Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
13. Jahrhunderts) bzw. in den Beginn des Spätmittelalters im 14. Jahrhundert zurück (vgl. Sachße/Tennstedt 1980). Im 12. Jahrhundert wurden außerdem die europäischen Universitäten gegründet, an denen von Anfang an auch soziale Fragen bedacht worden sind (vgl. 1.1).
Ausgewählt haben wir sieben Autoren aus verschiedenen Ländern (Deutsches Reich, England, Frankreich, Italien, Schottland, Spanien/Niederlande, Schweiz) und aus unterschiedlichen Wissenschaften (Theologie, Philosophie, Pädagogik, Nationalökonomie, Recht, Medizin, Politik). Alle haben sich in ihrer Zeit mit der Lösung sozialer Probleme befasst und/oder waren aktiv daran beteiligt. Ihre Theorien und Programme haben für den europäischen Raum insgesamt wichtige Impulse für die Praxis der Sozialen Arbeit und für die Reflexion dieser Praxis gegeben. Die von uns getroffene Auswahl zeigt zugleich die disziplinären Orte, an denen in Europa Theorien zur Sozialen Arbeit entwickelt worden sind. Der Zeithorizont reicht vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Wir haben den zeitlichen und territorialen Kontext, in dem die Autoren gelebt haben, jeweils zu Beginn der Darstellung ihrer Theorien in der gebotenen Kürze beschrieben.
Auch wenn sich die hier vorgestellten Autoren nicht persönlich gekannt haben, haben untereinander vielfältige Verbindungen und Bezüge aufeinander bestanden. So hat zum Beispiel Vives (vgl. 1.2) die philosophischen und theologischen Lehrbücher von Thomas von Aquin (siehe 1.1) sehr gut gekannt und sich in seinen eigenen Arbeiten auch auf sie bezogen. Pestalozzi (vgl. 1.5) hat die Thesen Rousseaus (vgl. 1.3) zeitweise völlig übernommen und als Ausdruck seiner Verehrung seinen einzigen Sohn nach Rousseau benannt. Wichern (vgl. 1.7) kannte die Auffassungen von Pestalozzi. Smith (vgl. 1.4) hat die Arbeiten Rousseaus studiert und dessen Gedanken geschätzt und bei seiner eigenen Theoriebildung berücksichtigt. Malthus (vgl. 1.6) kannte als Zeitgenosse – mit denselben Studienfächern wie Smith – selbstverständlich die Werke von Smith und hat sich auch auf sie bezogen; beide haben in ihren Arbeiten – sehr verschieden – die Armengesetzgebung in Großbritannien kommentiert und bewertet sowie mit ihren Theorien auch beeinflusst.
Die hier vorgestellten „Theorien Sozialer Arbeit“ sind von ihren Autoren nicht ausdrücklich als „Theorien der Sozialen Arbeit“ verstanden und vorgelegt worden. Man kann und sollte sie daher aus heutiger Sicht als vorwissenschaftliche Theorien oder – wenn man das Wissenschaftsverständnis der jeweiligen Epoche zugrunde legt – als Teiltheorien im Rahmen von Gesamttheorien oder auch nur als sozialpolitische Programme ansehen. Im Übrigen betrachten wir die Texte der sieben Autoren mit ihren Reflexionen und Vorschlägen zur Bewältigung sozialer Probleme als eine umfangreiche Material- und Ideensammlung, die die heutige wissenschaftliche Theorieentwicklung der Sozialen Arbeit und die Bemühungen, soziale Probleme zu bewältigen, unterstützen und bereichern kann.
1 Gott und den Nächsten lieben
Thomas von Aquin (1224 – 1274)
Thomas von Aquin ist, „versucht man ihn in unsere Gegenwart zu versetzen, klassische Apo, ein Aussteiger, ein Achtundsechziger – und er blieb einer, trotz übelster Verleumdungen, Drohungen, Boykotte“ (Heinrich Böll 1984, 41).
1.1 Historischer Kontext
Die Epoche, in der Thomas von Aquin lebt, bezeichnet die Geschichtswissenschaft als das „hohe Mittelalter“, das etwa von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts dauert. Mit dem 11. Jahrhundert beginnt in ganz Europa ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung. Günstige klimatische Voraussetzungen erhöhen die landwirtschaftliche Produktion. Sie geht einher mit einem deutlichen Bevölkerungswachstum und der Erschließung neuer bewirtschafteter Flächen durch Rodung von Wäldern. Die Durchsetzung der Dreifelderwirtschaft ermöglicht eine Steigerung des Ertrags der bewirtschafteten Flächen. Gleichermaßen Grundlage und Folge der wirtschaftlichen Blüte in Europa während des Hochmittelalters sind die Ausdehnung des Handels und des Handwerks. Die Ausweitung der handwerklichen Produktion, das Entstehen gewerblicher Märkte und die Ausdehnung des Fernhandels bilden die Grundlage für Stadtneugründungen und für das Aufblühen der Städte (z. B. die „Hanse“ ab Mitte des 13. Jahrhunderts). Damit gehen eine Ausdifferenzierung der Aufgaben und der Befugnisse der Verwaltung, des Handels und des Handwerks und eine zunehmende Autonomie der Stadt und der Stadtbevölkerung (Patrizier, Zunftangehörige, Kaufleute) von den feudalen Besitz- und Rechtsverhältnissen der Stadtherren einher. Die Marktrechte werden zu Stadtrechten. Im Sozialgefüge des hohen Mittelalters stellen die Städte das vorwärtsdrängende Element dar. Denn im ländlichen Bereich bleiben die feudalen Grundstrukturen und die ständische Ordnung trotz aller Änderungen erhalten: Das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche System wird zwar noch wesentlich von der (Adels-)Herrschaft über Grund und Boden bestimmt, doch zu dieser Ausstattung des Adels als herrschender Schicht mit Landbesitz und damit verbundenen politischen, militärischen und gerichtshoheitlichen Vorrechten kommt im Hochmittelalter die zunehmende Feudalisierung von Ämtern. Ministeriale steigen damit aus der Schicht der Abhängigen zu edelfreien Rittern auf. Die Grundherrschaft (neben Adligen auch Bischöfe und Klöster) über Land und Leute sowie die genossenschaftlichen Ordnungen in den Gemeinden konstituieren sehr unterschiedliche dingliche und persönliche lehensrechtliche Bindungen (Treueverhältnis) zwischen den Beteiligten. Mit der Auflösung des alten Fronhofsystems (Villikation) werden die Untertanen zu Grundholden, die ihre Abgaben an den Grundherrn in Form von Zins- und Grundrenten vornehmen.
Kriege und Schlachten zerstören immer wieder ganze Landstriche und verursachen Leid und Not. Missernten, Hungersnöte, Seuchen, Feuer- und Wasserkatastrophen verursachen Armut, Elend und Tod. Die Abhängigen und Untertanen werden trotz Besserung der Lebensverhältnisse ausgebeutet und bleiben politisch ohnmächtig. Den wenigen Herrschern und Reichen stehen viele Beherrschte und Arme gegenüber. Das sind hörige Bauern, besitzlose Tagelöhner, Angehörige „unehrlicher Berufe“ (Spielleute, Huren), Witwen, Waisen, „Krüppel“, Kranke und Alte (vgl. Sachße/Tennstedt 1980, 23–30). Wo Bedürftige sozial und rechtlich in einen grundherrschaftlichen Familienverband oder in eine zünftig verfasste Handwerkerorganisation eingebunden sind, finden sie dort auch organisierte Hilfen. Den anderen bleibt nur die Unterstützung durch private „Liebestätigkeit“. Für kranke und alte Notleidende unterhalten die Kirche und die Orden in den Städten Hospize.
Thomas verbringt sein Leben überwiegend in Italien und Frankreich; im Deutschen Reich hält er sich nur während seiner Studienzeit in Köln länger auf. Zu Beginn des Hochmittelalters befindet sich das deutsche Kaisertum auf dem Höhepunkt der Macht. Das durch Reformen gestärkte Papsttum will nicht nur den politischen Einfluss der weltlichen Herrscher auf kirchliche Angelegenheiten zurückdrängen, sondern strebt selbst nach Weltherrschaft. Der Konflikt schwächt den deutschen Kaiser; ab Mitte des 13. Jahrhunderts verliert das Kaisertum beständig Macht an die Landesfürsten und Städte. Innerkirchlich schließen sich Gläubige im 13. Jahrhundert im Zuge einer Reformbewegung zur Vertiefung der Frömmigkeit zu (Bettel-)Orden zusammen und geloben, arm zu leben. Wegen der weltlichen Herrschaftsansprüche der Kirche wenden sich aber auch viele Gläubige von ihr ab und gründen eigene Glaubensgemeinschaften (z. B. die Katharer, Albigenser), um den evangelischen Idealen – vor allem dem Armutsideal – zu folgen. Die kirchliche Inquisition bekämpft mit Bann, Klosterhaft und Todesstrafe jede Form von „Häresie“ und „Sektierertum“. In dieser Zeit werden mehrere neue Orden gegründet, unter anderen auch die Dominikaner, denen sich der junge Thomas anschließt.
Bereits 100 Jahre früher ist die Unterwerfung der Slawen im Ostteil des Reiches weitgehend abgeschlossen (Ostkolonisation). In Italien erwerben die Städte in Nord- und Mittelitalien im Zuge der Auseinandersetzung des Papstes mit dem deutschen Kaiser zunehmend Autonomie. Von großer wirtschaftlicher Bedeutung für sie sind die Kreuzzüge, die das abendländische Christentum vom Ende des 11. bis Ende des 13. Jahrhunderts zur Befreiung des „Heiligen Landes“ aus den Händen des sich ausbreitenden Islams durchführt. Die Städte werden vielfach von ehrgeizigen Machthabern beherrscht, die den Einfluss der Stadt auf das Umland ausweiten, die wirtschaftliche Entwicklung fördern, die politische Ordnung demokratisieren. Das französische Königtum,