Der tote Carabiniere. Dino Minardi

Der tote Carabiniere - Dino Minardi


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funicolare öffneten sich, sodass Pellegrini durch die Kabine auf den jenseitigen Bahnsteig gehen konnte. Er stellte den Trolley an einer geschützten Stelle ab und nickte dem Mann aufmunternd zu. Von Nahem sah er noch mitgenommener aus, leichenblass und mit weit aufgerissenen Augen. Doch die Anwesenheit eines Polizisten schien ihm Mut zu machen.

      Er wies mit dem Kinn auf die Trasse. »Kommen Sie mit. Ich zeige es Ihnen.«

      »Warten Sie. Auf den Schienen, ja? Rufen Sie die Kollegen und einen Krankenwagen.« Da der Mann sich immer noch nicht rührte, schob Pellegrini sich an ihm vorbei. »Ich finde den Weg allein und kümmere mich um Ihren Kollegen da unten.«

      Die Erleichterung des Mannes trug nur dazu bei, dass sich seine Vorahnungen weiter verdüsterten. Vielleicht ein Selbstmörder, der sich auf die Schienen geworfen hatte? Er hatte noch nie gehört, dass so etwas hier vorgekommen war, aber was hieß das schon?

      Die Stufen der Metalltreppe waren nass und rutschig. Vorsichtig stieg Pellegrini hinunter, ging entlang der Gleise weiter bergab. Dabei war er erstaunt, wie steil diese Trasse war. Nach wenigen Metern näherte er sich der Gestalt an der Mauer. Der junge Mann lehnte keuchend und mit geschlossenen Augen an der Wand, mit der linken Hand umklammerte er eine Taschenlampe. Sein kreideweißes Gesicht mit der spitzen Nase und dem vergeblichen Versuch, sich einen Bart wachsen zu lassen, ließ ihn noch jünger aussehen, als er vermutlich war.

      »Buongiorno, Signore. Ich bin Commissario Pellegrini. Ihr Kollege verständigt einen Arzt, es dauert nur noch einen Moment. Kann ich etwas für Sie tun?«

      Da er keine Antwort bekam, machte er einen großen Schritt über die Lache Erbrochenes auf den jungen Mann zu. Säuerlicher Atem schlug ihm entgegen. Unruhig blickte Pellegrini sich um, doch der Nebel offenbarte ihm nichts. Das Licht der Lampen am Bahnsteig reichte gerade noch bis zur Brücke, der Hang unter ihnen lag in grauschwarz wabernder Dunkelheit.

      Die Augenlider des Mannes flatterten. »Carabiniere«, murmelte er heiser und rülpste. »Verzeihung.« Er schlug die Hand vor den Mund.

      Pellegrini runzelte die Stirn. »Nein, ich bin kein Carabiniere. Polizia di Stato, ich komme von der Questura in Como.«

      Er hatte noch nie erlebt, dass jemand die beiden Polizeiorgane verwechselte. Die Carabinieri waren militärisch organisiert, den Rang eines Commissario gab es bei ihnen nicht, das wusste jedes Kind.

      Der Mann versuchte vergeblich, seinen Blick auf Pellegrini zu richten. Er faselte vor sich hin, das einzig verständliche Wort war Uniform. Pellegrini unterdrückte den Impuls, an sich hinabzuschauen, ob sein Mantel den Eindruck vermittelte, zu einer Uniform zu gehören. Er verstand weder, was daran so wichtig sein sollte, noch, was dem armen Kerl derart auf den Magen geschlagen war. Seine Neugier wuchs, doch auch auf mehrmaliges Nachfragen erhielt er nur unzusammenhängendes Gestammel. Ein letztes Mal blickte er sich um, dann fasste er einen Entschluss. Sanft packte er den jungen Mann an der Schulter und zwang ihn mit freundlichem Nachdruck, die wenigen Schritte bis zur Station zu gehen.

      »Enrico! Komm, gib mir deine Hand, ragazzo.« Der ältere Mann tauchte auf der Metalltreppe auf, beugte sich zu ihnen und streckte eine Hand aus.

      Enrico blieb am Fuß der Treppe stehen. Seine Unterlippe zitterte. Pellegrini gab ihm einen Schubs, doch vergeblich.

      Fluchend kam sein Kollege die Treppe herunter.

      »Nun mach schon, der Commissario hat nicht den ganzen Tag Zeit, mit dir Händchen zu halten. Gleich kommt ein Arzt. Ich habe oben eine Decke, du bekommst einen Grappa, und dann vergessen wir das alles. Los!«

      Dabei schob er seinen apathischen Kollegen die Treppe hinauf, der es gerade so schaffte, die Füße hoch genug zu heben, um die Stufen zu nehmen, ohne hinzuschlagen.

      Der Ältere achtete nicht länger darauf.

      »Tut mir leid, dass wir solche Umstände machen, Commissario«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Enrico arbeitet noch nicht lange hier. Hat so was noch nicht erlebt. Ich auch nicht. Madonna mia.«

      Pellegrini zwang sich zur Geduld, was ihm zunehmend schwerer fiel. Die gesamte Situation war vollkommen absurd, er kam sich allmählich vor wie in einem schlechten Horrorfilm. Außerdem würde Spagnoli bald an der Bar eintreffen.

      »Was ist passiert?«, fragte er, so ruhig er konnte.

      Die beiden Männer hielten auf der Treppe inne. Der ältere wandte sich um, betrachtete ihn grübelnd und entwand dann dem jüngeren die Taschenlampe, um sie Pellegrini zuzuwerfen.

      »Es ist schwer, in Worte zu fassen, Signor Commissario. Schauen Sie selbst, ungefähr fünfzig Meter hinter der Brücke. Passen Sie auf, wo Sie hintreten.«

      Pellegrini fing die Taschenlampe und ging ohne ein weiteres Wort die Bahntrasse hinab. Nachdem er unter der Straßenbrücke hindurch war, wurde es stockfinster. Der Lichtkegel der Taschenlampe reichte kaum zwei Meter weit. Vorsichtig tastete er sich voran. Er hatte auf einmal das Gefühl, vollkommen allein auf der Welt zu sein, um ihn herum nur Stille und graues Nichts. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wenn das hier wirklich ein Horrorfilm wäre, tat er gerade genau das Falsche. Er erinnerte sich sehr genau an solche Momente, in denen er am liebsten vom Kinosessel auf- und in die Leinwand hineingesprungen wäre, um den Filmhelden davon abzuhalten, allein loszuziehen, um die Welt zu retten und stattdessen dem unvorstellbaren Grauen zu begegnen.

      Pellegrini lachte laut auf, um sich Mut zu machen. Der Nebel dämpfte den Schall, und es verfehlte seine Wirkung. Sich einen Idioten schimpfend, umklammerte er die Taschenlampe fester. Auf dem Metallgehäuse schlug sich die Feuchtigkeit nieder.

      Dann sah er neben den Schienen plötzlich einen Finger. Pellegrini hockte sich hin. Zweifellos, vor ihm lag einer der mittleren Finger einer kräftigen, vermutlich männlichen Hand. Er war routiniert genug, den Fund nicht zu berühren. Sein Unbehagen war wie weggeblasen, machte konzentrierter Aufmerksamkeit Platz. Ohne sich von der Stelle zu rühren, leuchtete Pellegrini die Trasse entlang.

      Die Standseilbahn wurde, wie der Name schon sagte, über ein Drahtseil den Berg hinaufgezogen, während sich die zweite Bahn, unterstützt durch den Hangabtrieb, nach unten bewegte. Das Seil verlief in zwei parallelen Strängen zwischen den Schienen, dick wie ein Kinderarm. Pellegrini erinnerte sich sehr gut daran, wie fasziniert er als kleiner Junge von der Bahn gewesen war. Er war zehn gewesen, als seine Eltern aus Deutschland nach Brunate zurückgekehrt waren, und er hatte häufig auf der Brücke vor der Bergstation gestanden, auf die Schienen gestarrt und dem gleichmäßigen Surren des Seils gelauscht, bis die Bahn lautlos in die Station einfuhr, nur um sie wenige Minuten später wieder zu verlassen.

      Jetzt fragte er sich, was er sehen würde, könnte er bei besserem Licht und klarer Sicht von der Brücke aus auf die Schienen blicken. Dabei glaubte er, ein Stück weiter hangabwärts einen Arm in einem dunklen Kleidungsstück zu sehen, und hoffte, dass der Eindruck, es wäre nur ein einzelner Arm, ein Trugbild des Nebels war.

      Er beugte sich tiefer über das Seil, das still und unbewegt dalag, und leuchtete daran entlang. Winzige Stofffetzen klebten am Metall, dunkle Flecken. Zwischen den Gleisen entdeckte Pellegrini eine Fingerkuppe, mehrere verbogene Metallstücke. Er erhob sich, jeder weitere Schritt fiel ihm schwer. Der Nebel hatte ihn nicht getrogen, dort lag ein einzelner Arm.

      Einige Meter weiter fand er den Körper des Unglückseligen zwischen den Schienen verkantet. Die Bahn hatte ihn erfasst und einige Meter bergab geschoben, bis der Körper die Weiterfahrt endgültig blockiert hatte – was durchaus beachtlich war, denn der Hang war steil, und die Bahn hatte ordentlich Schub. So oder so, es war nur zu hoffen, dass derjenige zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen war.

      Einen abgerissenen Finger konnte ein Mensch überleben, einen abgerissenen Arm vielleicht auch noch. Aber das hier? Die Person lag auf dem Bauch, Pellegrini konnte ihr Gesicht nicht sehen. Das silbergraue Haar am Hinterkopf war blutverkrustet. Pellegrini schluckte gegen das Gefühl an, keine Luft mehr zu bekommen. Er verstand, warum der junge Bedienstete der Bahn sich hatte übergeben müssen. Pellegrini konnte seine Übelkeit normalerweise ganz gut in Zaum halten, doch er hatte sich bis heute nicht an den Anblick verstümmelter Leichen gewöhnt, obwohl er schon einige schreckliche Unfälle


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