Colours of Life 2: Rosengrau. Anna Lane

Colours of Life 2: Rosengrau - Anna Lane


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zwischen kleinen Paketen, Zetteln und anderem Zeug die Taschenlampe ertaste.

      Ich knipse sie an und gehe in den Keller.

      Es ist stockdunkel hier unten, mit dieser kleinen Lichtquelle nur wenig heller. Eigentlich sollte ich gar nicht hier unten sein. Das hat zumindest Tyler gesagt. Woher weiß er das? Da unten werden Akten gelagert, die fremde Personen nichts angehen, hat er gesagt und mich im Dunkeln stehen lassen, als ich ihm meine Hilfe angeboten habe. Mal davon abgesehen, dass er selbst nicht zum Requiem gehört, habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Doch jetzt werden meine Augen immer größer, je weiter rauf der Lichtschein der Lampe wandert. Alte Kartons. Mit schwarzem Stift beschriftet. Dutzende. Die meisten von ihnen bereits eingestaubt.

      Der Schaltkasten befindet sich so weit oben an der Wand neben der Tür, dass ich selbst auf Zehenspitzen kaum rankomme. Ich leuchte mit der Taschenlampe das Regal an und entschließe mich dazu, mich mit einem Fuß draufzustellen und dann nach dem Kasten zu angeln.

      Mit einem Ruck schwingt die Tür auf, ich verliere das Gleichgewicht und falle zurück, kann mich gerade noch an dem Kasten festhalten. Mit dem Ellenbogen stoße ich ein paar Kisten nach unten, ein stechender Schmerz zuckt durch meinen Unterarm. Ich stöhne leise auf, taste dann nach dem Hauptschalter. Glücklicherweise habe ich die Taschenlampe nicht fallen gelassen.

      Das Licht geht wieder an. Rasch hopse ich zurück auf den Boden, betrachte kurz meinen Arm, an dem sich schon jetzt ein blauer Fleck abzeichnet, und bücke mich dann, um die kleinen Kisten wieder einzuräumen, deren Inhalt sich über den staubigen Fliesenboden verteilt hat. Darauf bedacht, nicht allzu staubig zu werden, hocke ich mich hin.

      Glücklicherweise ist von der größeren Kiste der Deckel nicht runtergefallen. Der Inhalt der kleineren, schmalen Schachtel aus Pappe liegt jedoch über den Boden verstreut. Ich schlucke.

      Reisepässe. Zehn Stück. Meine Finger zittern, als ich den ersten in die Hand nehme und aufschlage.

      Ich sollte das nicht tun.

      Ich sollte mich wirklich aus den Angelegenheiten des Requiems raushalten.

      Und dennoch gleitet mein Blick über den fettgedruckten Namen. Alexej Tarassow. Ich schlucke, meine Augen wandern von dem Namen zum Foto. Ein jüngerer Cameron blickt mir entgegen, starr, ernst. Ich muss nicht einige Seiten nach hinten blättern, um zu wissen, dass die Blätter voller Einreisestempel sind. Vorsichtig, beinahe andächtig, lege ich den Reisepass zurück in die Schachtel und greife zum nächsten. Mein Atem geht schneller. Tom Chevalier. Davide Vianello. Raphael Zimmermann. In jedem Pass finde ich einen anderen Namen, aber immer das gleiche Bild. Mir wird übel. Meine Finger zittern.

      »Was tust du da?«

      Ich halte den letzten Pass in den Händen, bringe es aber nicht zustande, ihn aufzuschlagen. Ich kann nicht anders, als Cameron zu ignorieren, der an der Treppe steht. Ich habe ihn nicht kommen hören. Wie ich hier sitze, mit all diesen unwahren Leben, wird mir bewusst, dass ich Cam nie gekannt habe.

      Dass da so viel ist, was ich nicht weiß und nie wissen werde. Ich starre den Reisepass an, der genauso aussieht wie der, den ich habe. Auch in meinem ist ein erfundener Name, aber das hier … das übersteigt das Maß an Lügen, das ich zurzeit ertrage. Langsam schüttle ich den Kopf. Ich spüre, wie sich Tränen hinter meinen Augen ansammeln und presse meine Lider für einen Moment zu. Da sind sie wieder, die Tränen. Natürlich kann ich den Fluss an Emotionen nicht zurückhalten – ich mag eine Närrin sein, die Cam vertraut hat. Aber ich weiß, dass Gefühle stärker sind als jede selbsterrichtete Barriere.

      »Wer bist du?«, flüstere ich. Meine Stimme ist dünn wie ein Blatt Papier – welche Antwort mir Cam auch gibt, sie wird die Worte auf meiner Zunge zerfallen lassen.

      Cameron kommt auf mich zu, er trägt dasselbe T-Shirt wie bei unserem Date. Ohne eine Antwort nimmt er mir den letzten Reisepass aus der Hand, hält ihn vor mein Gesicht. »Das«, er lässt den Pass zu den anderen in die Schachtel fallen, »… jedenfalls nicht.«

      »Wer dann?«

      »Der, der mit dir im Wald ums Überleben gekämpft hat. Damals ist viel passiert.«

      »Du meinst seitdem«, korrigiere ich ihn mit trockener Stimme.

      »Uns ist viel zugestoßen.« Er blinzelt und legt den Kopf schief, ehe er in einem sanften Tonfall ergänzt: »Vielleicht zu viel.«

      »Ich hatte keine Wahl, du hast dich für die Anstalt entschieden.«

      Cams Mundwinkel zuckt, während seine Augen ausdruckslos bleiben. »Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war. Ich bin es gewohnt, immer wieder von Neuem damit zu beginnen, Kämpfe auszutragen. Ich gebe mein Bestes, um den Ansprüchen des Requiems gerecht zu werden. Aber meine Anstrengungen sind nicht genug. Weder für sie noch für dich.«

      Er steht auf und stellt die zwei Schachteln mit Schwung wieder an ihren Platz zurück, dann sieht er auf mich herab, hält mir die Hand hin. Kurz zögere ich, dann ergreife ich sie und lasse mich von ihm auf die Beine ziehen.

      »Da ist so viel, das ich nicht über dich weiß. Dein gesamtes Leben ist ein Geheimnis. Genau wie deine Zukunft.« Ich schüttle den Kopf und sehe auf seine Hand hinab, die meine noch immer nicht losgelassen hat. »Ein Geheimnis, das du mir nie anvertrauen werden wirst. Von dem ich nie ein Teil sein werde.«

      Ich warte auf eine Antwort, doch ich kriege keine. Cam sieht nur auf mich herab, sein Blick gleichzeitig heiß und bedauernd. Er kann meine Zweifel nicht entkräften.

      »Du bedeutest mir so viel«, flüstert er stattdessen.

      Du mir auch, will ich sagen, doch stattdessen verlassen die Worte als »Ich brauche Zeit« meine Lippen.

      Ohne einen weiteren Blick oder eine weitere Geste gehe ich durch die Tür, die Stufen nach oben, bis ich am Treppenabsatz des ersten Stocks beinahe mit Dr. Sanders kollidiere.

      »Crystal, wohin so eilig? Hast du den Strom wieder angeschaltet?« Der hagere, weißhaarige Mann ist gerade auf dem Weg nach unten. Mein Blick schweift zu den Zimmern, die am Flur liegen. Für seinen regelmäßigen Besuch ist es viel zu früh. Er war also wieder bei Ace.

      »Ja, habe ich.« Kurz zucken meine Augen zu seiner großen Arzttasche aus Leder.

      »Danke, das ist nett. Geht es dir gut? Kannst du mittlerweile besser schlafen?«

      »Ja«, sage ich abwesend.

      »Nimmst du die Schlaftabletten noch?«

      »Manchmal.«

      Er nickt mir noch einmal zu, dann verziehe ich mich nach oben. Vielleicht finde ich etwas Schlaf, jetzt, wo alle anderen langsam wach werden.

      ***

      Ace

      All die Stimmen in meinem Kopf sind undurchdringlich, und dennoch höre ich ihre heraus. Das Morphium wirkt langsam. Dr. Sanders meint, die Schmerzen rühren von dem Stress, der sich während unserer Flucht aufgetürmt hat.

      Ich bin mir da nicht so sicher. Langsam glaube ich, dass jeder Gedanke in dieser Welt scharfe Ecken hat. Ich kann nur warten, bis es aufhört. Bis dahin schwitze ich, leide ich, übergebe mich nach jedem Essen wieder. Jeder Blick in den Spiegel fühlt sich an, als würde ich eine Hülle aus Gewebe anstarren, die zufällig meine Gesichtszüge trägt.

      Sie lügt. Sie lügt oft und glaubt, dass niemand hinter ihre Fassade sehen kann. Aber da irrt sie sich. In all diesen Momenten, in denen sich zufällig ihre Gedanken zwischen all jene drängen, die aus Erlebnissen und Geschehnissen unserer Flucht bestehen, herrscht plötzlich völlige Klarheit. Ich sage nicht, dass der Schmerz besser wird oder nachlässt. Aber wenn sie in der Nähe ist und ich ihre Gedankengänge belauschen kann, kann ich mich wieder konzentrieren. Ich kann dann entscheiden, dass ich nur ihre Stimme hören will und keine andere. Diese Sekunden sind selten für mich.

      Ich liege auf dem Bett, eine unglaubliche Schwere drückt mich in die Matratze. Wenn ich mich bewegen würde – was ich nicht tue –, würde das Morphium-Pflaster an meiner Haut reißen, also bleibe ich liegen, genieße die Klarheit.


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