Der tote Carabiniere. Dino Minardi

Der tote Carabiniere - Dino Minardi


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wie die Witwe eines Bekannten vor einem saß, der auf grässliche Weise zu Tode gekommen war, war dagegen beklemmend.

      Pellegrini räusperte sich. »Wussten Sie, Signora Bianchi, dass Ihr Mann der Grund war, weshalb ich zur Polizei gegangen bin? Schon als Junge habe ich ihn bewundert, er war immer fair zu uns, auch wenn wir etwas angestellt hatten. Und als ich älter wurde, hat er mal zu mir gesagt, ich könne gut zuhören, hätte einen guten Blick für Zusammenhänge. Das wäre wichtig, hat er gemeint.«

      »Oh ja, das weiß ich.« Sie schnäuzte sich verhalten und blickte ihn dann aus feuchten Augen an. »Er war von der Idee ganz besessen, nachdem du dich mit deinem Vater überworfen hattest. Weil du so gut mit Menschen umgehen kannst, hat er immer gesagt. Das hättest du ja auch müssen, wenn du im Albergo geblieben wärst. Salvatore war so stolz, als du bei der Polstrada angefangen hast, als wärst du sein eigener Sohn.«

      Pellegrini biss die Zähne zusammen. Er hatte nur das Eis brechen wollen, stattdessen hatte er eine entschieden zu private Antwort provoziert. Er bereute kurz, Spagnoli hinzugebeten zu haben. Diese Geschichten waren oben in Brunate kein großes Geheimnis, aber sie mussten nicht in der Questura herumgetratscht werden.

      »Noch lieber wäre es ihm natürlich gewesen, du wärst ein Carabiniere geworden«, ergänzte die Signora mit einem traurigen Lächeln.

      Pellegrini hätte selbst nicht so genau erklären können, warum er sich damals so entschieden hatte. Vielleicht, weil er mit dem zivilen Studium, das der polizeilichen Laufbahn vorangegangen war, Zeit gewinnen wollte, falls sein Vater es sich doch noch anders überlegte und ihm einen Platz im Familienbetrieb einräumte. Vielleicht, weil sein Wehrdienst bei den Alpini ihm diese Art von militärischer Befehlsstruktur verleidet und er gehofft hatte, bei der Polizia di Stato ginge es mit weniger Drill, Gehorsam und dergleichen zu – was nicht grundsätzlich richtig war, aber seine damalige Sichtweise.

      »Ich bin hier, um ein Geständnis abzulegen.« Stefania Bianchis Blick blieb an der offen stehenden Glastür hängen, die Pellegrinis Bereich vom Rest des Großraumbüros trennte.

      Spagnoli schloss die Tür und blieb stehen. Die Ungeduld stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr schien nicht klar, worauf das hinauslaufen sollte, und damit erging es ihr nicht anders als Pellegrini. Er beugte sich wortlos vor und nickte aufmunternd.

      »Ich habe meinen Mann umgebracht.«

      Schweigen.

      Spagnoli zog fröstelnd die Schultern hoch und legte eine Hand auf die Türklinke.

      Stefania Bianchi schaute auf. Dunkle riesengroße Augen blickten Pellegrini flehend an. Er musste an eine Kuh denken und verbannte diese Vorstellung sofort wieder.

      »Komme ich ins Gefängnis?« Sie schien wieder kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen.

      Pellegrini schüttelte hastig den Kopf und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Nasenwurzel. Warum war er an diesem völlig verdrehten Tag überhaupt aufgestanden?

      »Nicht so schnell, Signora Bianchi. Bitte. Ganz ruhig und der Reihe nach. Wir gehen jetzt gemeinsam durch, was passiert ist, und falls nötig, machen Sie eine offizielle Aussage, einverstanden? Ispettrice, wir brauchen einen starken caffè. Danke!«

      Spagnoli nickte und schien froh zu sein, einen Grund zu haben, den Raum zu verlassen.

      Pellegrini wandte sich wieder Stefania Bianchi zu. »Bitte erzählen Sie. Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen, wie haben Sie ihn«, er stockte kurz, zu absurd diese Vorstellung, »umgebracht?«

      »Nun, es gibt nicht sehr viel zu erzählen. Gestern am späten Vormittag ist Salvatore zum Dienst gegangen. Er kam um vierzehn Uhr zum Mittagessen und ist dann gegen fünfzehn Uhr wieder zur Arbeit. Es gab Polenta mit Maronen, frischen Steinpilzen und fettem Südtiroler Speck in Sahnesoße. Es scheint ihm geschmeckt zu haben, aber er hat kein Wort gesagt.«

      »Inwiefern ist das bemerkenswert?«

      »Nun, du kennst ihn. Er ist ein lauter Mensch, redet ständig ungefragt und viel.«

      Pellegrini wartete, dass sie fortfuhr.

      Sie hatte unbewusst begonnen, mit dem Riemen ihrer Handtasche zu spielen. Sie wickelte ihn so fest um ihre Hand, dass er einen weißen Streifen hinterließ. »Wir hatten Streit.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Nein, das ist nicht ganz zutreffend. Vielmehr reden wir seit zwei Wochen kein vernünftiges Wort mehr miteinander.« Sie hielt ein weiteres Mal inne, rutschte auf dem Stuhl herum. Dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus: »Morgen wäre sein letzter Arbeitstag gewesen. Er war über vierundvierzig Jahre Carabiniere in Brunate. Nächsten Monat wäre er dreiundsechzig geworden. Er hätte nach vierzig Dienstjahren aufhören können, das weißt du, oder? Er hat freiwillig noch all die Jahre drangehängt, und vielleicht hätte er noch länger Dienst geschoben, aber sie haben ihn nicht gelassen. Dieser Visconti hat es ihm persönlich erklärt, hat ihn in die Kaserne nach Como zitiert und ihm gesagt, dass jetzt Schluss ist. Das war Anfang des Jahres. Es hat ihn verändert.«

      Sie stierte an Pellegrini vorbei aus dem schlecht geputzten Fenster. »Er hat so getan, als würde er sich freuen, in Wahrheit war es eine Katastrophe. Er war abserviert, dabei war er mit Leib und Seele Carabiniere. Er hat versucht, sich etwas Neues zu suchen. Einen Tag wollte er sich einen Hund anschaffen, einen anderen Bienen züchten. Dann einen Wohnwagen kaufen und nach Norwegen fahren. Norwegen! Wir haben in unserem ganzen Leben nicht einmal über Skandinavien gesprochen. Er hat an manchen Abenden zu viel getrunken, einmal hat er Marihuana geraucht. Danach war er zwei Tage krank.« Sie schnatterte weiter und weiter.

      Pellegrini versuchte, die letzten Sätze zu verdauen. Salvatore Bianchi soll gekifft haben? Weder das noch ein Besäufnis passte zu dem Bild, das er von dem Mann hatte, der zeit seines Lebens eine moralische Instanz in Brunate gewesen war, ob er dem zehnjährigen Marco und seinen Freunden das Fußballspielen auf dem Kirchplatz verbot, bei Gemeindefesten nach Taschendieben Ausschau hielt, entlaufene Katzen heimbrachte oder den Verkehr regelte. Eine Messerstecherei zwischen betrunkenen Jugendlichen musste das Aufregendste gewesen sein, das Bianchi während seiner Dienstzeit erlebt hatte, soweit Pellegrini das beurteilen konnte. Como war nicht gerade der Nabel der kriminellen Welt und Brunate – nun, Brunate war klein, übersichtlich und beschaulich.

      »Wegen der Katzen habe ich dann gedacht, ich bringe ihn um.«

      Pellegrini fuhr unwillkürlich zusammen, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er ihr nicht mehr zugehört hatte.

      »Was meinen Sie, Signora?«

      Sie senkte verlegen den Kopf. »Seit klar war, dass der Herrgott uns keine Kinder schenkt, hatte ich immer mindestens zwei Katzen. Als kleines käufliches Glück, verstehst du?«

      »Tut mir leid, nein. Was hat das mit dem Tod Ihres Mannes zu tun?«

      »Na, stell dir vor, Salvatore würde wirklich einen Hund anschaffen, was soll dann aus unseren Katzen werden? Salvatore tut gerade so, als würden ihm unsere Katzen nichts bedeuten. Dabei sind sie wie Kinder für mich, da unser gütiger Herrgott mir ein Söhnchen oder Töchterchen versagt hat.« Sie bekam wieder diesen kuhäugigen Blick.

      Pellegrini musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. Kinder, Enkel – Frauen dieser Generation schienen keine anderen Gesprächsthemen zu haben. Er wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken, wie seine Mutter Stefania Bianchi jeden Sonntag nach dem Kirchgang vorjammerte, dass ihr Sohn noch nicht einmal eine feste Freundin hatte, da er sich mit ihrer Wunschkandidatin überworfen hatte, geschweige denn an die Zeugung eines Enkels dachte.

      »Also gut, Sie dachten also, wenn Salvatore wirklich einen Hund anschafft«, zwang er seine Konzentration zurück auf dieses verrückte Gespräch, »dann bringen Sie ihn um.«

      »Das war das erste Mal.« Sie nickte energisch, das kräftige Kinn leicht vorgereckt.

      »Wann ungefähr?«

      »Vorletzte Woche Sonntag. Als unser Streit begann. Und seitdem immer wieder.« Sie stockte, knetete ihre Handtasche. »Ich schäme mich.«

      »Sie haben also seit ungefähr


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