Colours of Life 2: Rosengrau. Anna Lane

Colours of Life 2: Rosengrau - Anna Lane


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gut habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

      »Nur wir zwei?«

      »Komm schon, wo bleibt deine Euphorie? Freiheit! Ist es nicht das, was wir uns gewünscht haben?«

      »Carter hat nichts dagegen, dass ich mitkomme? Sein einstündiger Vortrag über das Thema Geh-ja-nicht-nach-draußen ging da eher in eine andere Richtung …«

      Technisch gesehen könnte Carter tatsächlich etwas deswegen erwähnt haben. Aber da ich ja nichts gehört habe, kann es mir eigentlich egal sein. »Nur eine halbe Stunde wird uns nicht umbringen. Cam ist schon weg, du kannst also tun und lassen, was du willst.«

      »So weit würde ich nicht gehen.« Crys seufzt und zieht den Haargummi aus ihrer Mähne, ehe sie sie mit den Fingern durchkämmt. »Ich muss mir noch Socken anziehen. In fünf Minuten?«

      »In fünf Minuten, Baby!«

      Ah. Ich atme tief ein.

      Frischluft.

      Frühlingssonne.

      Keine Wolke, die meine Stimmung trüben könnte. Außer die, die fünf Schritte hinter uns herzieht und selbst die Tauben vor Angst in die Höhe fliegen lässt.

      »Was hast du erwartet? Dass Carter dich allein rauslässt?« Fast schon bin ich beleidigt, dass Crys über mein Schmollen schmunzelt.

      »Ja, aber ihn? Wieso nicht Dave? Wieso passt er überhaupt auf uns auf? Er ist mit uns aus der Anstalt geflüchtet.«

      »Er trainiert. Carter sieht das. Vielleicht wollen sie ihn für das Requiem.«

      Wahrscheinlich hat der Offizier Tyler ausgewählt, weil er weiß, dass er mir, ohne zu zögern, ins Gesicht schlagen würde, sollte ich mich nur irgendwie falsch benehmen. Nicht, dass es mich nicht reizen würde, auf offener Straße ein kleines Lied anzustimmen. Aber ich will die Genugtuung in Tylers Blick nicht ertragen müssen, wenn ich am nächsten Tag mit einem Veilchen beim Frühstückstisch sitze. Wenigstens hält er genügend Abstand. Das Fußvolk muss eben ein paar Meter hinter dem König bleiben. In Tylers Fall am besten so weit hinten, dass man so wenig wie möglich von ihm hört und sieht.

      »Also, Crys, jetzt kommt die Stunde der Wahrheit.« Ich sehe sie von der Seite her an. »Wer ist dein Favorit in der Musikwelt?« Ich meine, das ist doch einfach, ich bin der Favorit von einfach jedem. Oder für einen Moment will ich so tun, als wäre das noch wahr. Niemand erkennt mich. Blicke streifen über mich, über mein unscheinbares Gesicht, das ohne Eyeliner und blaue Haare einfach nur ein Gesicht unter tausenden ist.

      Crys zuckt mit den Schultern.

      »Ach komm.« Ich würde es auch noch ertragen, dass sie Thousand Tiny Suns gut findet. Oder Backlash. Aber bei Tommy White wäre der Spaß vorbei. Dieser Typ glaubt doch tatsächlich, ein Kilt ist ein angemessenes Bühnen-Outfit für einen Punkrock-Star. »Jeder hat eine Lieblingsband. Man kann nicht keine Lieblingsband haben. Also?«

      Schon wieder Schulterzucken. Für diesen Spaßfaktor hätte ich auch mit Tyler allein losziehen können. Da ich keine Antwort mehr erhalte, ziehe ich noch einmal die frische Luft ein und atme dann langsam wieder aus. Häuser, Straßen, Menschen. Balsam auf meiner verwundeten Seele. Auch Crys’ Blick hängt an dem kleinen Café, das wir gerade passieren. Nein. Sie starrt. Angestrengt. »Alles in Ordnung?« Ihre Wangen sind rot. Nicht rosig von der Kälte. Auf ihrer Oberlippe glänzt der Schweiß.

      Tyler schließt zu uns auf. Jetzt bin ich froh, dass er da ist. »Ist was?«

      Genau wie ich bekommt er keine Antwort von Crys. Stattdessen geht sie ein paar Schritte nach vorne, in Richtung des Cafés, vor dem ein paar Leute schon in der Frühlingssonne sitzen. Tyler und ich bleiben ihr auf den Fersen, bis sie stehen bleibt, den Blick immer noch auf den Rücken des Kellners gerichtet, der gerade eine Bestellung aufnimmt.

      »Oliver.« Crys’ Stimme ist kaum hörbar. Reglos steht sie da, die Hände hängen an ihren Seiten.

      »Oliver«, wiederholt sie noch einmal. Ist sie jetzt völlig übergeschnappt?

      »Was zur Hölle«, flucht Tyler und will sie von dem Typen wegreißen, doch ich halte ihn am Arm zurück.

      »Lass sie.« Glaubt sie wirklich, diesen Typen zu kennen? Das könnte spannend werden.

      »Ich habe Befehle«, knurrt Tyler und schüttelt meinen Griff ab, doch er bleibt stehen.

      Noch immer scheint der Typ Crys nicht gehört zu haben. Er kritzelt etwas auf einen kleinen Block, dann klemmt er sich sein Tablett unter den Arm. Er dreht sich zu uns um. Sein Mund klappt auf. »Crystal?«, fragt er, seine Stimme ungläubig. Einen Moment lang stehen sie einander gegenüber, wie in ihren Bewegungen eingefroren.

      Mein Blick fliegt zwischen ihnen hin und her. Was geht denn hier ab?

      Oliver lässt das Tablett und den Block auf einen leeren Tisch zu seiner Rechten fallen und umarmt Crys. »Ich wusste, ich würde dich irgendwann finden.«

      »W…was tust du hier?«, fragt sie, ohne ihn von sich wegzustoßen, im Gegenteil, sie erwidert seine Umarmung.

      Ich bin vollkommen verwirrt. Ich kann Crys’ Gesicht nicht sehen, aber das von Oliver. Nach kurzer Zeit hält er sie eine Armlänge von sich weg. Sein Blick wechselt von erleichtert zu eindringlich.

      »Sie haben Violet.«

      »Was?« Crys’ Stimme ist nur ein Hauch.

      »Crys, wer ist das?« Tyler tritt neben Oliver, doch sie beachtet ihn nicht.

      »Violet. Sie haben Violet. Sie haben sie mitgenommen.«

      Crys blickt Oliver fassungslos an. Sein Blick ist flehend, eine Mischung aus schierer Verzweiflung und Tatendrang.

      »Mitgenommen?« Crys’ Stimme ist ein fahles Echo, ohne eigenen Ton. Die Arme sinken an ihre Seite.

      »Du musst zu ihnen gehen und Violet zurückholen. Hörst du, Crystal?« Er packt sie an den Schultern, schüttelt sie. Nun trete auch ich direkt neben sie. Verdammt, was ist hier los?

      Crys starrt ihn verzweifelt an, ich bilde mir ein, zu sehen, wie die Worte in ihren Verstand sickern. Ihre Finger bilden hilflos Fäuste, öffnen sich, schließen sich.

      »Lass sie los«, mische ich mich jetzt ein. Die Menschen starren uns bereits an. Unwohl blicke ich mich um, ziehe den Kopf zwischen meine Schultern. Wir müssen das nach drinnen verlegen. Auf der Stelle.

      »Hilf mir«, flüstert er.

      »Was soll ich …«, fragt Crys. Ein heftiges Zittern breitet sich in ihrem Körper aus. Ihre Beine knicken ein, aber der Typ hält sie fest.

      »Genug jetzt«, sage ich und will Olivers Hand von Crys’ Schulter ziehen, doch er schüttelt mich ab. Was ist sein Problem? Sieht er nicht, wie sehr er sie bedrängt?

      »Sie ist deine Schwester. Sie wollen dich, deshalb haben sie Violet mitgenommen. Verstehst du das? Du musst sie zurückholen!«

      »Beruhige dich mal! Wer hat sie mitgenommen?«, fährt Tyler dazwischen.

      Jetzt knicken Crys’ Beine endgültig ein, und noch bevor er eine Antwort bekommt, bricht sie zusammen.

      »Crys!« Ich kann ihren Sturz gerade noch abfangen. Beinahe reißt ihr Gewicht mich mit zu Boden. Sanft lege ich sie auf das Pflaster, bette ihren Kopf seitlich in meinen Schoß. »Komm schon, was soll das?« Ich fluche leise, als ich ihren Puls fühle.

      »Zur Seite, Neptune.« Tyler windet seinen rechten Arm unter ihrem Oberkörper hindurch, mit dem anderen umfasst er ihre Beine, bevor er sie hochhebt. »Wir gehen sofort zurück.« Crys’ Kopf sinkt gegen seine Brust. Ihr Atem geht immer noch flach. Mit dem Kopf deutet er auf Oliver. »Und du kommst mit.«

      Oliver nickt, benommen. Wo sind jetzt die ganzen Worte, die er Crys zuvor an den Kopf geworfen hat?

      Egal, was gerade passiert ist und welche Bedeutung es hat … es ist schlimm. Sehr schlimm. Ich kann es in meinem Blut fühlen. Ich täusche mich nie.


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