Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
Beispiel in den Geistes- und Sozialwissenschaften dieselben Personen und Werke der griechischen Philosophie als Gründer beziehungsweise als Wurzeln ihres „Stammbaums“ genannt. Sokrates, Platon und Aristoteles werden als Urväter beispielsweise der Philosophie (vgl. Störig 2016; u. a.), der Pädagogik (vgl. Reble 2009 u. a.), der Psychologie (vgl. Pongratz 1967 u. a.) und auch der Physik (vgl. Meÿenn 1997) angeführt. Das kann aber doch nur heißen: Jede dieser genannten Wissenschaften hat offene Grenzen und muss damit leben, dass sie sich von anderen Wissenschaften nicht trennscharf abgrenzen lässt. In jeder Wissenschaftsdisziplin gibt es außerdem pluriforme, heterogene und miteinander unvereinbare Auffassungen und Theorien – auch über ihr eigenes „Proprium“. Es muss deshalb nicht verwundern, dass die Auffassungen darüber und die Bewertungskriterien dafür, was Wissenschaft und was eine wissenschaftliche Theorie ist, auch innerhalb einzelner Wissenschaften verschieden sind und kontrovers diskutiert werden. Herkömmliche Wissenschaftssystematiken mit eindeutig markierbaren Abgrenzungen und Hierarchien sind daher äußerst fragwürdig (vgl. Wissenschaftsrat 2000). In diesem Sinne ist jede Wissenschaft relativ selbstständig und mit anderen Wissenschaften vielfach vernetzt und somit interdependent. Soziale Arbeit arbeitet als eine relativ selbstständige Wissenschaft mit anderen relativ selbstständigen Wissenschaften im Sinne gleichwertiger Partner zusammen, um der Entstehung sozialer Probleme vorzubeugen und bestehende soziale Probleme zu lösen oder zumindest zur Bewältigung dieser beizutragen. International bilden Wissenschaft, Praxis und Ausbildung zusammen eine Profession. In Deutschland ist das bei der Sozialen Arbeit nicht üblich, vielmehr werden die Praxis als Profession und die Wissenschaft als Disziplin voneinander getrennt oder einander gegenübergestellt (vgl. Thole 2012 u. a.). Wir folgen dem internationalen Vorgehen und für uns besteht die Profession Soziale Arbeit aus Wissenschaft, Praxis und Ausbildung (vgl. Engelke/Spatscheck/Borrmann 2016, 204 ff.).
Die Soziale Arbeit als Wissenschaft existiert bereits seit Jahrhunderten in unterschiedlichen Gestalten (vgl. Soydan 1999 u. a.). Dabei sind in der jeweiligen Zeit recht unterschiedliche Sichtweisen und Ursachenanalysen der sozialen Probleme und verschiedene Handlungsstrategien zu deren Bewältigung erarbeitet und oft auch in der Praxis umgesetzt worden. Für die wissenschaftliche Durchdringung wie auch für die Lösung gegenwärtiger sozialer Probleme können die Lösungen früherer Generationen fruchtbringend herangezogen werden. Häufig belehrt uns die Geschichte nämlich über die Folgen bestimmter Sichtweisen und Handlungsstrategien; sie können uns heute als Warnung vor oder auch als Ermutigung für bestimmte Lösungswege dienen. Aus diesem Grunde berücksichtigen wir Theorien, die immer noch von Bedeutung sind, vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart. Bei genauer Betrachtung zeigt es sich nämlich, dass die sozialen Probleme und die Ansätze, diese Probleme zu lösen, sich häufig über Jahrhunderte hinweg gleichen. Als Beispiel nennen wir den Umgang der Stadtverwaltungen im Mittelalter mit BettlerInnen und den Umgang der Länder mit Flüchtlingen und AsylbewerberInnen heute.
2 Zur Auswahl der Theorien der Sozialen Arbeit
Angesichts der Fülle und Vielfalt von Theorien der Sozialen Arbeit in Geschichte und Gegenwart ist unsere Auswahl zu begründen und die Kriterien für die Auswahl sind zu benennen. Theorien der Sozialen Arbeit zusammenzustellen, das ist kein neues Unterfangen. Es hat Tradition. Wir möchten an zwei Beispielen kurz zeigen, wie man Theorien aufgrund bestimmter Kriterien für eine solche Darstellung auswählen kann: Bereits 1932 hat Alice Salomon ein Buch mit dem Titel „Soziale Führer“ veröffentlicht, das sie so begründet: „Die Berührung mit sozialen Führern, ihrer Persönlichkeit, ihren Werken, ihren Ideen führt zu einem tieferen Verstehen von Menschheitsaufgaben, die zwar über die Jahrhunderte wechselnde Formen annehmen, aber in ihrem letzten Kern ewig und unveränderlich sind. Sie führt zu einem tieferen Verstehen der Pflicht zu gegenseitiger Hilfe und zum Wirken für ein Reich sozialer Gerechtigkeit in dieser irdischen Welt“ (Salomon 1932, 5). Salomon will zwar in erster Linie „Praktiker des sozialen Idealismus, nicht Theoretiker“ darstellen, doch hebt sie für die PraktikerInnen ausdrücklich hervor, dass diese auch über eine Theorie zur sozialen Frage verfügen (vgl. a. a. O.). Diese Theorien stellt Salomon in ihrem Buch auch jeweils dar. Mit ihrer Auswahl sozialer FührerInnen möchte Salomon einerseits die Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen der sozialen FührerInnen zeigen und andererseits Männer und Frauen verschiedener Länder und Arbeitsgebiete berücksichtigen. Die von ihr Ausgewählten sind: Franz von Assisi, Robert Owen, Florence Nightingale, Johann Hinrich Wichern, Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Otto von Bismarck, Ferdinand Lassalle, Ernst Abbe, Lew Tolstoi, Henry George und Jane Addams. Franz von Assisi (1181–1226) ist ausgewählt, um zu zeigen, dass soziale Nöte auch im 13. Jahrhundert vorhanden waren und dass das Führertum auf sozialem Gebiet vor allem „aus der Fähigkeit erwächst, sich in selbstständiger Weise mit den gesellschaftlichen Zuständen auseinanderzusetzen“ (vgl. Salomon 1932, 6). Bismarck hat sie genannt, weil er nach ihrer Auffassung in der Sozialversicherung ein großes, unvergängliches soziales Werk hinterlassen hat (vgl. a. a. O.).
Anders ist Michael Winkler (1993) vorgegangen. Er spricht bei seiner Auswahl von Theorien der Sozialpädagogik von „Klassikern“; damit knüpft er an Hans Scheuerls Bände „Klassiker der Pädagogik“ (1979) an (vgl. Dollinger 2006a). Als Kriterien für die Aufnahme in den Kreis der „Klassiker der Sozialpädagogik“ nennt Winkler:
a)Sie spielen nach außen für die soziale Gemeinschaft einer Profession oder einer Disziplin eine Rolle beim Markieren von Claims gegenüber anderen Disziplinen beziehungsweise Professionen;
b)sie haben nach innen die Funktion, eine Identität als Profession oder Disziplin zu stiften;
c)sie begrenzen den für eine Profession oder Disziplin verbindlichen Gegenstandsbereich;
d)sie bringen paradigmatisch gültige Tatbestände zum Ausdruck;
e)sie ermöglichen eine Distanzierung gegenüber den gegenwärtigen sozialen Problemen;
f)sie prägen den Denkstil, indem sie Wege bahnen, auf welche Gedanken hin organisiert und interpretiert werden (vgl. Winkler 1993, 178 ff.).
AutorInnen, die „aufgrund ihrer Werke die Klassik der Sozialpädagogik“ ausmachen, sind für Winkler: Platon, Jean-Jacques Rousseau, Johann Gottlieb Fichte, Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Hinrich Wichern, Don Bosco, Adolf Kolping, Karl Mager, Adolf Diesterweg, Paul Natorp, Arthur Buchenau, Otto Willmann, Paul Bergemann, Aloys Fischer, Christian Jasper Klumker, Wilhelm Polligkeit, Hans Scherpner, Gertrud Bäumer, Herman Nohl, Erich Weniger, Karl Wilker, Curt W. Bondy, Anton Makarenko, Carl Mennicke, Georg Kerschensteiner, August Aichhorn, Siegfried Bernfeld, Maria Montessori, Erving Goffman, Michel Foucault, Klaus Mollenhauer, Walter Hornstein, Hans Thiersch und andere (vgl. a. a. O., 182 ff.).
Mit Variationen werden von Rünger (1964), Vahsen (1975), Böttcher (1975), Lukas (1979), Marburger (1981), Schmidt (1981), Wollenweber (1983a,b), Buchkremer (1995), Staub-Bernasconi (1995a; 2007), Thiersch (1996a), Mühlum (1997), Thole/Galuske/Gängler (1998), Erath (2006), Wendt (2008a,b), Niemeyer (2010), Hamburger (2011), Schilling/Zeller (2012), Lambers (2016), Erath/Balkow (2016) und anderen in etwa dieselben Personen als bedeutsam für die Theoriebildung in der Sozialen Arbeit benannt. Im deutschsprachigen Raum hat sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts ohne besondere Absprachen ein Kanon von AutorInnen herausgebildet, die für die Entwicklung der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis als wichtig und einflussreich angesehen werden. Dieser Kanon ist für uns der Fundus, aus dem wir die in diesem Buch dargestellten Theorien und TheoretikerInnen ausgewählt haben. Zugleich haben wir aber auch AutorInnen neu aufgenommen, die in den letzten Jahren eigene Theorien der Sozialen Arbeit veröffentlicht haben und in den gegenwärtigen Diskussionen über Theorien der Sozialen Arbeit beachtet werden.
Mit der Frage, wann eine Theorie als wissenschaftliche Theorie gelten kann, ist eine kaum einvernehmlich zu lösende Problematik aufgeworfen. Denn Wissenschafts- und Theoriedefinitionen gibt es in Hülle und Fülle, nicht aber eine verbindliche und allgemein akzeptierte Definition, aus der sich verbindliche Kriterien ableiten lassen. Zudem nennen AutorInnen selten ausdrücklich ihre Kriterien dafür, welche Aussagen sie unter welchen Voraussetzungen als wissenschaftlich ansehen. Das jeweilige Wissenschafts- und Theorieverständnis hängt von persönlich gesetzten, aber oftmals nicht explizit ausformulierten wissenschaftstheoretischen