Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking

Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe - Levin Schücking


Скачать книгу
werden doch nicht andeuten wollen,« rief Sibylle, plötzlich über und über dunkelerrötend und mit vor Zorn bebender Lippe, »Sie werden doch nicht die Verwegenheit haben, anzudeuten, daß mein Vater mit diesen Mordtaten oder was es sein mag, irgendeine Verbindung habe!«

      »Beruhigen Sie sich, Demoiselle Ritterhausen; nehmen wir die Dinge wie sie sind; ich habe Sie meiner Ergebenheit und Dienstbeflissenheit hinreichend versichert; ich will nichts andeuten, nichts behaupten, ich will nur mit Ihnen überlegen, auf welche Weise ...«

      »Mein Herr,« fuhr Sibylle entrüstet dazwischen, indem sie aufstand, »ich danke Ihnen für eine Freundschaft und Ergebenheit, welche sich darin zeigt, daß Sie mir Unverschämtheiten sagen. Haben Sie die Güte, mich zu verlassen, oder ich ...«

      »Sacht, sacht, meine teure Demoiselle,« fiel hier Monsieur Ermanns ein, »stoßen Sie meine wohlwollende Teilnahme nicht von sich, denn Sie würden dann sehr unglücklich werden. Ich bin in der Tat nicht so unverschämt und verwegen, wie Sie sagen. Wenn ich aus der Lage der Dinge den Schluß gezogen habe, daß Herr Ritterhausen der intellektuelle Urheber, wie die Juristen sich ausdrücken, dieses Mordes an dem Grafen von Epaville ist, so habe ich noch eine ganz bestimmte Tatsache, welche die Folgerungen meiner Vernunft unterstützt.«

      »Ich glaube, ich habe schon mehr, als es sich für eine Tochter ziemt, von Ihren Folgerungen angehört, und deshalb ...«

      »Nur noch einen Augenblick,« fiel der Polizeibeamte, immer in seinem ruhigen, freundlichen, halb demütigen, halb ironischen Tone bleibend, fort. »Sagen Sie mir, was hat der Deserteur zu bedeuten, welchen man seit den letzten Tagen in der Rheider Burg versteckt gehalten hat und nach dessen Befinden Sie vor kurzer Zeit sich so teilnehmend erkundigt haben – Sie, Mademoiselle Ritterhausen!«

      »O, mein Gott!« rief Sibylle aufs neue totenbleich werdend aus und fiel halb ohnmächtig auf ihren Stuhl zurück.

      Monsieur Ermanns schien der furchtbaren Erschütterung des jungen Mädchens, ihrem ohnmachtähnlichen Zustande durchaus keine Bedeutung beizulegen. Er fuhr zu reden fort, nur daß jetzt seine Stimme einen strengen Ernst annahm und seine Blicke stechend über seine Brille fortschossen.

      »Ich muß hiernach annehmen,« sagte er, »daß Sie in das, was geschehen ist, vollständig eingeweiht sind. Der Deserteur, der Ihre Teilnahme in Anspruch genommen hat, ist das Werkzeug gewesen, dessen Ihr Vater sich bedient hat, und Sie, Demoiselle Ritterhausen, kennen dieses Werkzeug und sind in Sorge darum, ob der Mörder sich früh genug vom Schauplatz seines Verbrechens gerettet hat, ob er nicht in die Hände der Gerechtigkeit gefallen ist! Sie gestehen mir das ein, Mademoiselle?«

      Sibylle bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, durch deren Finger sich jetzt die hellen Tränen drängten.

      »Nicht wahr, Sie gestehen das ein?«

      Sibylle antwortete nicht. Aber für sich sagte sie: »O diese Strafe ist fürchterlich – aber sie ist gerecht, gerecht!«

      »Die Strafen der Verbrechen sind immer gerecht,« fiel der Polizeibeamte, dessen scharfes Ohr ihre geflüsterten Worte vernommen hatte, ein; »und doch treffen sie den einen weit härter als den andern, je nach seinem Charakter, seiner Erziehung, der Stellung, welche er im Leben einnimmt. Für den Ehrgeizigen, den Gebildeten, einst angesehenen Mann, den die Leidenschaft zum Verbrechen verführt, ist die öffentliche Bestrafung, zum Beispiel die Ausstellung, etwas, worin für ihn eine Hölle liegt, während der in Ruchlosigkeit aufgewachsene, verkommene Mensch sich gar wenig daraus macht. Dennoch ereilt diese Strafe beide für dasselbe Verbrechen. Freilich ist der eine strafbarer als es der andere ist: ob aber in dem Maße, wie ihn die Strafe grausamer trifft – wer kann das bestimmen! Wir sind alle Sklaven unserer Leidenschaften und moralische Blindheit läßt uns in Verbrechen fallen, wie physische Blindheit in Abgründe. Der Mensch ist eben wie er von der Natur gebildet worden, und wenn er seinem Nachbar das Haus anzündet, wer weiß, wo da der erste Funke zu dem verderblichen Feuer eigentlich steckte und aufglomm – ob nicht vielleicht in einem ungesunden Blut, das in seinen Adern stockte und mit andern Säften in feindliche Reibung geriet und gor, und ihn in einen Zustand versetzte, worin er der bedauernswürdige Sklave eines Triebes und Dranges wurde, der ihn zu dem führte, was wir dann Verbrechen nennen und das wir dann unnachsichtlich bestrafen. Das letztere ist freilich auch nicht zu umgehen. Was soll man da machen! Aber aus dieser meiner Ansicht von den Dingen sehen Sie, Mademoiselle, daß ich nicht der Mann bin, über solche Tatsachen, wie sie hier in Frage sind, in eine unerbittliche moralische Entrüstung zu geraten. Die aufrichtige Teilnahme, von der ich Ihnen vorhin sprach, bleibt Ihnen dennoch in ungeschmälertem Maße, und ich will jetzt dazu übergehen, sie Ihnen durch die Tat zu beweisen. Sagen Sie mir, kennen Sie unser französisches öffentliches Gerichtsverfahren, unsere Assisenhöfe, Demoiselle Ritterhausen?«

      Sibylle antwortete nicht. Wie versunken in einen tiefsten Gram, der sie für alles, was außer ihr vorging, unempfindlich machte, saß sie auf ihrem Stuhle da, das Gesicht noch immer in ihren Händen bergend.

      »Ich bitte um Antwort, Mademoiselle,« sagte der Polizeibeamte scharf, »kennen Sie unsere Geschworenengerichte?«

      Sibylle blickte auf und wandte ihm ihre totenbleichen, mit Tränen benetzten Züge zu.

      »Glauben Sie denn wirklich, können Sie wirklich glauben,« antwortete sie mit stammelnder Lippe, »daß mein Vater...«

      »Was kann Ihnen daran so viel liegen, Mademoiselle, ob ich glaube oder nicht glaube? Es hat für Sie gar keinen praktischen Wert, was ich persönlich glaube,« versetzte Monsieur Ermanns mit bitterm Lächeln; »lassen wir es also getrost aus dem Spiele und hören Sie mich jetzt ruhig an. Sehen Sie, das Geschworenengericht ist eine Einrichtung, die das Merkwürdige hat, daß sie – wenigstens wenn es sich um gebildete Leute handelt – für den Unschuldigen, der vor dasselbe gezogen wird, eine gerade so harte Strafe enthält wie für den Schuldigen. Man führt nämlich den Angeklagten in einen großen Saal. Ihm gegenüber setzt man zwölf ehrsame Bürger, Gevatter Schneider und Handschuhmacher hin, und dann läßt man herein, wer immer von Krethi und Plethi kommen will, sich die Geschichte anzugaffen. Dann gibt man sich einer ganz rückhaltlosen, durch keine Rücksicht eingeschränkten Erörterung seines Charakters, seiner Vergangenheit, seiner Verhältnisse hin – das alles vor der Menge des zusammengeströmten Volks, vor dem Pöbel, dem dieser öffentliche obrigkeitliche Skandal ein wahres Fest ist. Der öffentliche Ankläger häuft alle Schändlichkeit, die sich nur erfinden läßt, auf des unglücklichen Angeschuldigten Haupt. Er macht ihn schwarz wie die Hölle. Der Verteidiger eifert dagegen an; hat jener im Namen der beleidigten Tugend und Moral ihn zu einem wahren Dämon gestempelt, so macht ihn dieser im Interesse der Humanität zu einem Heiligen. Er legt den Heiligenschein aller häuslichen und öffentlichen Tugenden um ihn. Mit dem Flammenschwert der Beredsamkeit streiten beide um seine arme Seele, wie Teufel und Engel am Tage des Jüngsten Gerichts. Das alles in Gegenwart des Angeklagten; in seiner Gegenwart wird Zeuge nach Zeuge vorgeführt und durch einen Eid gezwungen, ihm ins Gesicht zu werfen, was er von ihm gesehen, gehört, jemals gedacht hat.

      »Diese moralische Folter, diese wahre Höllenpein für den Angeklagten, weit schlimmer als fünf Jahre Gefängnis oder Festungshaft, findet statt, damit die zwölf Geschworenen befähigt werden, am Ende, nach Maßgabe ihres Mutterwitzes, das Verdikt zu fällen, das heißt, auf die Frage nach der Schuld des Angeklagten ja oder nein zu sagen.

      »Denken Sie sich nun Ihren Vater in dieser Lage; stellen Sie sich lebhaft vor, was er in einer solchen Situation empfinden würde; denken Sie an sich selbst als Angeklagte auf der Bank der Verbrecher und dann antworten Sie mir: werden Sie nicht alles darum geben, diesem Schicksale zu entgehen, das Sie bedroht, das unabwendbar ist – das, ganz abgesehen von Schuld oder Nichtschuld, nach der Lage der Dinge, durch die zwingende Macht der Tatsachen, über Sie beide heraufgeführt werden wird? Denn das wird es, darüber machen Sie sich keine Täuschungen – es sei denn, wir kämen jetzt hier zu einer Verständigung, infolge deren ich Ihnen das Versprechen geben kann, daß Sie mit diesem entsetzlichen Schicksal, mit dem ganzen Jammer einer solchen Ausstellung, die schlimmer ist, als auf einem Sklavenmarkt verkauft zu werden, verschont bleiben sollen.«

      Sibylle hob ihr tränenfeuchtes Gesicht auf und sah mit einem flehenden, fragenden Blick den Polizeibeamten an.

      »Sehen


Скачать книгу