Die Clans der Wildnis - Amisha. Delia Golz
mich verschlafen anblinzelt. »Du hast überlebt«, sage ich glücklich und kann im nächsten Moment wieder die vertraute Kraft spüren, die von ihm ausgeht.
Voller Energie springe ich auf und suche eine Schüssel mit Wasser sowie einen Brocken Fleisch zusammen. Luan macht sich sofort hungrig darüber her, auch wenn er noch immer Probleme hat, sich auf den Beinen zu halten.
Kurze Zeit später gesellen sich auch meine Eltern zu uns und sind genau so glücklich wie ich, dass Luan überlebt hat.
»Da wird der Clan sehr neidisch sein«, sage ich heiter. »Es kommt sicherlich nicht oft vor, dass jemand einen Leoparden bei sich zuhause hat.«
»Sobald er gesund ist, lassen wir ihn aber wieder frei«, erwidert meine Mutter mahnend. »Wir haben kein Recht, ihn der Natur zu entreißen.« »Das weiß ich doch«, sage ich gut gelaunt.
Obwohl ich nicht im Clanlager aufgewachsen bin, habe ich die gleiche Erziehung wie alle anderen Kinder genossen. Wie sie habe ich am Unterricht teilgenommen, bei dem uns die Ansichten der Clans erklärt wurde. Wenn ich eines Tages einen Gefährten gefunden habe, der anders als ich reinblütig ist, werde auch ich in das Hauptlager ziehen können.
Auch wenn niemand vergessen wird, dass mein Vater aus der Stadt stammt. Ich weiß, dass er insgeheim ein schlechtes Gewissen hat, dass meine Mutter und ich wegen ihm in dem abgelegenen Dorf leben müssen. Vermutlich tut es ihm sogar leid, dass ich vom Aussehen her nach ihm komme, auch wenn er stetig betont, dass ich den Stadtmenschen in keinster Weise ähnlich bin.
Manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, die Familie meines Vaters dort zu besuchen und überlege, ob sie mich überhaupt kennenlernen wollen würden. Doch wenn ich an die Erzählungen über dieses hektische, unpersönliche Leben dort denke, verwerfe ich die Gedanken sofort wieder.
Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als die endlosen Weiten der Natur und dieses friedliche Gefühl, mit ihr verbunden zu sein. Ich weiß, dass ich hierhergehöre, auch wenn ich das dem Clan noch beweisen muss.
Schon als kleines Kind habe ich davon geträumt, eine angesehene Kriegerin zu werden und war umso enttäuschter, als meine Mutter mir erklärt hat, dass dies nicht möglich sein wird.
Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf und versuche immer wieder zu beweisen, dass ich mutig genug bin, um den Kriegern ebenbürtig zu sein. Leider gerate ich dadurch immer wieder in Auseinandersetzungen, wie neulich mit Ashok. Er verhält sich, als würde er selbst der Anführer sein. Dabei gibt es kein Ge-burtsrecht, dass er eines Tages diesen Titel tragen wird, denn als Nachfolger kommen nur Clanmitglieder infrage, die sich durch Weisheit, Mut und gute Absichten bewährt haben. Alles Eigenschaften, die auf Ashok nicht zutreffen.
Ein Zwicken an meiner Hand reißt mich aus meinen Tagträumen und ich muss lachen, als ich in Luans vorwurfsvollen Augen blicke.
»Magst du es etwa nicht, wenn ich dir keine Aufmerksamkeit schenke?« Ich stupse ihm spielerisch gegen die Nase, woraufhin er ein protestierendes Miauen von sich gibt.
Ich zucke zusammen, als jemand laut an unsere Tür häm-mert und seufze, als ich die Stimme von Sina, einem Mädchen aus unserer Nachbarschaft, höre.
»Amisha, bist du da? Hast du Lust, mit mir zum Clanlager zu gehen?« Mein Vater wirft mir einen mahnenden Blick zu, also stehe ich widerwillig auf und öffne die Tür.
Sina blickt mich strahlend durch ihre dunkelbraunen Augen an und ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Eigentlich habe ich gerade zu tun.«
»Nein, geh ruhig!«, ruft mein Vater von der anderen Seite des Raumes und ich schaffe es gerade noch, ein erneutes Seufzen zu unterdrücken.
»Na gut.« Ich werfe einen letzten Blick zu Luan, ehe ich in meine ledernen Stiefel und in mein ebenfalls ledernes Wams schlüpfe. Meine Wurfmesser stecke ich unauffällig ein, auch wenn ich weiß, dass meine Eltern dagegen sind. In unserem Clan ist es eher üblich, mit Pfeil und Bogen oder einem Speer zu schießen. Mein Vater erwähnte sogar einmal, dass Wurfmesser eine beliebte Waffe vom Clan der Dämonenpferde wären, was ich jedoch stets verdränge. »Dann mal los«, sage ich kaum hörbar und gehe neben Sina her, die nur wenig jünger ist als ich.
Dennoch finde ich sie viel zu naiv und kindisch und versuche darum meist, ihr aus dem Weg zu gehen. Da meine Eltern jedoch gut mit ihrem Vater Eduardo befreundet sind, komme ich meistens nicht drum herum, mit ihr Zeit zu verbringen.
»Ich habe gehört, dass die Vorbereitungen für das nächste Treffen der Räte im vollen Gange ist«, beginnt sie mit ihrer hellen Stimme zu erzählen.
Interessiert horche ich auf. »Es findet diesmal in unserem Lager statt? Müsste es nicht sogar schon morgen soweit sein?«
Sina nickt eifrig, wodurch die bunten Perlen in ihren dunklen Haaren zu klimpern beginnen. Ich konnte mit diesem Schmuck nie etwas anfangen und in meinen hellen Haaren sehen sie ohnehin lächerlich aus.
»Vielleicht können wir uns mit den Leuten aus den anderen Clans unterhalten«, sage ich begeistert. »Schließlich nehmen die Ratsmitglieder auch einige ihrer Krieger mit.«
»Das könnte gut sein«, erwidert Sina mit träumerischer Stimme. »Ob da auch Jungs in unserem Alter dabei sind?«
Ich verdrehe innerlich die Augen. »Mach dir da lieber keine zu großen Hoffnungen.«
»Ach ja, ehe ich es vergessen…«, beginnt das Mädchen nachdenklich. »Als ich vor eurer Hütte stand, überkam mich dieses besondere kraftvolle Gefühl. Du weißt schon, wie dieses Gefühl, wenn sich ein Leopard in der Nähe befindet. Kannst du dir das erklären?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sage ich unschuldig. Aus irgendeinem Grund möchte ich die Sache mit Luan noch geheim halten, auch wenn sicherlich schon bald noch mehr Leute unseres Dorfes darauf aufmerksam werden.
Mit federnden Schritten nehmen wir eine Abkürzung über einen schmalen Trampelpfad und haben schon bald den Rand des Hauptlagers erreicht.
Tatsächlich herrscht hier ein wildes Treiben. Unzählige Lebensmittel werden in die Vorratskammer gebracht und die Gästezelte hergerichtet. Aus dem Wald kommen Krieger mit drei erlegten Wildschweinen und die Kinder folgen ihnen mit stau-nenden Augen. Sicherlich träumen auch sie davon, eines Tages ein angesehener Krieger oder sogar Anführer zu werden.
Eine Welle von Neid überrollt mich und ich wende mich schnell von dieser Szene ab. Die Kinder wissen nicht, was für ein Glück sie haben, denn ihre Träume könnten in Erfüllung gehen.
Als ich Nevya zwischen den vielen Gesichtern sehe, laufe ich dankbar auf sie zu.
»Na, bist du auch schon mit den Vorbereitungen beschäftigt?«, frage ich mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit.
Die Augen meiner Freundin beginnen zu strahlen. »Du glaubst gar nicht, was mein Vater mir eben erzählt hat. Ich darf dieses Jahr bei dem Treffen der Räte dabei sein!«
»Das ist ja wundervoll«, sage ich mit hohler Stimme. Sofort hat mich meine schlechte Laune wieder eingeholt.
Nevya ist die Tochter des Schamanen und wird eines Tages seinen Platz einnehmen. Dadurch wird dann auch sie ein Mitglied des Rates sein, was wohl der Grund dafür ist, dass sie beim nächsten Treffen dabei sein wird. Ich werfe ihr einen verstohle-nen Seitenblick zu. Wie ich, hat auch sie nicht das typische Aussehen vom Clan des schnellen Leoparden. Ihre Haut und Haare sind heller und ihre Augen leuchten in einem satten Grün. Allerdings stammt ihre Mutter vom Clan des weißen Hirschen, also wird sich über Nevyas Aussehen nicht lustig gemacht. Zudem wird ihr wegen ihrem Status als angehende Schamanin großer Respekt entgegengebracht. Ich kann von Glück reden, dass Nevya sich mit mir angefreundet hat, denn dadurch sind die Hänseleien etwas weniger geworden, auch wenn der Preis dafür ist, dass ich völlig in ihrem Schatten stehe.
Doch es macht mir nichts aus, unsichtbar zu sein, solange ich dafür meine Ruhe habe. Nur gelegentlich breche ich aus diesem Dasein aus und begehe solche Dummheiten wie die Prügelei mit Ashok.
Im nächsten Moment sehe ich ihn auch schon wieder und verstecke mich schnell zwischen den Zelten, um nicht wieder von ihm