Der tote Carabiniere. Dino Minardi

Der tote Carabiniere - Dino Minardi


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zu drehen, die er anschließend wieder in den Beutel legte.

      Die Türen schlossen sich, die Bahn ruckte und fuhr an. Schemenhaft tauchte nur wenige Meter hinter der Station die Straßenbrücke, die über die Gleise führte, aus dem Nebel auf und verschwand wieder. Kurz darauf gab es einen Ruck, ein hässliches Schleifen folgte. Der Arbeiter schaute auf, den Tabakbeutel noch in der Hand. Ein weiterer Stoß, der die Bahn kurz erzittern ließ. Pellegrinis Trolley schlug mit dem Haltegriff gegen die Fensterscheibe und kippte um. Im hinteren Teil des Wagens schrie jemand erschrocken auf.

      Gerade als Pellegrini sich nach dem Trolley bücken wollte, kreischte Metall über Metall, und die Bahn kam mit einer letzten heftigen Erschütterung zum Stehen. Pellegrini wurde gegen das Fenster geschleudert und landete unsanft auf dem Hosenboden. Sein Gegenüber taumelte, konnte sich jedoch glücklicherweise auf den Beinen halten. Nur sein Tabakbeutel fiel auf den Boden.

      Pellegrini griff danach, rappelte sich auf und strich sich den Mantel glatt.

      »Danke, Signore.« Der Arbeiter nahm seinen Tabak entgegen und steckte ihn ein. Dabei zog er eine ratlose Grimasse und starrte aus dem Fenster. Die anderen Fahrgäste redeten aufgeregt durcheinander und rieben sich vereinzelt die Ellbogen oder Knie, doch niemand schien ernsthaft verletzt zu sein. Eher verwundert als besorgt blickten sie umher oder einander an.

      Pellegrini reckte ebenfalls den Hals. »Können Sie irgendwas erkennen?«

      »Nichts. Hat sich angehört, als ob wir irgendwo gegen gefahren sind.« Er grinste wieder. »Vielleicht ein Baumstamm. Gleich rücken die Banditen an und fordern unser Geld.«

      Pellegrini brummte nur, fand den Gedanken alles andere als witzig. Es schien wirklich, als habe etwas die Schienen blockiert. Aber was und wieso? Der Hang war steil, das meiste würde einfach hinunterrollen.

      Die Sekunden verrannen, dehnten sich zu Minuten. Nichts geschah. Die Fahrgäste schauten sich um, unterhielten sich leise. Jemand meinte, es müsse doch eine Durchsage geben, um sie zu informieren. Doch Pellegrini konnte weder Lautsprecher entdecken noch erinnerte er sich daran, jemals eine Durchsage in der Seilbahn gehört zu haben – was allerdings nichts bedeutete: Er konnte solches Gerede in Zügen und Flugzeugen oder auch laufende Fernseher in Bars mühelos ausblenden.

      Der Straßenarbeiter hatte sich eine der selbst gedrehten Zigaretten hinters Ohr geklemmt und zupfte gedankenverloren daran herum. Immer wieder versuchte er, durch den finsteren Nebel etwas zu erkennen.

      »Jetzt bräuchten wir eine Drohne«, murmelte er.

      »Warum das?«

      »So einen Mini-Hubschrauber mit Kamera.«

      »Ich weiß, was eine Drohne ist. Aber wie könnte sie uns helfen?«

      »Na, um nachzusehen.« Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger in Richtung Scheibe. »Ich arbeite im Hochbau, wissen Sie? Brückenbau und -sanierung. Die Drohnen prüfen die Brücken auf Risse. Spart uns eine Menge Kletterei.« Er nahm die Zigarette, steckte sie in den Mund. Dann schien er sich bewusst zu werden, wo er war, warf Pellegrini einen verlegenen Blick zu und steckte sie wieder hinters Ohr.

      Wider Willen wurde Pellegrini neugierig. »Wollen Sie mir sagen, die Sicherheit der Brücken wird kontrolliert, indem eine Kamera daran vorbeifliegt und Risse fotografiert?«

      »Nein, ganz so ist es nicht.« Der Arbeiter lachte, freute sich, endlich die Aufmerksamkeit seines Gegenübers geweckt zu haben. »Sie machen sich keine Vorstellung! Das wird alles über Computer analysiert. Ingenieure überprüfen das. Im Zweifel müssen wir dann natürlich raus und nachsehen. Die Brücken werden auch akustisch kontrolliert und auf Schwingungen, wissen Sie?« Er machte mit den Händen eine Wellenbewegung. »Alle Brücken schwingen, wir merken das natürlich nicht, dabei bewegen sie sich teilweise ganz ordentlich. Und sie machen Geräusche. Wenn sich da was anders anhört als sonst, wissen die Ingenieure, dass irgendetwas nicht stimmt. Dann untersuchen wir das.«

      Pellegrini nickte höflich und wurde vom Klingeln seines telefonino abgelenkt. Er zog es aus der Manteltasche.

      »Pronto, Ispettrice. Die funicolare steckt fest.«

      »Buongiorno, Signor Commissario!«, erwiderte Claudia Spagnoli in zackigem Ton. Dann lachte sie. »Immerhin bist du wach.«

      »Geht so.« Pellegrini schätzte es nicht sonderlich, wenn sie die übertrieben gehorsame Befehlsempfängerin mimte. Gerade weil er sie als Kollegin mochte, war es ein schmaler Grat zwischen einem vertrauensvollen Umgang einerseits und der Wahrung des Machtverhältnisses andererseits.

      »Wo bist du? Wann bist du da? Ich parke ziemlich ungünstig und kann hier nicht ewig stehen bleiben.«

      »Ich bin in der funicolare.« Er schielte auf den bleigrauen Vorhang vor dem Fenster. »Wir stehen auf offener Strecke, und es geht nicht vor und nicht zurück.«

      »Ich könnte hier mal nachfragen, was los ist.«

      »Mach das.« Er beendete das Gespräch und seufzte genervt. »Ganz gleich, zu was Ihre Drohnen fähig sind, diese Suppe da draußen können sie auch nicht durchdringen.«

      Der Arbeiter legte einen Arm gegen die Scheibe und lehnte die Stirn dagegen. »Auch wahr.«

      Ein Knirschen unterbrach sie, dann ruckte die funicolare. Sie fuhr rückwärts, zunächst stückchenweise, dann erreichte sie immerhin Schrittgeschwindigkeit. Wenige Augenblicke später rollte sie zurück in die Bergstation.

      Die Fahrgäste wurden unruhig, standen von ihren Sitzen auf und stellten sich vor die geschlossenen Türen. Erst nach ein, zwei weiteren Minuten öffneten sie sich, und die Menschen verließen die Kabine.

      Jetzt, da der kalte Herbstwind hineinwehte, bemerkte Pellegrini, wie die Anspannung von ihm abfiel. Was wäre gewesen, wenn sie noch länger hätten ausharren müssen? Solche Situationen konnten schnell unangenehm werden. Er atmete einmal tief durch und griff nach seinem Trolley. Vermutlich war er um das Schlimmste herumgekommen, doch auch so war das nicht gerade das, was er als einen guten Start in den Tag bezeichnen würde. Er verließ die Bahn. Die Leute standen unentschlossen vor der Station, ein erstes Taxi hielt an der Straße. Der Straßenarbeiter stand etwas abseits, rauchte und telefonierte.

      Pellegrini sah sich ratlos um. Weder in der Station noch davor war jemand zu sehen, den er fragen konnte, ob die funicolare in Kürze fahren würde oder nicht. Er entschied sich, Spagnoli zu bitten, ihn in der Bar abzuholen. Immerhin könnte er dann noch einen weiteren caffè trinken und ein wenig mit Paolo reden. Die Aussicht versöhnte ihn etwas.

      Er hatte seiner Ispettrice gerade Bescheid gegeben, da sah er einen älteren Mann eine Metalltreppe heraufkommen, die seitlich vom Bahnsteig auf die Trasse führte. Der Mann bemühte sich vergeblich um einen gefassten Gesichtsausdruck, während er die Stufen mit wankenden Schritten heraufhastete und sich dabei ans Geländer klammerte, als müsse er sich aus Treibsand ziehen.

      Rasch ging Pellegrini zurück in die Station. Der Mann stand auf dem anderen Bahnsteig, und Pellegrini wagte es nicht, die Gleise einfach zu überqueren.

      »Signore, was ist passiert?«

      »Bitte?« Der Mann schreckte auf und winkte hektisch ab. »Tut mir leid, ich muss die Polizei rufen. Einen Krankenwagen«, war alles, was Pellegrini verstand.

      Im gleichen Augenblick bemerkte er neben der Bahntrasse eine zweite Gestalt, gerade noch so weit entfernt, dass sie als Schemen im Nebel zu erkennen war. Sie stützte sich an der Natursteinmauer ab, die dort an den Gleisen entlangführte, und hielt den Kopf gesenkt. Pellegrini wandte sich wieder an den älteren Mann, der unschlüssig am Ende der Treppe stand und vergessen zu haben schien, was er gerade tun wollte.

      »Commissario Pellegrini, Polizia di Stato. Vielleicht kann ich behilflich sein.« Er griff in die Innentasche des Mantels und zog seinen Dienstausweis hervor.

      Der Mann nickte und tat nichts weiter.

      Pellegrini zwang sich zur Geduld. »Wie komme ich zu Ihnen? Was ist passiert?«

      »Selbstverständlich.


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