Theorien der Sozialen Arbeit. Christian Spatscheck
ist unterernährt und in einem schlechten Gesundheitszustand. Schon eine Missernte reicht aus, dass Tausende von Armen einer Region verhungern müssen. Die verheerenden Wirkungen von Typhus, Pest und Cholera werden durch die unzureichenden hygienischen Verhältnisse in den proletarischen Elendsvierteln sowie durch die Unterernährung und die Kriege gefördert; viele Hunderttausend Menschen werden auch noch im 18. Jahrhundert Opfer dieser Seuchen. Hinzu kommen die Folgen der „industriellen Revolution“, die große Massen von ArbeiterInnen insbesondere in den industriellen Zentren hervorbringen. Diese müssen unter unvorstellbaren Bedingungen ihr Leben fristen.
Als Thomas Robert Malthus geboren wird, hat die lange Regentschaft von König Georg III. (1760–1820) in Großbritannien gerade erst begonnen. Adam Smith ist zu der Zeit Berater des britischen Schatzkanzlers in London; sein Buch über den Wohlstand der Nationen ist noch nicht erschienen. Demokratisierung, Industrialisierung, Agrarrevolution und der Kampf um die Weltmacht mit Frankreich sind die vier großen Herausforderungen, mit denen Großbritannien konfrontiert ist. Die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik beschleunigt sich und findet einen ersten Höhepunkt. In England ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten. Die alten, arbeitsintensiven Produktionsmethoden (Handwerk, Verlagssystem, Manufaktur usw.) werden durch neue ersetzt (Mechanisierung, maschinelle Massenproduktion usw.). Durch den Einfluss der calvinistischen Ethik wird die Arbeit neu bewertet. Fleiß, Sparsamkeit und nüchternes Gewinnstreben über den Eigenbedarf hinaus gelten als tugendhaft und schaffen die religiös-ethische Basis für eine kapitalistische, an Profitmaximierung orientierte Gesellschaft. Die Gesellschaft spaltet sich in neue Klassen: in Unternehmer (Kapitalisten) und in ungelernte ArbeiterInnen (ProletarierInnen). Ein Überangebot an freigesetzten ArbeiterInnen ermöglicht es den Unternehmern, die Arbeitslöhne und -bedingungen niedrig zu halten. Geringes Einkommen, geschundene Gesundheit, Arbeitslosigkeit und anderes mehr haben erbärmliche Lebensbedingungen zur Folge. Die weitverbreiteten sozialen Missstände führen zu Not und Verelendung weiter Kreise der Bevölkerung; trotzdem wächst die Bevölkerung in Großbritannien ungewöhnlich rasch von 6,3 Millionen Einwohner im Jahre 1750 auf 21 Millionen im Jahre 1850 an. Die Regierung versucht, durch Reformgesetze den sozialen Problemen die Sprengkraft zu nehmen. In den „Fabrikgesetzen“ (1833) werden zum Beispiel die Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten in den Fabriken der verschiedenen Industriezweige geregelt, und in dem „Poor Law Amendment Act“ von 1833 wird die Armengesetzgebung grundlegend reformiert. Die wohlhabenden Mitglieder jeder Gemeinde werden in der Armengesetzgebung verpflichtet, ihren armen Mitmenschen finanziell zu helfen.
Die Französische Revolution mit ihren Zielen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit löst starke politische Bewegungen in Europa aus, und der Expansionsdrang Frankreichs unter der Herrschaft Napoleons zwingt auch Großbritannien zu Abwehrmaßnahmen, die zu Steuererhöhungen, Getreidesubventionen, Verlust europäischer und überseeischer Märkte führen und dies wieder zu Arbeitslosigkeit und Hungersnöten der Bevölkerung. Neue Staatsideen werden entwickelt, die den Klassenstaat zugunsten von Staatsformen ablösen sollen, in denen das Volk der Souverän ist und ein hohes Maß an gleichen Lebensbedingungen für alle geschaffen wird. In Großbritannien und auf dem europäischen Festland bestimmen die liberalen Thesen von Adam Smith die politische Ökonomie. Die von „Vernunft und Natur“ ausgehenden Ideen der Aufklärung dringen vom europäischen Festland auch nach Großbritannien vor. In Frankreich fordert beispielsweise der Mathematiker und Politiker Jean Marie Condorcet (1743–1794) eine Nationalerziehung zur Beseitigung der Klassenunterschiede im Bildungswesen und eine umfassende Weiterbildung der Erwachsenen. Der Politiker und Schriftsteller William Godwin (1756–1836) macht in England die Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit und Gleichheit für alle Menschen populär und verbreitet sie durch seine viel gelesenen Schriften. So führt Godwin in seinem 1793 erschienenen Werk „An Essay Concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness“ (Eine Untersuchung über die politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf die allgemeine Tugend und Glückseligkeit) aus, dass die moralischen Qualitäten des Menschen in einem kaum zu überschätzenden Maß das Produkt der Regierungsform und der staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen seien, weil der menschliche Geist nicht frei, sondern weitgehend durch die sozialen und rechtlichen Verhältnisse und Institutionen bestimmt sei. Auf die Vernunft aller Menschen vertrauend, glaubt Godwin, dass sich eine fast vollkommene soziale Gerechtigkeit für alle Menschen ergeben würde, wenn die politischen Strukturen geändert würden. Außerdem ist für Godwin jedes menschliche Lebewesen mit der Fähigkeit ausgestattet, eine größere Menge von Nahrungsmitteln zu produzieren, als für den eigenen Unterhalt notwendig ist.
6.2 Biografischer Kontext
Thomas Robert Malthus wird 1766 in der englischen Grafschaft Surrey als Sohn wohlhabender Eltern aus dem Mittelstand geboren (vgl. Barth 1977; Winkler 1996). Der Vater ist Jurist, schwärmt für die französische Aufklärung und verehrt Jean-Jacques Rousseau. Zunächst unterrichtet er seinen Sohn selbst, später bereiten ihn verschiedene Privatlehrer, darunter anglikanische Geistliche, auf den Studienbeginn vor. Malthus soll nach dem Willen der Eltern Geistlicher werden. 1784 beginnt Malthus ein breit angelegtes Studium mit Schwerpunkten in Mathematik und Theologie an der Universität in Cambridge. Nach seinen mit Auszeichnung bestandenen Examina wird er 1788 zum anglikanischen Priester geweiht. Malthus übernimmt kurz darauf eine Stelle als Hilfsgeistlicher. Dieser einträgliche Posten in der Staatskirche gibt ihm eine finanzielle Absicherung, ist mit wenigen Aufgaben verbunden und ermöglicht ihm seine weiteren Studien.
Vor allem der Bevölkerungszuwachs und das Elend der Armen in England bewegen ihn – nicht zuletzt deswegen, weil seine wohlhabende Familie infolge der Armengesetze Arme finanziell unterstützen muss.
Die Sozialtheorien seiner Zeit, nach denen die Armut die Folge einer falschen gesellschaftlichen Ordnung ist, fordern den jungen Geistlichen, der sich in seinen Studien vor allem mit nationalökonomischen Fragen befasst, zu einer polemischen Stellungnahme heraus. Malthus veröffentlicht 1798 als 32-Jähriger anonym „An Essay on the Principle of Population as it Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, Mr. Condorcet, and Other Writers“ (Versuch über das Bevölkerungsgesetz und seine Auswirkungen auf die künftige Verbesserung der Gesellschaft. Mit Bemerkungen über die Theorien Mr. Godwins, Mr. Condorcets und anderer Autoren). Sein Hauptziel ist es, darauf aufmerksam zu machen, wie das Entstehen von Armut verhindert werden kann. Seine plakativ-polemischen Thesen hat er in Diskussionen mit seinem Vater entwickelt, einem Anhänger der progressiven Lehren von William Godwin. Die heftigen Angriffe auf seine Thesen und weitere Studien veranlassen Malthus, seine Streitschrift später mit Datenmaterial aufzubereiten. 1803 veröffentlicht Malthus dann als zweite Auflage eine revidierte und „entschärfte“ Fassung unter seinem Namen und mit einem leicht veränderten Titel.
Von 1804 an ist Malthus Professor für Geschichte und politische Ökonomie an der Akademie der Ostindischen Kompanie in Hertfordshire; zugleich übernimmt er eine neue Pfarrstelle, die er bis zu seinem Lebensende innehat. In demselben Jahr heiratet er mit 38 Jahren; er hat mit seiner Frau drei Kinder.
Malthus ist von der Ungleichzeitigkeit der Lebenslagen fasziniert: In China ist ein Arbeiter froh, irgendwelche faulen Abfälle als Nahrung zu ergattern, während auf deren Genuss europäische Arbeiter verzichten und lieber verhungern würden. Ein Wunschtraum von Malthus ist es, eine Kultur vergleichende Geschichte der Sitten ärmerer Chinesen zu schreiben (vgl. Lepenies 1984, 126–129). Für ihn ist die bisherige Geschichtsschreibung lediglich eine Darstellung der Ereignisse aus der Sicht der oberen Schichten; das will er ändern. Der politisch engagierte Wissenschaftler ist ein entschiedener Gegner der englischen Armengesetzgebung und wird deswegen von der Labour Party heftig bekämpft.
Das recht konventionelle und bürgerliche Leben des Gelehrten und Familienvaters wird nur von kurzen Reisen unterbrochen. Malthus stirbt 1834 und wird in Bath Abbey beerdigt. Ein Jahr vor seinem Tod werden in England neue Armengesetze erlassen, danach besteht für alle Armen Arbeitszwang, und in den Armenhäusern sind die Geschlechter voneinander zu trennen.
6.3 Forschungsgegenstand und -interesse
Die Thesen von Malthus provozieren bei seinen Zeitgenossen Widerspruch