Die Clans der Wildnis - Amisha. Delia Golz
meiner Feigheit noch ein weiterer Leopard umgebracht wird.
Entschlossen presse ich die Lippen zusammen und lasse mich lautlos die Äst hinuntergleiten. Die Gestalt hat sich mittlerweile entfernt und scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. Auf leisen Sohlen pirsche ich durch das Unterholz und halte meine Wurfmesser bereit.
Doch gerade, als ich mich in der richtigen Entfernung befinde, um ihn damit anzugreifen, wirbelt der Fremde herum. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich in das Gesicht, welches ich sofort wiedererkenne.
»Du«, keuche ich und mache einen unbeholfenen Schritt zurück.
Der Mann, der sich vor wenigen Tagen mit Ashok angelegt hat, um mich zu retten, blickt mich finster an und scheint zu überlegen, wie er reagieren soll.
Dann läuft er jedoch mit fast unnatürlicher Geschwindigkeit auf mich zu und drückt mich gegen einen Baum. Eine Hand hat er fest um meine Kehle gelegt und drückt nun zu, bis ich keine Luft mehr bekomme. Der junge Mann blickt mich mit völlig ausdruckslosen Augen an und beobachtet, ohne mit der Wimper zu zucken, meinen verzweifelten Überlebenskampf.
Ächzend taste ich nach meinen Messern, doch ich muss sie vor Überraschung fallengelassen haben. Dann fällt mir das Schwert wieder ein, doch mein Bewusstsein beginnt bereits zu schwinden. Mit letzter Willenskraft schaffe ich es, das Schwert zu ziehen und es ihm in die Seite zu rammen. Sofort ist der
Druck auf meiner Kehle weg und ich falle kraftlos zu Boden.
Während ich gierig die kalte Luft einatme, höre ich Schritte, die sich hastig entfernen.
Als ich vorsichtig den Blick hebe, entdecke ich eine dunkle Blutspur am Boden, die sich im Unterholz verliert. Bei der Menge des Blutes bin ich mir sicher, dass er es nicht überleben wird, doch aus irgendeinem Grund verspüre ich dabei keinen Triumph.
Ich bemerke kaum, wie ich den Weg zurück ins Dorf hinter mich bringe und taumele, immer noch unter Schock stehend, durch die Tür unserer Hütte. Alles wirkt so friedlich, was überhaupt nicht zu der tobenden Unruhe in meinem Inneren passt.
Wie in Trance erklimme ich die Leiter in mein Zimmer und lasse mich in das Bett fallen.
Noch lange starre ich mit weit aufgerissenen Augen an die Decke und murmle immer wieder in die Dunkelheit, dass es nur ein schlimmer Traum gewesen ist.
Bald schon dringt erstes Tageslicht durch das milchige Fenster und schenkt mir genug Sicherheit, sodass ich endlich einschlafen kann.
»Geht es dir nicht gut? Du siehst so blass aus«, sagt meine Mutter besorgt und legt ihre Hand auf meine Stirn.
»Es geht schon«, entgegne ich mit krächzender Stimme und löffle schweigend den Haferbrei in mich hinein. Das Schlucken tut höllisch weh und ich muss an die Würgemale an meinem Hals denken, die ich heute Morgen erschrocken im Spiegel entdeckt habe. Schnell hatte ich mir ein Tuch umgebunden und gehofft, dass niemand wegen meines furchtbaren Aussehens Fragen stellt. Nun kommt mir die Erklärung meiner Mutter, dass ich mich wohl erkältet haben muss, sehr gelegen. Sie schickt mich sofort wieder ins Bett, wo ich mich dankbar in die warme Decke einwickele. Am liebsten würde ich das Haus tagelang nicht mehr verlassen, doch ich bin zu neugierig auf Nevyas Erzählungen über den Rat. Wir hatten uns zum Abend im Lager verabredet und so hoffe ich, dass ich mich bis dahin wieder besser fühle.
Obwohl ich durch Luans Anwesenheit ungewöhnliche Kräfte verspüren müsste, fühle ich mich völlig ausgelaugt. Immer wieder erscheint das Gesicht des Fremden vor meinen Augen und ich frage mich, warum er sich noch vor kurzem gegen Ashok für mich eingesetzt hat. Und warum er mich dann, nur wenige Tage später, töten wollte. Nur mit Mühe kann ich die Schluchzer unterdrücken, die sich meinen schmerzenden Hals hochkämpfen, als mir klar wird, dass ich das erste Mal in meinem Leben einen Menschen umgebracht habe.
Doch dann, als ich weiter darüber nachdenke, kommt mir ein neuer Gedanke. Wenn dieser Mann wirklich darauf aus war, Leoparden zu jagen, wurde er wahrscheinlich von Morigan ge-sandt. Und das kann nur bedeuten, dass er ein Unsterblicher sein muss.
Zu meinem Erstaunen spüre ich bei diesem Gedanken nur Erleichterung darüber, dass die Wunde, die ich ihm zugefügt habe, dann wohl doch nicht tödlich gewesen ist.
Ich muss mich schon fast dazu zwingen, Unruhe darüber zu empfinden, dass ich von einem Mitglied vom Clan der Dämonenpferde angegriffen wurde. Gleichzeitig frage ich mich, warum er sich dann überhaupt zurückgezogen hat.
Die Vorstellung, dass ich gegen einen Unsterblichen gekämpft habe und ihn vertreiben konnte, erweckt neuen Tatendrang in mir und mit einem breiten Grinsen verlasse ich das Bett.
Ich beschließe, Nevya bei unserem Treffen einzuweihen. Sie ist der einzige Mensch, dem ich dieses Erlebnis anvertrauen kann, denn ich spüre instinktiv, dass es großen Ärger geben würde, wenn der restliche Clan davon erfährt.
Meine Eltern schauen mir verdutzt hinterher, als ich mit schwungvollen Schritten nach draußen gehe und ihnen fröhlich zum Abschied winke. Ich bin mir sicher, dass von nun an alles besser wird und ich endlich eine Chance habe, mich zu beweisen.
An diesem Tag dürfen sich die Clanmitglieder nur in dem äußeren Bereich des Lagers aufhalten, da die Umgebung um die Feuerstelle herum für den Rat abgeschottet wurde. Zudem reden die Leute nur im Flüsterton miteinander, um die wichtigen Besprechungen nicht zu stören.
Am liebsten würde ich mich irgendwo verstecken, von wo aus ich den Gesprächen des Rates lauschen könnte, doch überall passen wachsame Krieger auf, dass genau dies nicht geschieht.
Allerdings weiß ich, dass Nevya mir von den wichtigsten Themen berichten wird und beschließe darum, mich mit Kyan zu unterhalten, den ich am Rande des Lagers entdecke.
Obwohl ich ihn kaum kennenlernen konnte, hat er eine Ausstrahlung, bei der ich mich sofort wohl fühle. Zudem scheint Nevya an ihm interessiert zu sein und vielleicht könnte ich ein gutes Wort für sie einlegen. »Da ist ja die Messerwerferin«, sagt er scherzhaft, als er mich entdeckt.
Aus irgendeinem Grund fühle ich mich durch diese Worte nicht beleidigt und fange an zu grinsen.
»Ist es nicht langweilig, den ganzen Tag hier herum zu stehen und wache zu halten?«, necke ich ihn, woraufhin er theatralisch seufzt.
»Das gehört leider zu den unangenehmen Aufgaben eines Kriegers. Ich stehe hier schon seit Sonnenaufgang. Ich frage mich immer wieder, was die Räte so lange zu besprechen haben.«
»Bist du bei jedem der Treffen dabei?«, frage ich neugierig.
Ich kann mich nicht erinnern, ihn die letzten Jahre in unserem Lager gesehen zu haben.
»Bisher war ich immer nur bei den Treffen beim Clan des grauen Wolfes dabei, da meine Mutter dort lebt. Dieses Jahr durfte ich das erste Mal bei jedem Treffen dabei sein.«
»Wie ist es bei den anderen Clans?« Sofort packt mich wieder diese Sehnsucht, auch herumreisen zu können.
Gleichzeitig frage ich mich, was mich bisher daran gehindert hat. Schließlich ist es niemandem verboten, die anderen Clans zu besuchen, solange man keinen Ärger macht. Vermutlich hat sich die Angst, dass wegen der Herkunft meines Vaters schlecht über mich geredet wird, so sehr eingebrannt, dass ich trotz meiner Neugierde in meiner gewohnten Umgebung bleibe.
»Es ist wirklich aufregend«, beantwortet Kyan meine Frage und unterbricht so meine Grübelei. »Die Lebensart der anderen Clans unterscheidet sich so sehr von allem, was ich gewohnt bin. Du solltest dir unbedingt mal selbst ein Bild davon machen.« Ich nicke verunsichert.
»Hast du nicht auch noch ein Elternteil aus den anderen Clans?«, fragt er plötzlich, woraufhin ich am liebsten weglaufen und damit der Frage ausweichen würde. »Du unterscheidest dich äußerlich auch sehr von deinen Clankameraden.«
»Nein«, sage ich knapp und wechsele schnell das Thema.
»Wusstest du, dass Nevya heute auch beim Treffen der Räte dabei ist? Sie hat große Fortschritte in ihrer Ausbildung gemacht.«
Kyan runzelt verwundert die Stirn, lässt den plötzlichen The-menwechsel