Der tote Carabiniere. Dino Minardi

Der tote Carabiniere - Dino Minardi


Скачать книгу
das muss ich zugeben. Die Uniformhose hat sogar einen roten Streifen, sie sieht richtig echt aus.«

      Pellegrini zog seinen Mantel an. »Signora Bianchi hat in ihrem Leben sicherlich Dutzende, wenn nicht gar Hunderte solcher Figuren gemacht, Menschen wie Tiere. Sie werden auf den Gemeindefesten verkauft und sind ein Renner bei den kleinen Kindern.«

      »Sie glaubt das wirklich, oder? Diesen Quatsch mit dem bösen Geist.«

      »Darf ich dir eine private Frage stellen?«

      »Nur zu.« Spagnoli grinste. »Du bist derjenige, der ungern über Privates spricht.«

      »Glaubst du an Gott?«

      »Gute Frage.« Sie betrachtete die Puppe. »Ich bin natürlich katholisch getauft, aber ich gehe nur in die Kirche, wenn ich muss. Das letzte Mal zu Pfingsten. Du kennst das vielleicht.«

      »Nur zu gut.«

      »Es ist eher eine Pflichtübung und aus Respekt meiner Mutter gegenüber, nicht aus Überzeugung. Ich kann mich nicht einmal an die Predigt erinnern.«

      »Ist bei mir nicht anders. Ich frage mich nur häufig, wer dieses ›richtig‹ und ›falsch‹ in Sachen Glauben definiert. Warum soll es einen christlich definierten Gott geben, aber keine bösen Geister oder Loa? Warum nicht mehrere Götter? Das eine ist so wahrscheinlich wie das andere – beziehungsweise unwahrscheinlich, wenn du mich fragst.«

      »Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen?«

      »Sozusagen.«

      Spagnoli hob spöttisch die Augenbrauen. »Also der klassische Agnostiker. Du glaubst eigentlich an keine Form von Spiritualismus, lässt dir aber eine Hintertür offen, denn man kann nie wissen, ob da nicht doch ein Gott hockt, der es einem übel nimmt.«

      Pellegrini ärgerte sich bereits, zu viel gesagt zu haben. »Was mich trotz aller Skepsis etwas gruselt«, erklärte er rasch, »ist der abgerissene Arm. Dem Leichnam war ebenfalls der Arm abgetrennt.«

      »Ernsthaft?«

      »Ja. Und in beiden Fällen ist es der linke.«

      »Meinst du, der Täter hat von der Puppe gewusst?«

      »Wenn es einen Täter gibt.« Pellegrini nickte grimmig. »Wir gehen schon davon aus, aber es kann auch ein Unfall gewesen sein.«

      »Was glaubst du?«

      »Wir ermitteln nicht«, brummte Pellegrini ausweichend, und auf Spagnolis scharfen Blick hin fügte er hinzu: »Aber ich vermute, dass es Fremdeinwirkung gab.«

      »Und der Täter hat davon gewusst, dass es diese Puppe und den abgerissenen Arm gab?«

      »Das klingt wenig wahrscheinlich, findest du nicht? Es muss ein dummer Zufall sein. Die funicolare hätte genauso gut ein Bein abtrennen können.«

      »Dummer Zufall oder doch ein böser Geist.«

      »Reiß dich mal zusammen, Claudia.«

      »Entschuldigung. Worauf willst du denn jetzt hinaus?«

      Das wusste er selbst nicht so genau. Außerdem fiel ihm auf, dass er diesen Voodoo-Zauber viel zu selbstverständlich hingenommen hatte. Wie kam eine biedere norditalienische Katholikin auf so eine Idee? Er nahm sich vor, sie bei nächster Gelegenheit danach zu fragen. Sicherlich hatte es nichts mit dem Tod von Salvatore Bianchi zu tun, aber diese tiefe Religiosität Stefania Bianchis war ihm nicht ganz geheuer.

      »Worauf ich hinauswill«, sagte er stattdessen, »ist, dass Signora Bianchi sehr gläubig ist, dazu eine Säule der Gemeinde. Ja, ich denke, sie zieht die Existenz böser Geister genauso in Betracht wie die eines Gottes. Sie glaubt daran, was immer das in dieser Sache für Konsequenzen hatte. Die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube ist fließend, zudem willkürlich und dem Zeitgeist unterworfen.«

      »Amen.« Spagnoli legte die Puppe ab. »Was machen wir jetzt?«

      »Was hältst du von einem Mittagessen in der Stadt? Wir haben ja eigentlich frei.«

      »Einverstanden.«

      Pellegrinis telefonino vibrierte in seiner Jackentasche. Das Display zeigte eine Nachricht seines Freundes Tito Matteoti aus Rom: Wo bleibt ihr? Dazu ein Foto von fünf Personen, die um einen Tisch voller Pizza und Pasta sitzen und in die Kamera prosten.

      Er hielt es Spagnoli hin. »Schau mal. Sie vermissen uns. Lass uns Mittag essen, und dann fahren wir nach Bergamo. Hier können wir nichts mehr zu tun.«

      »Und Signora Bianchi?«

      »Ich werde unterwegs meine Mutter anrufen und sie bitten, sich um sie zu kümmern. Vermutlich stehen oben in Brunate ohnehin längst alle bereit, sie werden sie nicht allein lassen.«

      Montag, 5. Oktober

      1

      Erst in dem Moment, als Emilio Folisi am Montagmorgen gegen halb acht allein die Bar della Funicolare betrat, begriff Pellegrini wirklich, dass Salvatore Bianchi tot war.

      Mit einer linkischen Bewegung räumte er den dritten Unterteller vom Tresen und wandte sich zur Espressomaschine, aus der gerade der letzte Tropfen in die Tassen fiel. Zwei caffè, einen für Folisi, einen für sich. Pellegrini erschauderte. Er nahm die Tassen und stellte sie auf die beiden verbliebenen Unterteller. Folisi setzte sich. Während es Pellegrini gelungen war, die Ereignisse des vergangenen Freitags über die Tagung in Bergamo zu verdrängen, sah Bianchis langjähriger Kollege aus, als hätte er das ganze Wochenende nicht geschlafen.

      »Wieso lassen sie dich zum Dienst antreten?«, fragte Pellegrini besorgt. Er streute Zucker in seinen caffè.

      »Sie haben mir dringend geraten, mich beurlauben zu lassen. Aber ich will nicht. Zu Hause fällt mir nur die Decke auf den Kopf. Wenn ich auf Streife gehe, kann ich wenigstens so tun, als würde ich etwas Sinnvolles zustande bringen.«

      »Wisst ihr denn schon irgendetwas?«

      Folisi nahm seine Mütze ab und legte sie auf den Tresen. Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Kaffeemaschine. Pellegrini sammelte ihre leeren Tassen ein und bereitete zwei weitere caffè zu. Den ersten hatte er kaum geschmeckt.

      Das war jenseits aller Routinen. Über so viele Jahre hatte er, sofern ihn kein dringender Fall davon abhielt, morgens drei caffè zubereitet. Einen für sich und zwei weitere für die beiden Carabinieri von Brunate. Ein cornetto für Bianchi bereitgelegt, eine Ausgabe der La Provincia für Folisi.

      Und heute? Kein caffè für Bianchi, kein cornetto. Nie wieder. Stattdessen tranken er und Folisi eine zweite Tasse. Pellegrini starrte auf den Zucker, der wenige Sekunden auf der Crema liegen blieb und dann absank. Er rührte kurz um und trank. Dieses Mal spürte er ganz bewusst dem Geschmack nach, der sanften Bitterkeit mit einem Hauch Kakao.

      Das brachte ihn wieder zur Besinnung. Dinge änderten sich, der Bruch mit seinen morgendlichen Gewohnheiten war eine Nichtigkeit im Vergleich zu den schmerzhaften Veränderungen, die Stefania Bianchi und den anderen Angehörigen bevorstanden, den Nachbarn und Freunden. Auch wenn er das Ehepaar Bianchi fast sein ganzes Leben lang gekannt hatte, hatten sie einander nicht nahe gestanden. Es war nur so, dass dieser Bruch seiner Routine alles wirklich werden ließ. Der Anblick der Leiche war – so merkwürdig das einem Außenstehenden vorkommen mochte – für ihn etwas Alltägliches gewesen, Stefania Bianchis »Geständnis« eine seltsame Anekdote, aber letzten Endes auch nichts Besonderes. Es kam immer wieder vor, dass Unschuldige Verbrechen gestanden. Und von der der Witwe war er nach wie vor überzeugt.

      Pellegrini besann sich, bemerkte, dass Folisi mit gesenktem Kopf auf die Marmorplatte des Tresens starrte, und wiederholte seine Frage.

      »Es gibt nichts Offizielles.« Folisi seufzte tief. »Heute Vormittag soll eine Pressekonferenz stattfinden. Aber natürlich kursieren bereits Gerüchte. Salvatore soll sturzbetrunken gewesen sein, heißt es. Er wurde angeblich mit einem zweiten Mann gesehen. Es habe einen lautstarken Streit gegeben.«

      Pellegrini


Скачать книгу