Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck

Theorien der Sozialen Arbeit - Christian Spatscheck


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353–558) auch brisante sozialpolitische Probleme, die das Strafrecht, die Strafvollstreckung und die Verbrechensvorbeugung betreffen, auf und ergreift Partei für die ledigen Mütter, die ihr Kind getötet haben. Er verurteilt zwar einerseits die Tötung unehelich geborener Kinder, setzt sich aber andererseits vehement für die ledigen Mütter ein, die ihr unehelich geborenes Kind töten, und nimmt sie vor einseitigen Schuldzuweisungen aus der Gesellschaft in Schutz. Pestalozzi klagt sogar die Obrigkeiten und die Gesetzgebung an und weist ihnen Mitschuld zu. Den Muttertrieb, das eigene Kind zu schützen und es aufzuziehen, hält er für so stark, dass seiner Meinung nach nur erhebliche äußere Einflüsse eine Mutter dazu bringen können, ihr Kind zu töten. Das könne nur aus größter Verzweiflung geschehen. Die bestehenden Gesetze und die Sitten der Gesellschaft – Heuchelei, entehrende und furchterregende Strafen (auf Kindermord steht die Todesstrafe), fehlendes Verständnis für die ledigen Mütter, doppelte Moral, Prüderie, gesellschaftliche Ächtung statt Rat und mangelnde Unterstützung für nichteheliche Mütter – seien, so klagt Pestalozzi, an der Verzweiflung der Frauen mit schuldig. Die Gesellschaft, die sich so unerbittlich als Richter aufführe, sei in Wahrheit selbst angeklagt, zumindest aber mit angeklagt.

      Wenn man etwas verbessern wolle, könne man nur bei der allgemeinen gesellschaftlichen Verderbnis ansetzen. Die Bedeutung der Familie müsse anerkannt und das reine Hausglück gefördert werden. Die „Wohnstube“ müsse „Heiligtum“ sein, und dafür solle der Staat sorgen. Vor allem aber müsse sich die Erziehung auf die Familie und die Liebe stützen.

      (4) Die Bedeutung prophylaktischen Handelns: Prophylaktische Maßnahmen sind für Pestalozzi unabdingbar, um Elend und Aufruhr der Armen gegen die Obrigkeit zu verhindern. Die zunehmende Verarmung der ländlichen Tagelöhnerschaft und der Industriearbeiter muss nach seiner Einschätzung zu schweren gesellschaftlichen Konflikten führen.

      Die „Emporhebung der niederen Menschheit aus ihren Tieffen ist die Pflicht der civilisierten Menschheit, wenn sie nicht alle ihre Lebensgenießungen verlieren will“ (Pestalozzi, zit. nach Liedtke 1989, 58).

      Und Pestalozzi fordert:

      „Man kann nicht genug sagen: man muss immer eher die Fundamente der Lebensgenießungen sicherstellen, als allerorten Ordnung machen. Und den Leuten in ihren Siechtagen helfen, ist ein armseliger Dienst, wann man den Siechtagen der Leute selber vorbiegen kann. Spitäler, Finderhäuser, Kammern, Zuchthäuser sind allenthalben Quacksalberhülfsmittel, wo man sie gegen Leute braucht, die, von unserer schönen Civilisation der einfachen Genießungen ihrer Naturbedürfnisse beraubt, Verbrecher werden, weil der Staat ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen und zur Befriedigung ihrer Naturbedürfnisse geholfen“ (a. a. O., 58).

      Pestalozzi plädiert zudem für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, in der jeder zu seinem Brot kommen kann (vgl. Pestalozzi 1945, 95–141):

      „Dass Freiheit Brot schafft, dass der Mensch um des Brotes willen Freiheit sucht, dass Hindernis in Gewinn und Gewerbssachen die Tyrannei ist, die den Wunsch der Freiheit in den meisten Völkern rege gemacht, das vergißt der stolze Großbürger des freien Staats, der den ausartenden Landessegen so oft ausschließend nutzt, nur gar zu gerne, und es ist doch so wahr“ (a. a. O., 107 f.).

       5.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit

      Aus allen Teilen Europas kommen bereits um 1810 zahlreiche BesucherInnen nach Iferten, um Pestalozzis Unterrichtsmethoden kennenzulernen; und die preußische Schulreform wird auf seine Ideen aufgebaut. Fichte, Fröbel, Diesterweg und andere verbreiten seine Thesen zum erziehenden Unterricht und setzen sie in die Tat um. Dann lässt das Interesse allerdings wieder schnell nach, und Pestalozzis Methodik wird sogar als überholt angesehen. Bereits 1846 wird bei der Feier zum 100. Geburtstag Pestalozzis mehr von seiner positiven Wirkung auf die Volksbildung gesprochen als von seinen konkreten Reformideen (vgl. Liedtke 1979, 185). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die sozialpädagogische Bedeutung Pestalozzis wiederentdeckt und hervorgehoben. So befassen sich Paul Natorp (vgl. 2.1) und Herman Nohl (vgl. 2.8) nicht nur ausführlich mit Pestalozzis Schriften, sondern setzen bei ihm mit ihren eigenen Theorien an. Zum 250. Geburtstag Pestalozzis wird für eine Pädagogik, die sich auf Pestalozzi bezieht, festgestellt:

      „Statt wie die modernen Wissenschaften objektivierende Distanz zu erzeugen, baut sie fiktional zumindest auf bewundernde Unmittelbarkeit und erzieht. Statt eine öffentlich verfahrende moderne Wissenschaft ist die Pädagogik in der Tradition Pestalozzis ein von innen heraus verkündendes Zeugnis. Statt auf Erfahrung, Irrtum und Korrektur setzt sie auf gute Absicht, wiederholten Mißerfolg und Beharrlichkeit“ (Osterwalder 1996, 162).

      Auf die Schriften Pestalozzis berufen sich heute viele (Sozial-)PädagogInnen; es dürfte kaum ein anderes pädagogisches Werk geben, das derart ideologisiert und kanonisiert, das heißt jedes historischen Bezuges enthoben worden ist (vgl. Osterwalder 1996). Und es können für kontroverse Auffassungen stützende Passagen in Pestalozzis Schriften gefunden werden. Das umfangreiche und unsystematische Werk Pestalozzis enthält ja selbst zahlreiche Widersprüche: Seine Erziehungsgrundsätze sind einmal patriarchalisch und autoritär, dann wieder partnerschaftlich und liebevoll; sein Denken ist einmal rational aufklärend und dann wieder kindlich gläubig; mitunter revoltiert er gegen den Staat und eine ungerechte Regierung, dann wieder fügt er sich gehorsam in das Machtgefüge ein. Die Begründung von Erziehung aus einer vorgegebenen, alles umfassenden abgeschlossenen Ordnung ist allerdings eine Konstante in Pestalozzis politischem, pädagogischem und religiösem Denken (vgl. a. a. O.). Das sozialreformerisch-sozialpädagogische Engagement Pestalozzis kann heute weiterhin herausfordernd und warnend zugleich wirken. Seine Aussagen über Gesetzgebung und Kindermord bergen auch heute noch politischen Sprengstoff in sich, werden aber – wie viele andere seiner gesellschaftskritischen Äußerungen – nicht zur Kenntnis genommen. Eine Herausforderung für sozial Tätige ist die von Pestalozzi gelebte Verknüpfung von privatem Leben, beruflicher Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit. Und eine Warnung ist das Leben Pestalozzis für jeden, der strahlenden Triumph für sich in der Sozialen Arbeit gewinnen möchte, besteht doch Pestalozzis Wirkung vermutlich nicht zuletzt im „Triumph des Scheiterns“ (Albert von Schirnding).

       5.7 Literaturempfehlungen

      Die kritische Ausgabe von Pestalozzis Werken (Pestalozzi 1927–1996) umfasst 28 Bände; die mehr als 6000 Briefe liegen in 13 Bänden vor. Die Literatur über Pestalozzi und sein Werk füllt ihrerseits viele Bücherwände. Die Biografie von Max Liedtke (Liedtke 1995) führt anschaulich in Pestalozzis Leben und Werk ein; Liedtkes umfassende Bibliografie der Primär- und Sekundärliteratur bietet viele Ansatzmöglichkeiten für ein vertiefendes Studium. Von den Werken Pestalozzis, die allerdings heutigen LeserInnen einiges an Geduld und Toleranz abverlangen, bieten sich die „Abendstunde eines Einsiedlers“ (Pestalozzi 1945, 143–164), „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ (Pestalozzi 1946a, 377–564), „Über Gesetzgebung und Kindermord“ (Pestalozzi 1945, 353–558) und „Über die Erziehung der armen Landjugend“ (Pestalozzi 1945, 39–76) an, um sich ein eigenes Bild von Pestalozzi und seiner Theorie zu machen. Pestalozzis „Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans“ ist in Auszügen bei Thole/Galuske/Gängler (1998, 43–63) abgedruckt.

       6 Das Entstehen von Armut verhindern

       Thomas Robert Malthus (1766 – 1834)

      „Alles, was ich weiß, ist, dass man keinen schlichteren, tugendhafteren, mehr von häuslichen Neigungen erfüllten Mann in ganz England finden konnte als Malthus und dass sein Herzenswunsch und Arbeitsziel war, häusliche Tugend und Glück in der Reichweite aller zu sehen“ (Harriet Martineau, zit. nach Barth 1977, 197).

       6.1 Historischer Kontext


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