Der tote Carabiniere. Dino Minardi

Der tote Carabiniere - Dino Minardi


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Wagen zu erkennen. Der Rechtsmediziner war Frühaufsteher, es durfte nicht viel Mühe gekostet haben, ihn zu erreichen.

      Mit einem unzufriedenen Brummen wischte Pellegrini sich eine nebelfeuchte Haarsträhne aus der Stirn.

      »Ich kannte den Toten, es ist Salvatore Bianchi, ein Carabiniere aus Brunate.«

      Spagnoli stieß einen Fluch aus und legte ihm kurz die Hand auf den Arm. »Tut mir leid, das ist übel. Und was machen wir jetzt?«

      Dankbar für die zurückhaltende Geste, mit der sie ihr Mitgefühl ausdrückte, nickte er und straffte die Schultern. »Was wohl? Wenn wir um zehn auf dem Kongress in Bergamo sein wollen, müssen wir uns ranhalten.«

      »Wenn du meinst.« Spagnoli schnippte die Zigarettenkippe weg und ging zu einem schwarzen Alfa Romeo 159. Fragend hielt sie den Schlüssel in die Luft, und Pellegrini streckte die Hand aus. »Ich kenne mich hier besser aus als du.«

      »Es gibt Navigationssysteme.«

      Pellegrini lachte gutmütig. »Mit denen du dich im Hinterland zwischen Como und Lecco garantiert in einer viel zu schmalen Gasse festfährst. Glaub mir, meine Ortskenntnis ist unschlagbar.«

      »Meinetwegen.« Sie warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte, und stieg auf der Beifahrerseite ein.

      Schweigend fuhren sie los. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die kleinen Ortschaften hinter sich gelassen und sich auf der SP342 in eine endlose Fahrzeugschlange eingereiht hatten.

      »Diese Geschwindigkeit ist atemberaubend.« Genervt ließ Spagnoli ihr telefonino von einer Hand in die andere wandern und starrte aus dem Fenster. Je weiter sie sich vom See entfernt hatten, desto mehr hatte sich der Nebel gelichtet, und die Dunkelheit wich allmählich trübem Tageslicht.

      »Wenn wir wie geplant aufgebrochen wären, hätte ich die Autobahn genommen, das geht normalerweise schneller, obwohl die Strecke ein gutes Stück länger ist. Aber jetzt staut sich der Berufsverkehr Richtung Mailand, sodass wir hier vermutlich besser vorankommen.«

      Spagnoli brummte eine Antwort, die er nicht verstand. Wieder schwiegen sie eine Weile.

      »Es ärgert dich, dass du nicht ermitteln darfst, oder?«, fragte sie plötzlich.

      Pellegrini stockte. Er wollte widersprechen, aber wozu? »Ich kannte ihn, und er lag praktisch vor meiner Haustür. Natürlich interessiert mich, was passiert ist. Aber die Carabinieri werden das schon hinkriegen.«

      »Soweit ich mich erinnere, traust du Maggiore Visconti nicht viel zu.«

      Das war diplomatisch ausgedrückt. Pellegrini hielt den Kommandanten der Kaserne in Como für einen ausgemachten Trottel.

      »Hilft ja nichts«, murmelte er und bremste, weil die Blechkarawane vor einem Kreisverkehr zum Stehen kam.

      Wäre Salvatore Bianchis Leiche auf dem Stadtgebiet von Como gefunden worden, hätte Pellegrini die Ermittlungen vielleicht mit etwas Geschick an sich reißen können. Aber in Brunate waren wie in den meisten ländlicheren Gemeinden eher Carabinieri vertreten, sie waren schneller vor Ort und damit zuständig. Normalerweise störte Pellegrini sich nicht daran, dass es zwei Polizeiorgane gab, deren Zuständigkeiten sich in vielen Bereichen überschnitten. Das konnte niemand so recht erklären. Manche Dinge waren über die Jahrhunderte gewachsen und hatten manch seltsame Blüte getrieben, doch es war besser, sie nicht zu hinterfragen. Die Republik Italien hatte andere Probleme, wobei die Lombardei eine Region war, die dankenswerterweise weniger davon spürte.

      Dieses Mal ärgerte Pellegrini sich allerdings. Er fand, dass er den Tod aufklären dürfen müsste. Auf eine merkwürdige Weise, die er selbst nicht erklären konnte, fühlte er sich zu Unrecht von den Ermittlungen ausgeschlossen.

      »Pass auf!«

      Spagnoli schrie auf, gleichzeitig trat er die Bremse durch. Dann erst wurde ihm bewusst, dass der Blick aus der Windschutzscheibe komplett von einer dreckigen Lkw-Stoßstange ausgefüllt war.

      »Ich war in Gedanken.« Pellegrini hatte den Motor abgewürgt und startete neu.

      »Soll ich fahren?«

      »Nein, nicht nötig.«

      Sie quälten sich weiter durch den Berufsverkehr, der immer schlimmer zu werden schien.

      »Ich bin gespannt, was mich gleich erwartet«, durchbrach Spagnoli die Stille.

      Pellegrini begriff, dass sie ihn ablenken wollte, und nahm das Angebot dankbar an. »Die Hominis et Tigris ist eine lose zusammenhängende Gruppe von Ermittlern aus ganz Europa. Die meisten sind im aktiven Polizeidienst, aber es sind zum Beispiel auch Rechtsmediziner dabei. Wir tauschen uns schlicht gesagt über unsere Arbeit aus. Es ist nichts Offizielles, reines Privatvergnügen.«

      »Warum kann es nicht als Weiterbildung anerkannt werden?« Spagnoli verschränkte die Arme. »Ich würde nämlich behaupten, dass dir dieser Blick über den beruflichen Tellerrand bisher nicht geschadet hat. Allein was deine Sprachkenntnisse anbelangt. Ich dagegen hoffe, dass mein Englisch fürs Erste ausreicht.«

      Pellegrini nickte ihr aufmunternd zu. »Ich bin ein schlechter Maßstab, wirklich. Du bist schon viel besser geworden, besonders seit deiner Sprachreise im Sommer.«

      »Du übertreibst.«

      »Nein, ich meine das ernst.« Pellegrini sah über ihr verlegenes Lächeln hinweg und tat, als müsse er sich auf den Verkehr konzentrieren. »Du wirst sehen«, fuhr er fort. »Es sind lange nicht alle so gut, und die meisten sind trotz unseres internationalen Anspruchs Italiener.«

      »Wieso eigentlich? Und wieso ausgerechnet Bergamo?«

      »Weil einer der Gründer dort an der Uni Jura lehrt. Professor Ferro hat Kontakte zur Biblioteca Civica Angelo Mai, in der der Kongress stattfindet.« Er grinste. »Außerdem ist Bergamo eine traumhafte Kulisse, das musst du zugeben.«

      »Und warum Hominis et Tigris – Menschen und Tiger?«

      »Das ist eine Anspielung auf eine Comicstripserie, in der die Welt aus der Sicht eines kleinen Jungen namens Calvin erklärt wird, dessen Begleiter ein Stofftiger namens Hobbes ist. Ich interessiere mich eigentlich nicht für Comics, aber diese sind sehr philosophisch. Hobbes ist nicht nur ein Stofftier, sondern auch ein imaginärer Freund und natürlich viel klüger als die Menschen. Ferro sagt gern, dass wir manchmal Menschen und manchmal Tiger sind. Und dass wir die Welt häufiger aus der Sicht dieses klugen Tigers betrachten sollten.«

      »Eine hübsche Weltsicht, aber ich verstehe das nicht.«

      »Es ist auch nicht einfach. Es bezieht sich darauf, dass die Sicht von Calvin und Hobbes eigentlich ein und dieselbe ist, da Hobbes nicht wirklich existiert. Seine Ansichten sind eine Projektion des kleinen Jungen auf sein Stofftier. Und dennoch ist es eine neue Perspektive, die des Tigers.«

      »Na gut, okay.« Spagnoli dehnte das letzte Wort und machte deutlich, dass sie es immer noch nicht begriffen hatte.

      Pellegrini lächelte. »Du wirst es nach der Tagung besser verstehen. Es geht darum, den Standpunkt zu wechseln, den Blickwinkel zu verändern. Das, was du auch bei einer Ermittlung allerspätestens dann tun solltest, wenn du nicht weiterkommst.«

      Spagnoli lachte. »Also gut, ich bin gespannt auf den Blickwinkel des Tigers. Danke, dass du mich mitnimmst.«

      Tatsächlich hatte Pellegrini sehr lange überlegt, ob er sie einladen sollte. Er galt zwar als umgänglicher Chef, doch er legte keinen Wert auf ein engeres Verhältnis zu seinen Untergebenen. Spagnoli wusste das. Doch letzten Endes war er davon überzeugt, sie könne eine Bereicherung für die Vereinigung sein, und so nahm er in Kauf, ihr einen Teil seines Lebens zu zeigen, der mehr privat als beruflich war. Mit manch einem der Mitglieder der HeT verband ihn eine jahrelange Freundschaft, länger, als er bei der Questura arbeitete. In Pellegrinis Leben hatte es einen tiefen Einschnitt gegeben. Der Unfalltod seines besten Freundes Luca Camerone teilte Freunde und Bekannte in ein Davor und ein Danach. Er hatte sich damals komplett zurückgezogen und mit den meisten vollständig gebrochen, da er weder ihre Anteilnahme


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