aufmerksamkeit vor allem auf die Notsituation des Armen zu richten, die ja die Voraussetzung für jede Hilfe ist. Aus der Art der Notlage ergibt sich für den Geber, was nützlich ist; nach der Notlage sind Art, Umfang und Zeitdauer der Unterstützung zu richten. „Jeder soll in passender Weise behandelt werden“ (a. a. O., 304).
(6) Erziehung der Armen und ihrer Kinder: „Wir müssen nicht darauf sehen, was einer haben will, sondern was er haben muss, nicht darauf, ob es ihm gefällt, sondern ob es ihm nützt“, sagt Vives und setzt seine pädagogischen Überlegungen auf zwei Ebenen an, der übernatürlichen und der natürlichen Ebene (vgl. Vives 2006, 315). Man kann auch von einer theologischen und von einer anthropologisch-pädagogischen Ebene sprechen. Die Menschen haben sowohl den übernatürlichen Auftrag als auch den natürlichen Trieb zu helfen. Es ist Aufgabe der Kirche, das Gebot der Nächstenliebe zu verkünden, und es ist Aufgabe der Pädagogen, die Menschen zu einem guten Leben zu erziehen. Mit dem Erziehungsauftrag gegenüber den Armen und ihren Kindern integriert Vives seine Gedanken zur Armenpflege in seine gesamte pädagogische Theorie: Aufgabe der Pädagogen ist es, zu einem sittlichen Leben zu erziehen, indem der Weg des Lasters gemieden und der Weg der Tugenden gegangen wird (a. a. O.). Die Menschen sollen moralisch gefördert und zu guten Bürgern und frommen Christen erzogen werden. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Erziehung der Kinder zur Arbeit. Die Stadt soll „jährlich 2 ernste und bewährte Männer zu Zuchtherren einsetzen“, die das Leben und die Sitten der Armen und ihrer Kinder, aber auch die Kinder der Reichen überwachen und darauf achten, dass sie zur Schule gehen und die nötige Erziehung erhalten (a. a. O., 306). In der Erziehung der Armen und aller Kinder sieht Vives den einzig brauchbaren Weg, Armut in der Gesellschaft erfolgreich zu verhindern. Diese optimistische Sicht der Erziehung steht in krassem Gegensatz zu seiner pessimistischen Einschätzung der Fähigkeiten und Bereitschaft des Menschen, sittlich gut zu leben. Die Hoffnung auf ein neues Zeitalter in Liebe und Eintracht konkurriert bei Vives mit seinen düsteren Erfahrungen menschlicher Habgier und Herrschsucht.
2.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit
Die im Jahre 1525 von Vives dem Magistrat der Stadt Brügge gewidmete Schrift „Über die Unterstützung der Armen“ ist eine für die damalige Zeit bedeutsame Leistung. „Sie ist historisch denkwürdig als die erste durchdachte und mit nötiger Klarheit hingestellte Theorie einer allgemeinen bürgerlichen Armenpflege“ (Heine 1881, XXII). Das Werk scheint damals viel Anklang gefunden zu haben, denn es wurde sehr bald aus dem Lateinischen ins Französische und Spanische übersetzt.
Vives wird heute vielfach als Wegbereiter der Anthropologie des 17. Jahrhunderts und der modernen (empirischen) Psychologie angesehen. Aus seiner Freundschaft mit Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus hat er viele Anregungen und Impulse für seine Lehren erhalten. Beide haben sich wie Vives in ihren Werken intensiv mit den sozialen und humanitären Fragen ihrer Zeit befasst. In einigen süddeutschen Städten (z. B. in Augsburg und Nürnberg) und in Straßburg war durch humanistisch gebildete Mitarbeiter der städtischen Verwaltungen das Armenwesen neu geordnet worden (vgl. Sachße/Tennstedt 1980, 23–84). Diese Reformen waren Erasmus bekannt und sind vermutlich über Erasmus zu Vives nach Brügge gelangt. Vives hat einige der bereits praktizierten und erprobten Maßnahmen in seine Abhandlung aufgenommen. Insofern besteht eine enge Verbindung zwischen der praktischen Armenpflege süddeutscher Städte und der Unterstützungstheorie für die Armen (Subventionstheorie) von Vives. „Vives ist eine charakteristische Gestalt einer Übergangszeit, in der die verschiedenen Auffassungen sich mischen und keineswegs in vollem Einklang miteinander gebracht sind“, urteilt Hans Scherpner (1974, 79).
Nicht wenige der von Vives in seiner Subventionstheorie vorgeschlagenen Maßnahmen werden auch heute von der Sozialpolitik und in der Sozialen Arbeit praktiziert: Die Arbeitspflicht, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Registrierung der Armen, die schriftliche Erfassung der jeweiligen Notlage der einzelnen Armen, die ärztliche Begutachtung, die individuell orientierte Unterstützung und eine Erziehungskontrolle durch die städtische Obrigkeit (Jugendamt) sind heute nicht aus der Sozialen Arbeit wegzudenken. Der Gedanke, die Armen zu erziehen, das heißt die Pädagogisierung der Sozialen Arbeit, hat sich über Pestalozzi (vgl. 1.5) und Nohl (vgl. 2.8) bis in die Gegenwart hinein erhalten. „Fördern und fordern“ gilt vielen auch heute als Aufgabe und Bestimmung Sozialer Arbeit beziehungsweise der Sozialpolitik und hat mit den „Hartz IV-Reformen“ neuen konjunkturellen Aufschwung erfahren.
Beispielhaft für die gegenwärtige Diskussion in der und über die Soziale Arbeit kann zudem die von Vives in seiner Theorie vorgelegte enge Verknüpfung von philosophischen, ethischen, pädagogischen und fürsorgerischen Aspekten stehen, also letztlich die Verknüpfung von Sozialpädagogik und Sozialarbeit, selbst dann noch, wenn die strengtheologischen Begründungen und Appelle für sozialwissenschaftliche Theorien heute nicht mehr als adäquat angesehen werden.
2.7 Literaturempfehlungen
Hans Scherpner hat eine umfangreiche Aufbereitung der Subventionstheorie von Vives – mit vielen Auszügen aus dem lateinischen Originaltext – unter dem Titel „Armenpflegetheorie“ in seiner „Theorie der Fürsorge“ vorgelegt (vgl. Scherpner 1974, 78–109). Bislang lag das für die Soziale Arbeit wichtigste Werk von Vives „De subventione pauperum“ nur in einer lateinischen Fassung mit einer Einführung in italienischer Sprache vor (Vives 1973). Es ist das Verdienst von Susanne Zeller, dass die für die Soziale Arbeit wichtigste Schrift „De subventione pauperum“ nun nicht nur in lateinischer Sprache, sondern auch in einer deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1924 vorliegt (vgl. Zeller 2006, 263–319). Eine neuere Übersetzung ins Deutsche ist nicht bekannt. Zum besseren Verständnis der Theorie von Vives tragen sowohl Zellers Ausführungen zur Biografie als auch zur Rezeptions- und Textgeschichte des Werkes bei.