Der tote Carabiniere. Dino Minardi

Der tote Carabiniere - Dino Minardi


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gewesen war. Die meisten Leute in der Vereinigung hatte er zwar auch vorher schon gekannt, doch als er nach einigen Jahren Pause wieder an den Treffen teilnahm, war genug Zeit vergangen, dass kaum jemand nachfragte. Außerdem hatte Pellegrini da bereits wieder zu sich gefunden und an die alten Freundschaften anknüpfen können – sie waren die Einzigen, bei denen ihm das gelungen war, und gerade das machte die Gruppe so wertvoll und besonders.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit befanden sie sich endlich auf der zweispurig ausgebauten SS671, und es ging schneller voran. Dann spürte Pellegrini das Vibrieren seines telefonino in seiner Manteltasche. Mit der linken Hand angelte er es heraus. Spagnolis vorwurfsvoller Blick war ihm nicht entgangen, und so reichte er es an sie weiter, als er sah, wer der Anrufer war.

      »Questura. Mit denen kannst du genauso gut reden. Sag ihnen, dass du neben mir sitzt.«

      Spagnoli meldete sich und hörte zu. Dann stieß sie einen merkwürdigen Laut aus, der irgendwo zwischen Verblüffung und Entsetzen lag.

      »Was ist?«, fragte Pellegrini.

      Sie schaute auf die Uhr und ignorierte ihn. »Gerade eben, sagst du? Sie müsste einen Moment auf uns warten – sofern er einverstanden ist.«

      »Womit soll ich einverstanden sein? Mit wem sprichst du?«

      Spagnoli machte eine abwehrende Handbewegung und lauschte weiter.

      »Sie ist vermutlich völlig durcheinander. Hast du einen Arzt gerufen?«, fragte sie ins Handy.

      »Wer?«, rief Pellegrini. Er trommelte auf das Lenkrad und spürte, wie ihn die Gelassenheit, die sich während ihres Gesprächs eingestellt hatte, wieder verließ. Hatten sich denn heute Morgen alle gegen ihn verschworen?

      »Moment.« Spagnoli unterbrach das Gespräch und wandte sich ihm zu. »Eine Signora Stefania Bianchi ist in der Questura und will mit dir sprechen. Sie weigert sich, den Grund zu nennen.«

      Pellegrini stieß einen saftigen Fluch aus und bremste, weil ein Motorradfahrer kurz vor ihm einscherte und ihn schnitt.

      »Du hättest wirklich besser mich fahren lassen sollen«, fauchte Spagnoli. »Du bist völlig unkonzentriert!«

      Er warf einen bösen Blick auf das telefonino.

      Sie verdrehte die Augen. »Keine Sorge, ich habe das Mikrofon ausgestellt, das hat niemand gehört. Aber was soll ich denen sagen?«

      »Was wohl? Dass wir auf dem Weg und in einer Stunde da sind.« Er setzte den Blinker, um an der nächsten Ausfahrt abzufahren. »Stefania und Salvatore Bianchi sind seit Anbeginn der Zeiten verheiratet. Sie sind aus Brunate nicht wegzudenken. Ich kann sie nicht auf Montag vertrösten, wenn sie mit mir sprechen will.«

      »Gut.« Spagnoli gab die Information weiter und beendete das Gespräch. »Dann tauschen wir aber. Ich fahre.«

      »Das ist wirklich nicht …«

      »Oh doch!« Spagnoli schrie auf, weil ihr Gurt sich bei der nächsten Vollbremsung straffte, und deutete auf einen jungen Mann, den Pellegrini beinahe angefahren hätte und der ihnen den Mittelfinger zeigte, nachdem er sich auf die andere Straßenseite gerettet hatte. »Du bist nicht nur unkonzentriert, jetzt benimmst du dich auch noch wie ein bockiges Kind! Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich!«

      Pellegrini hielt mit einem Ruck am Straßenrand und starrte sie wütend an.

      »Wie bitte?« Er spürte das Blut in seinen Schläfen pochen. Zugleich ärgerte er sich über sich selbst. Zum Teil hatte er sich Spagnolis Ausbruch selbst zuzuschreiben, er hatte einen zu vertraulichen Umgangston zugelassen. Es ging ja nicht nur darum, dass er zu enge persönliche Kontakte vermeiden wollte, es ging auch um das erforderliche Maß an Respekt und Disziplin. Sie konnte eine noch so gute Kollegin sein, aber sie hatte kein Recht, ihn derart anzugehen. Er war immer noch ihr Chef. In diesen Dingen war er konservativ, und dazu stand er.

      Spagnoli war feuerrot geworden. Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf. »Entschuldigung, Signor Commissario.«

      Pellegrini stellte den Motor ab und öffnete die Fahrertür. »Entschuldigung angenommen, Ispettrice«, erklärte er beim Aussteigen.

      Er ging um den Wagen herum, und weil Spagnoli sich nicht rührte, öffnete er die Beifahrertür.

      »Es ist in Ordnung, wenn du mich kritisierst. Einen solchen Ton verbitte ich mir allerdings.« Er versuchte, streng zu klingen, aber im Grunde wusste er, dass sie ihren Platz in der Hierarchie genau kannte und es unnötig war, sie daran zu erinnern. Und wenn er ehrlich war, hatte ihm der Anranzer gutgetan. Ihre harschen Worte schienen das erste Authentische an diesem Tag zu sein, der ihm immer noch vorkam wie ein schlechter Traum, durch den er wie ein Schlafwandler geschlichen war, um die Ereignisse nicht an sich heranzulassen. Und so konnte er sich ein heimliches Grinsen nicht verkneifen, während Spagnoli sichtlich beschämt auf die Fahrerseite wechselte.

      3

      Die mollige, vollkommen in Schwarz gekleidete ältere Frau sprang auf, kaum dass sie die Questura betreten hatten.

      »Marco, wie gut, dass du kommst! Ich meine …« Sie zog ihre Handtasche eng an die Brust und warf einen verlegenen Blick in die Runde. »Commissario Pellegrini, du bist, Sie sind …« Ihre Stimme verlor sich, und sie schlug hastig ein Kreuz.

      Pellegrini ging auf sie zu und legte ihr einen Arm um die Schultern. Ihm wurde bewusst, dass er über einen Kopf größer war als sie, und er fragte sich, ob sie im Alter geschrumpft war. So klein hatte er sie gar nicht in Erinnerung.

      »Kommen Sie, Signora Bianchi. Ich bringe Sie an meinen Platz, und dann erzählen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben. Es ist eine schreckliche Sache, mein tiefempfundenes Beileid.«

      Sie nickte tapfer und ließ sich von ihm in Richtung Treppe und hinaufführen. Sie durchquerten das Großraumbüro, in dem am späten Vormittag nur wenige Plätze besetzt waren, und betraten einen mit Glaswänden abgeteilten Bereich, der keinerlei Privatsphäre bot, weshalb Pellegrini sich weigerte, ihn als sein Büro zu bezeichnen. Spagnoli wollte sich zurückziehen, doch Pellegrini signalisierte ihr zu bleiben. Er platzierte Signora Bianchi auf den Besucherstuhl gegenüber seinem Schreibtisch. Ohne weitere Aufforderung holte die Ispettrice eine Flasche Wasser und stellte Signora Bianchi einen Plastikbecher hin, den sie dankbar lächelnd annahm und dann durstig trank. Kaum hatte sie den Becher wieder abgestellt, fing sie an zu weinen.

      Pellegrini zog seinen Mantel aus und blieb neben ihr stehen. Geduldig wartete er, bis sie sich wieder beruhigte. Er wusste im Moment ohnehin nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Natürlich hatte er Mitleid, aber er stand Stefania Bianchi nicht sehr nahe. Zwar kannte er sie, seit er ein kleiner Junge war, wusste aber so gut wie nichts über sie. Daher hatte er auch keine Mühe, professionelle Distanz zu wahren.

      Spagnoli hatte sich hinter sie in eine Ecke gesetzt. Sie behielt ihren Blazer an, denn es war lausig kalt im Büro. Weder im Sommer noch im Winter funktionierte die Klimaanlage, wie sie sollte.

      »Es geht schon, Marco. Ich meine, Signor Commissario, danke.«

      »Nennen Sie mich gerne weiterhin Marco, Signora.«

      »Es ist alles so schrecklich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Sie schniefte mehrmals, und ihr beachtlicher Busen hob und senkte sich bei jedem Atemzug.

      »Sie wollten mit mir sprechen. Um was geht es?«

      »Ja, das stimmt.« Sie hatte ihre Handtasche in den Schoß gelegt. Statt weiterzusprechen, nestelte sie ein Stofftaschentuch aus dem Inneren und tupfte sich das Gesicht ab.

      Pellegrini lehnte sich an die Schreibtischkante und sah sie an. Er fühlte sich zunehmend unwohl, da er befürchtete, es könnte privater werden, als ihm lieb war. Dazu machte Stefania Bianchis Trauer den Todesfall realer als der Anblick der Leiche am Morgen. Der Nebel, die Gleise, dieser unerträgliche Sottotenente, der ihn des Bahnsteigs verwiesen hatte – das war alles in gewisser Weise Routine gewesen, der Teil seiner Tätigkeit, der das Gegenteil von angenehm war, jedoch unabdingbar dazugehörte. Sie alle lernten früher oder später,


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